18. September 2006

"Ich könnte auch Dieter Bohlens Lieder singen ..."

Interview geführt von

Mit "Heute Ist Jeder Tag" hat die Köln-Bonner Band Voltaire im Frühjahr 2006 ein überaus reifes Debütalbum vorgelegt. Im Gespräch mit laut.de erlauben Voltaire-Gitarrist Marian Menge und Sänger Roland Meyer de Voltaire einen Blick ins Bandinnere. Sie sprechen über die Entstehung eines Songs, was ihnen ihre Musik bedeutet und welche Rolle für sie der Sound in dieser Gemengelage spielt.Auf dem Dach einer Imbissbude in Bonn-Bad Godesberg glänzt der Lack des roten Opel-Mantas in der Nachmittagssonne. Pommes Rot-Weiß gibt's hier, was sonst? Ein irritierender Anblick. Zwei Läden weiter sitzen in einem unheimlich lautem und ebenso kleinem Café an der Straßenecke Roland Meyer de Voltaire und Marian Menge von Voltaire. Sie sind guter Laune und kämpfen mit ihren Stimmen tapfer gegen den Lärm an, damit man später auf dem Band auch etwas versteht. Entspannt plaudern sie aus dem Bandalltag, stecken sich dabei hin und wieder eine Zigarette an.

Warum habt ihr euch eigentlich zwischen der Flut-EP und eurem Debütalbum "Heute ist jeder Tag" so viel Zeit genommen?

Roland Meyer de Voltaire: Ursprünglich hatte man vor, das Album im Frühjahr darauf herauszubringen. Direkt, nachdem die EP draußen war, sind wir auch wieder ins Studio gegangen. Das Ganze hat sich dann etwas gezogen, weil wir mit einem Team gearbeitet haben, in dem ein Ethos entstanden ist, der Vorrang vor Geld hatte. Wir haben beschlossen, so lange zu machen, wie die Sache braucht, damit alles so ist, wie wir es uns vorstellen. Dann war der Release für den Sommer geplant – es kamen Bookingprobleme dazu, weshalb wir fast gar keine Konzerte und keine Festivals gespielt haben. Uns war die Gefahr zu groß, dass deswegen alles verpuffen könnte. Mit "Kaputt" kam dann auch noch mal ein neuer Song dazu, den wir im Dezember aufgenommen haben. Der Rest hing dann mit der Plattenfirmenpolitik zusammen, im Weihnachtsgeschäft waren natürlich erst einmal die Großen dran. Deswegen ist es letztlich das Frühjahr geworden.

Habt ihr bei den Aufnahmen viel von dem wieder umgeworfen, was ihr zunächst an Vorstellungen über das Album hattet?

Meyer de Voltaire: Es hat sich teilweise weiterentwickelt. Seit April sind aber - abgesehen von "Kaputt", der neu dazukam – die Songs so geblieben. Sie waren sogar schon fertig gemastert.

Marian Menge: Man muss auch irgendwann einfach einen Schlussstrich ziehen können. Es gibt natürlich immer noch Sachen, die man verändern könnte, wenn man wieder ein bisschen Abstand gewonnen hat.

Meyer de Voltaire: So etwas hat man immer. Aber diese Energie möchte man irgendwann auch einfach in das nächste Album stecken. Wir touren mit den Songs schon seit einer Weile und machen das auch noch gerne eine Weile weiter; es ist irgendwann aber auch gut, mal nach vorne zu schauen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir aufgenommen haben, gab es viele Diskussionen, wie wir verschiedene Dinge machen wollen. Es gab Momente, in denen wir ohne Produzenten einfach nur mit den Basisaufnahmen herumprobiert haben. Dabei haben wir uns auch mal verstrickt. Da gab es Wochen, im Dezember 2004 und Januar 2005, in denen wir an kleinen Schnipseln und Soundpassagen herumgebastelt und uns in Details verrannt haben. Davon haben wir einiges wieder verworfen.

