laut.de-Kritik

Ein Querschnitt durch den verrücktesten Musikstil der Welt.

Review von

Soca ist ein Sammelbegriff für mehrere tanzbare Spielarten in der Karibik, die absoluten Körperkontakt, öffentliches Tanzen auf engem Raum und strahlende Gesichter mit unmaskierten offenen Mündern, in die Rum fließt, erfordern.

Man mag es für halbwegs verschmerzbar halten, dass eine regionale Nischenkultur der Popmusik anderthalb Jahre lang nur begrenzt ausgelebt werden konnte. Die Sache mit Soca liegt aber tiefer. Diese ganzen schönen Inseln, von denen diese mindestens genauso schöne Musik stammt, also Trinidad, Tobago, St. Lucia, Grenada, Barbados, Antigua, Dominica etc. hängen seit einem Vierteljahrhundert maßgeblich vom Tourismus ab. Die Lockdowns trafen die Inselstaaten insofern hart. Obendrein erreichte die Corona-Pandemie diese Gebiete lange Zeit erst kaum bis gar nicht und jetzt umso heftiger.

Derweil darf man die Plattenfirma VP beglückwünschen, dass diese Jahr eine außerordentlich gute Episode der Compilation-Serie mit vielen überschwänglichen Beiträgen geglückt ist. Seit 1997 erscheinen diese Sampler, die Relevanz bleibt überschaubar. Der Release gliedert sich in eine CD mit den Einzeltracks sowie einen "Megamix aus denselben auf CD 2.

Soca entwickelte sich aus dem Calypso und ergab sich aus der Verschmelzung mit anderen, recht unbekannten Musikstilen anderer Kontinente. Das Genre ist eines der historisch jüngsten der heutigen Musikwelt und erlebte einen ersten Boom Mitte der Achtziger. Damals trat Machel Montano als Zwölfjähriger im Stimmbruch in die Szene und performte seinen Klassiker "Too Young To Soca". Seitdem öffnet sich dieses Bündel aus tanzbaren, freudigen und mitunter extrem schnellen perkussiv performten Rhythmen auch einer gewissen 'Personalisierung'.

Große Star-Personalities hat Soca zwar nie hervorgebracht, aber viele halten sich seither ungebrochen und schmücken als Veteran*innen auch dieses Doppelalbum. Da wären etwa einer der Dienstältesten, Iwer George, das Ehepaar Bunji Garlin und Fay-Ann Lyons, dann Patrice Roberts, Kusine von Bunji Garlin, Machel Montano nebst seiner Bandkollegin Patrice Roberts. Neben dieser recht familiären Trinidad-Connection finden sich zudem einige Artists aus Barbados.

Von dort kommen die konstant erfolgreichen Sympathieträger*innen des 'Bajan Soca', Edwin Yearwood, Alison Hinds, Rupee, und dessen ehemaliger Songwriter Jus D. Der arbeitete bereits mit Shaggy und Busy Signal zusammen, steht für die Nachwuchsgeneration und wiederum für die Brücke nach Jamaika. Die meisten Acts entstammen der Altersgruppe 35 bis 57, somit kann man den Sampler nicht als Newcomer-Parade begreifen.

Anders als andere Serienteile besitzt "Soca Gold 2021" insofern eine hohe Trefferquote in Sachen Hits, zumal es Newcomer aktuell schwer haben: Soca lebt von der Tanzfläche. Neue Tunes schlagen nur ein, wenn sie frenetische Reaktionen bei großen Tanzgruppen auslösen, die zum Beispiel im Karneval "Love Parade"-mäßig hinter riesigen Soundsystem-Türmen auf LKWs hinterher hüpfen.

Das Gros der Nummern entspricht der Produktionsweise, die seit Mitte der 90er üblich ist. Zuvor dominierten Steelpan-Orchester den Sound, woran hier nurmehr die Oldies ab dem Beitrag "Edwin Yearwood - Everytime" anknüpfen. Steelpans sind bei den ursprünglichen Instrumenten zu Stahltrommeln umfunktionierte Ölfässer. In deren Oberwand werden zahlreiche kleine Schlagflächen für die verschiedenen Tonhöhen eingestanzt.