Auf eurer Internetseite habe ich bei Hedayet Djeddikar (Klavier) gelesen, seine Altersvision sei, dass ihr zusammensitzt und nachträglich darüber philosophiert, ob der Gitarrensound hier oder dort doch noch hätte anders sein können.

Menge: Er ist gerade einer, der da nicht so viel drüber diskutiert.

Meyer de Voltaire: Wir gehen da alle ziemlich unterschiedlich ran. Bei Heda merkt man schon, dass er aus der Klassik kommt, er sieht mehr das Gesamte. Wenn man zum Beispiel an einem Liederzyklus arbeitet, dann wird auch an Details gearbeitet, das geht aber dann mehr in Richtung Interpretation als darum, welches Instrument welche Passage spielt. Wir haben auch versucht die Mitte zu finden zwischen dem Nutzen von Möglichkeiten und dass man immer noch hören sollte, dass wir eine Band sind. Dass es keine Popproduktion ist, bei der es im Endeffekt nur um die Stimme geht und der Rest nicht so wichtig ist. Wir haben viele verschiedene Einflüsse, deswegen diskutieren wir auch viel. Unser Schlagzeuger David und ich setzen uns auch gerne mal ans Mischpult. Er mischt das Schlagzeug, wie er sich das vorstellt und ich den Rest. Darauf aufbauend wird dann der Mix gemacht.

Ihr habt eigentlich eine recht klassische Ausbildung auf euren Instrumenten genossen.

Meyer de Voltaire: Marian kommt mehr aus dem Jazz.

Menge: Es ist ja oft so, dass einen die Eltern fragen, ob man ein Instrument lernen möchte, wenn man noch klein ist. Man sagt 'Ja' und dann lernt man ja klassisch. Es gibt in den Musikschulen noch nicht lange den Trend dazu, auch direkt mit dem Keyboard einzusteigen. Deshalb ist es, abgesehen von Heda, ein bisschen übertrieben, von einem klassischen Background zu sprechen.

Meyer de Voltaire: Ja, allenfalls im Vergleich zu Bands, die sich als pure Autodidakten im Proberaum zusammensetzen sicherlich. Der absolute Autodidakt von uns ist eigentlich David. Wir mussten auch viel daran arbeiten, einfach mal loszulassen und Dinge zu vergessen, die man gelernt hat. Weil es irgendwann überhaupt keine Relevanz mehr hat. Wenn man ein gewisses Gefühl ausdrücken will, sucht man es nicht so sehr in Überlegungen, als in sich selbst, aus einem Instinkt heraus. Und das ist nichts, was man klassisch an einem Instrument lernt.

Kann das Songwriting bei euch denn auch auf einer unbewussten Ebene stattfinden?

Meyer de Voltaire: Ich glaube, vor allem die Performance beruht auf einem solchen Element. Wenn ich Texte schreibe, schreibe ich auch zuerst einfach drauf los. Aber ich gucke dann wieder und wieder drüber und ändere Dinge über einen längeren Zeitraum. So ist es auch, wenn wir ein Stück spielen. Im Studio passieren aber auch immer wieder Dinge, mit denen wir nicht gerechnet haben. Bei "Kleines Mädchen" haben wir uns erst relativ spät für Streicher entschieden. Heda hat zuerst Flächen darüber produziert und ich habe dann daran weitergebastelt. Dann haben wir geschaut, dass wir ein paar Leute in der Frankfurter Hochschule finden, die Lust dazu hatten und dann haben wir mit denen aufgenommen, als der Song aber schon komplett fertig war.

Viele Leute, die an eurem Album mitgearbeitet haben, stehen für einen britischen Sound. War es euch wichtig, musikalisch nicht deutsch zu klingen?

Menge: Im Endeffekt sind wir froh, dass wir's nicht tun. Unsere Vorlieben liegen in Großbritannien. Es gibt viele deutsche Beispiele für uns, wie wir es nicht haben wollen. Wir hatten letztlich aber unsere eigene Vision von dem Sound, er ist nicht erst auf dem Album entstanden, sondern hat sich vorher schon entwickelt. Er ist sicher am ehesten mit einem britischen Sound zu vergleichen, aber wir haben uns nicht bewusst in dem Sinne: "Was müssen wir tun, damit es britisch klingt und nicht deutsch?"

Meyer de Voltaire: Wir hatten einfach das Gefühl, dass es uns so gefällt, wie wir es spielen, und so wollten wir es auch aufgenommen haben. England ist bekannt für Produktionen, die die Band so klingen lassen, wie sie klingt. Dass man einen Sound hat, der schön und lebendig ist. In Deutschland geht man eher hin und konstruiert den Klang sehr sauber und präzise. Wobei es da auch wirklich gute Sachen gibt. Wir haben aber gemerkt, dass wir uns dort nicht zu Hause fühlen. Ein Drumsound, der bei Madsen einfach das Goldrichtige ist, wäre mit einem Schlagzeuger wie David schwer zu realisieren gewesen. Er spielt ganz anders und wir hätten uns auch irgendwo einpassen müssen. Das wäre wahrscheinlich mit mehr Arbeit und Aufwand verbunden gewesen – mit dem Ergebnis, das man etwas hat, wo man nicht hinter steht.

"Wir haben das ganze Band vollgemüllt."

Wie wichtig war euch dabei die Art der Aufnahme? Ihr habt schließlich alles analog aufgenommen. Warum nicht digital?

Meyer de Voltaire: Wir hatten einfach die Möglichkeit dazu, das zu machen, weil unser Studio digital und analog ist, es hat auch eine Bandmaschine. Die Überlegung war: Wenn man auf Aufnahmen steht, die analog klingen, dann ist es auch schlauer, analoges Equipment zu benutzen. Es gibt nur sehr wenige Produktionen, die es schaffen, wirklich analog zu klingen, obwohl sie digital aufgenommen sind und das mit einem Aufwand, der vermutlich jenseits von gut und böse ist. Das zweite ist, dass wir uns das auch zugetraut haben. Du hast natürlich wesentlich weniger Editiermöglichkeiten, du musst sie also so spielen, wie sie letztlich auf der Platte auch klingen sollen. Kleine Sachen kann man mal nachbessern, aber man hat nicht die Möglichkeit am Rechner, jeden einzelnen Anschlag so zu rücken, bis es genau sitzt. Das wäre auch nicht unsere Philosophie gewesen.

Menge: Das macht auch das Leben in der Musik aus, dass nicht alles exakt ist, dass alles sehr direkt und natürlich klingt.

Meyer de Voltaire: Und auch so, als wenn man es wirklich zusammen spielt und nicht säuberlich nacheinander aufnimmt. Wir haben ja auch relativ viele Temposchwankungen in den Songs, manchmal größere, manchmal kleinere. Das machen wir sehr bewusst, weil es dann eben auch an der jeweiligen Stelle so passt. Solche Sachen nimmst du eben zusammen auf, damit man einander angucken und mitgrooven kann.

Also habt ihr ohne Klick (Metronom) aufgenommen?

Meyer de Voltaire: 90 Prozent der Platte, ja.

Hat das die Aufnahmen nicht unheimlich kompliziert gemacht? Dann ist es doch zusätzlich zu den Schwierigkeiten des Analogen schwer, noch etwas zu verändern.

Meyer de Voltaire: Es wäre aber wahrscheinlich mit mehr Aufwand und einem unbefriedigenderen Ergebnis verbunden gewesen. Bei der EP haben wir drei von fünf Stücken mit Klick gemacht. Das stört uns heute noch, wenn wir die Dinger anhören, und deshalb machen wir es heute nicht mehr.

Menge: Es fehlt dann einfach die Dynamik. Wenn du mit Klick spielst, musst du dich darauf konzentrieren und bist nicht so stark in der Musik drin.

Hat es da keine Widerstände gegeben? Normalerweise versuchen Produzenten und Techniker doch, die Musiker vom Klick zu überzeugen.

Meyer de Voltaire: Nein, wir hatten ziemlich viele Freiheiten. Ich glaube, das kam auch daher, dass wir es bei der EP ausprobiert hatten. Das Ergebnis sprach hinterher für sich, deswegen war es keine Frage mehr.

Menge: Bei manchen Stücken haben wir 20 Takes gemacht haben und hinterher geguckt haben, welcher es ist.

Meyer de Voltaire: Wir haben das ganze Band vollgemüllt.

Gehen einem die Songs dann nicht irgendwann auf den Nerv?

Meyer de Voltaire: Das kann an so einem Tag mal passieren.

Menge: Ich habe gestern noch mal unsere Platte gehört und ich hör's trotzdem noch gern.

Also gehört ihr zu den Bands, die sich ihre Platten immer wieder anhören?

Menge: Ich glaube, das ist auch unterschiedlich.

Meyer de Voltaire: Ich hör' oft rein. Ich ziehe da aber auch viel raus. Wenn ich länger nichts mehr von uns auf Band oder CD gehört habe, und wir spielen Konzerte und ich höre dann wieder rein, merke ich, wie sehr sich die Stücke verändert haben. Durch das Live-Spielen haben sie sich von der ursprünglichen Version weg entwickelt. Manchmal denke ich, dass wir mit der Version noch mal ins Studio gehen könnten und manchmal ist es so, dass ich lieber wieder zur ursprünglichen Version zurückgehen möchte.

Hört ihr die Musik als Ganzes oder müsst ihr zwanghaft auf Fehler achten?

Meyer de Voltaire: Es gibt Momente auf der Platte, die mich immer stören werden, die ich gerne besser gemacht hätte oder von denen ich sagen kann, dass ich sie jetzt besser könnte, weil ich mich als Sänger weiterentwickelt habe. Letztlich bleibt die Platte aber eine Momentaufnahme und es ist auch schön zu sehen, dass man nicht auf der Stelle tritt, sondern sich weiterentwickelt.

Mir kommt es so vor, als würdet ihr großen Wert darauf legen, wie die Texte mit der Musik zusammenwirken. Im Booklet der Flut-EP ist eine Textdramaturgin ausgewiesen. Was hat es denn damit auf sich?

Meyer de Voltaire: Ach, das war ganz lustig. Ich war, was Texte angeht, ziemlich lange auf der Suche. Vor der Band habe ich schon deutsche Texte geschrieben und irgendwie war ich damit nie so ganz zufrieden. Deshalb habe ich Kommunikation mit Menschen gesucht. Ich habe mal einen Text zusammen mit einem Texter geschrieben - das hat mir nicht gefallen. Dann habe ich noch einen mit ihm geschrieben, der mir gefallen hat. Das war der Text von "Wo". Aber schließlich kam der Punkt, an dem ich wieder alleine weiterarbeiten wollte.

Eine Freundin von mir ist Theaterschauspielerin, die unheimlich beherzt-emotional in ihrer Textvorliebe ist. Es hat mich immer weiter gebracht, wenn ich mit ihr über einen Text gesprochen habe. Bei der EP habe ich jeden Text mit ihr durchgesprochen, bei dem Album waren es dann auch acht oder neun. Ich wollte, dass sie auf irgendeine Art und Weise ihren Platz auf der Platte findet. Sie hat keine Zeilen geschrieben, sondern war so eine Art Spiegel. Sie hat mich gefragt, was ich mit manchen Zeilen sagen möchte, es waren sehr kreative Gespräche. Ich habe irgendwann mal eine Frau kennen gelernt, die etwas Ähnliches bei Grönemeyer gemacht hat und die hatte auf der Platte die Bezeichnung "Textdramaturg". Ich dachte dann, Co-Autor ist sie nicht, Lektorin klingt so, als könnte ich nicht anständig Deutsch, und dann habe ich einfach den Begriff gewählt.

Neigst du wegen der starken Auseinandersetzung mit deinen Texten dazu, die Worte in den Liedern bewusst zu inszenieren?

Meyer de Voltaire: Kannst du mir ein Beispiel nennen?

Ich meine damit, wie du verschiedene Wörter betonst oder in Tonhöhe und –Intensität variierst, je nachdem, wie du möchtest, dass die Passagen gehört und verstanden werden.

Meyer de Voltaire: Sicher gibt es so einen Zusammenhang, aber es wäre schwer zu sagen, wo genau der Punkt wäre, wo so etwas zusammenkommt. Man kann schon sagen, dass ich bei manchen Songs den Text fertig hatte und ich den Eindruck hatte, irgendwo passt mir eine Textpassage und wie ich sie singen muss nicht, weil sie in einer gewissen Tonlage ist. Dann habe ich noch einmal drüber nachgedacht, ob ich den Text ändere oder eine andere Tonart nehme oder so etwas. Aber grundsätzlich ist es mir wichtig, dass alles am Ende einen Bezug zueinander hat, dass ich das auch fühlen kann. Nur so kann ich den Text auch gut rüberbringen. Bezug kann aber auch heißen, dass es gegensätzlich ist. Dass in traurigem ein Hauch Lächeln liegt oder in Wut auch Lächerlichkeit, je nach dem Bild, das ich gerade vor Augen habe. Deswegen gibt es auch wenige Momente auf der Platte, die ganz eindeutig sind.

"Ich hasse es, zweite Strophen zu schreiben!"

Ich hatte den Eindruck, dass du vom Grundgefühl her eher melancholisch textest.

Meyer de Voltaire: Das hängt auch damit zusammen, dass mich etwas schon sehr berühren muss, dass ich mich dazu motiviert fühle, einen Text darüber zu schreiben. "Zu schön" ist zum Beispiel so ein Stück, das vielleicht eine Ausnahme darstellt, weil es etwas sehr Eeuphorisches hat. Bei anderen Stücken waren es intensive, emotionale Momente, nicht einmal zwingend aus einem Erlebnis heraus, sondern auch aus einer Stimmung.

Wenn ich mir zum Beispiel "Asche" und "„Flut" anhöre, wirkt es, als wären es zwei Teile der gleichen Geschichte. "Asche" als eine Art Fortsetzung von "Flut". Oder irre ich?

Meyer de Voltaire (überlegt): Nee, der Gedanke ist auch stimmig. Ich würde nicht sagen, dass ich das bewusst so gemacht habe, sonst hätten wir die Stücke vielleicht doch in einer anderen Reihenfolge auf die Platte gesetzt (lacht).

Ja, das hat mich auch gewundert. "Asche" müsste dieser Logik folgend natürlich nach "Flut" kommen.

Meyer de Voltaire: Das nächste Mal machst du das Tracklisting (lacht).

Menge: Aber dann müsste auch "Frühstück" nach "Tür" kommen. Es hat schon einmal jemand Songs in Zusammenhang gebracht, die nicht so gemeint waren, die man aber durch aus so sehen konnte.

Meyer de Voltaire: Was dem Ganzen eher widerspricht, ist, dass ich die Texte aus einem chaotischen Sammelsurium an Erlebnissen, Erinnerungen und Geschichten in mir schöpfe, die einfach Menschen mit mir teilen. Freunde, zum Beispiel, die gerade etwas durchleben und mir davon erzählen. Texte schreibe ich erst sehr chaotisch aus einer Stimmung, die Ordnung kommt später. Ich finde es wichtig, dass ein Song etwas in sich Geschlossenes und Rundes hat. Beim zweiten, dritten und vierten Durchgang schöpfe ich aus allem, was mir in den Sinn kommt.

Die Bilder, die du benutzt, wirken auf mich schon sehr durchdacht. Ist das so, oder entsteht das auch eher aus Impulsen?

Meyer de Voltaire: Die Bilder entstehen aus einem Impuls. Ob ich sie stehen lasse, darüber denke ich dann später nach. Aber die textlich guten Momente sind nicht so bewusst konstruiert, dass ich dir Stein und Bein schwören könnte, dass ich sie tausendmal so machen könnte. Aber das will ich auch nicht. Ich möchte nicht so eine berechnende Routine haben, weil ich immer Angst hätte, dass man das hört. Wenn man so etwas hört, verliert Musik unheimlich an Wert für mich.

Weil Musik doch sehr emotional für dich ist?

Meyer de Voltaire: In dem Moment würde es relativ austauschbar werden. Dann kannst du über Dieter Bohlen-Songs sprechen, bei denen es egal ist, wer sie singt. Die könnte ich singen, die könnte sonst irgendwer singen, es interessiert keinen Menschen. Das einzige, was dann die Menschen interessiert, ist der Song, für eine gewisse Zeit und das war's.

Die ganze Stimmung in den Texten hat mich an das beklemmende Moment in expressionistischer Lyrik erinnert. Die Sicht eines isolierten Individuums, oft vermischt mit Großstadtängsten. Bist du davon beeinflusst?

Meyer de Voltaire: Ich muss zugeben, dass ich mich, nur weil mich viel mit klassischer Musik beschäftigt habe, nicht für sonderlich kulturell gebildet halte. Ich gehe nicht viel ins Theater, Bücher lese ich phasenweise sehr intensiv und dann auch wieder Ewigkeiten gar nicht. Wobei ich bei Büchern immer neugierig bin, wenn sie extrem erfolgreich sind, wie diese Dan Brown-Bücher. Die lese ich mir genauso durch, wie die Bücher von Milan Kundera und Murakami, die ich sehr viel gelesen habe.

Welches ist dein Lieblingsbuch von Murakami? (zufällig habe ich an diesem Tag selbst "Kafka am Strand" von Murakami in der Tasche)

Meyer de Voltaire: Ich glaube, von dem kann man fast blind alles kaufen. Ich war nur von einem Buch enttäuscht, in dem Kurzgeschichten waren, die er wohl sehr früh geschrieben hat. Die waren sehr auf Pop-Literatur gestylt. Es gibt zum Beispiel - und da habe ich mich sehr wieder gefunden - diese Szene bei "Mister Aufziehvogel", wo sich jemand über ganz widrige Umstände alleine in einen Brunnen herablässt und dort eingesperrt wird. Er bleibt ein paar Tage dort sitzen, bis ihm in dieser beklemmenden Stockdunkelheit Visionen kommen. Er versucht, im absoluten Rückzug Antworten über die Welt dort draußen zu finden. Das wäre vielleicht eine Parallele, die ich ziehen könnte. Wobei das genau umgekehrt kam - weil ich das Buch gelesen habe und mich dieser Moment so ergriffen hat. Es kam mir so vertraut vor. Aber ich habe jetzt nicht expressionistische Gedichte gelesen und aus denen heraus meinen Schreibstil entwickelt. Das habe ich sehr frei nach Schnauze gemacht.

Bist du eigentlich Marlene Dietrich-Fan?

Meyer de Voltaire: Nein.

Es gibt doch diese eine Zeile, in der du singst "Worte umschwirren mich, wie Fliegen das Licht".

Meyer de Voltaire: Ja?

Okay, ich dachte das wäre eine Art Hommage an diesen Marlene-Dietrich-Song "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt", in dem es heißt "Männer umschwirren mich, wie Motten das Licht".

Meyer de Voltaire: Klingt schön, wobei die eigentliche Parallele eher in der zweiten Strophe wäre, wo es heißt "Tausend Monster umschwirren mich, wie Fliegen das Licht". Und ich habe da etwas Ähnliches mit gemeint, nur eben durch die Zerrbrille einer ganz skurrilen, bizarren Stimmung.

Apropos Parallele: Du greifst immer wieder in späteren Strophen Sätze aus vorangegangenen Abschnitten auf und variierst sie.

Meyer De Voltaire: Das ist ein bewusstes Stilmittel, ich hasse es, zweite Strophen zu schreiben (lacht). Manchmal habe ich keine Idee, worüber ich die zweite Strophe schreiben soll, weil ich das Gefühl habe, mit der ersten und dem ersten Refrain einfach schon alles gesagt zu haben. Die Texte sind oft mehr Stimmungsbilder als Geschichten und dann ist es auch ein Stilmittel zu sagen, man geht in einer Ausgangssituation los und blickt einmal nach links und einmal nach rechts.

Diskutiert ihr, ähnlich wie bei der Musik, innerhalb der Band auch über die Texte?

Menge: Wir haben das bei dem Album weniger, aber bei der EP relativ viel gemacht. Bevor wir den Song aufgenommen haben, haben wir die jeweiligen Texte ausgedruckt und durchgesprochen, was sie für jedes Bandmitglied bedeuten. Damit haben wir uns in eine Stimmung gebracht, die uns die Aufnahmen erleichtert hat, dass wir einfach in dem Song drin waren, bevor wir ihn aufnehmen mussten.

Ähnelte das dem, was sich Roland dabei gedacht hatte?

Menge: Teilweise entdecke ich heute noch neues an unseren Songs, wenn ich sie höre. Das ist wahrscheinlich etwas ganz anderes als das, was Roland meinte. Aber manchmal weiß man nicht, ob er überhaupt was meint.

Meyer de Voltaire: Bei mir liegen meistens konkrete stoffliche Dinge zu Grunde, aber ich umschreibe sie auch absichtlich, weil ich es mag, einen Text zu haben, der es dem Zuhörer ermöglicht, sich selber etwas daraus zu machen. Deshalb spreche ich auch nicht gerne ganz konkret über Texte, weil ich denke, ich mache etwas kaputt, was jemandem etwas gibt.

Menge: Ich finde aber auch, dass man über seine Texte nicht sprechen kann, bevor die Musik steht, weil das Endgefühl oft erst über sie transportiert wird. Die Texte sind teilweise nicht gut zu lesen, weil sie keine Geschichte erzählen und von sich aus oft kein roter Faden drin ist. Den bringt oft die Musik – er hat die Stimmung aber oft auch schon im Kopf.

Meyer de Voltaire: Deswegen gibt es da manchmal auch etwas stressige Situationen, wenn wir einen Song erarbeiten. Ich hüte mich davor, immer schon ein fertiges Arrangement im Kopf zu haben und abzuliefern, wir sind ja eine Band und haben alle unseren eigenen Kopf und unsere eigenen Ideen. Ich kann nicht wissen, was Marian alles aus seiner Effektkiste herausholen oder was David alles noch am Schlagzeug anstellen kann, von dem ich gar nicht wusste, dass es überhaupt geht. Manchmal kommt es zu Momenten, wenn ich ein bestimmtes Bild im Kopf habe und jemand, der frei da rangeht, etwas macht, was in dem Moment das Bild so torpediert, dass es mir wirklich weh tut und ich den Drang niederkämpfen muss, abzubrechen und zu fragen, ob er mich verarschen will (lacht). Aber das ist auch das Spannende daran.

Menge: Man kann das auch mit einem Theaterstück vergleichen – das Drehbuch steht in Form der Grundstruktur des Songs und des Textes, und wir sind im Proberaum zusammen und inszenieren das Ganze. Wir gucken, dass jeder seine Rolle findet und das Endprodukt irgendwann steht. Zum Glück muss sich keiner in unserer Band profilieren, sondern wir versuchen, wenn wir kapiert haben, in welche Richtung das gehen soll, den Song gemeinsam in Szene zu setzen.

Meyer de Voltaire: Die besten Momente entstehen einfach, wenn es ein Bild gibt, das aber noch ein bisschen unscharf ist und seine Klarheit erst durch das Zusammenspiel bekommt. In dem Moment hast du diesen X-Faktor, der es zu etwas größerem machen kann, als eine Summer der einzelnen Teile.

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