Stilistisch weist der seit den 90ern oft digitale Soca Parallelen zum Dancehall auf, wobei der Gesang keine Zeilensprünge kennt, sondern schön dem Taktmuster folgt und eine sowieso untergeordnete Rolle spielt. Soca ist also anders als moderner Hip Hop-geprägter (Ragga-)Dancehall oder Traphall kein Lyrik-Erguss, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Tanzmusik pur. Eine Strömung im Soca trägt sehr poppige Züge, und als Vertreter findet sich hier Jus D's Nummer "Single".

Nimmt man die erschütternden Bässe bei "Ricardo Drue X Dev - South Man" liegt Dubstep als Vergleich nahe. Von den poppigen Melodien her lässt sich manchmal eine Überschneidung mit Tropical-House der cheesigsten Sorte finden, so bei "Choppi ft Machel Montano - Gud Gud".

Extrem schneller Soca mit um die 160 BPMs bezeichnet man als Power Soca, wobei diese Disziplin erst am Ende bei "Bunji Garlin - We Maniac" zum Tragen kommt. Das Tempo macht sowieso nicht alles aus: Bereits der feurige Track "Alison Hinds - Go Gal" vermittelt eine Ahnung von der Power, hängt jedoch wie die meisten Tunes hier bei 110 BPM fest. Formal bewegen sich Soca-Songs wie im Reggae/Dancehall auf so genannten Riddim Selections. "Bunji Garlin - All House Is Road" und "Fay-Ann Lyons - Sleepwalk" nutzen beide den sehr geilen "8-Bit Riddim", der voller rhythmischer Raffinesse, Eingängigkeit und engagierter Vocals als ein Vorzeigestück des Genres glänzt.

Bunji knüpft im Text an seinen Hit "Differentology" und dessen Hook "Ready fi di road" an und erklärt noch mal das Prinzip des Soca: Das ist eben kein Sound, um zuhause Zähne zu putzen. Lyrisch sind in dieser Sparte der karibischen Kultur Lifestyle-Schilderungen, die explizite Beschreibung von Dance-Bewegungen, Auslassungen über Attraktivität und Flirtmomente und sehr viel Körperlichkeit gesetzt. Aufgrund der enormen perkussiven Kraft der Sounds tragen diese simplen, trivialen Texte bei Events über Stunden und Tage. Kernelemente dabei sind 'Wine' und 'Bubble'.

"Wine" meint fließende Tanzschritte vor allem von Frauen mit Betonung des Gesäßes, gerne leicht bekleidet, bauchfrei und bunt kostümiert, wobei die Tänzerinnen wellenförmig in die Knie gehen. 'Bubble' ist frei auslegbar, trifft auf die Synth-Sounds zu und beschreibt im engeren Sinne Cannabis-Konsum über Wasserpfeifen mit Fruchtaroma. Man könnte nun blanken Sexismus wittern, aber nee, "Soca Gold 2021" zeigt sich politisch korrekt ausgewogen.

Es fängt beispielsweise beim Frauenanteil von immerhin 30 Prozent an, den vergleichbare Dancehall- und Hip Hop-Sampler selten erreichen, und geht weiter mit der jungen Jonnelle Manwarring. In puncto Body Positivity, Black Lives Matter und Me Too vereint sie den Zeitgeist. Da sie dem R'n'B zuneigt, bezeichnet die heimische Presse auf Trinidad sie bereits als 'Hybrid Soca'. "Jonnelle ft Trinidad Killa - Watch Ova Wi" hat die Newcomerin selbst verfasst. Das zugehörige Video thematisiert recht nachdenklich die Sicherheit von Frauen, wenn sie alleine unterwegs sind. Was selten ist: Hier wird es auch religiös, singt sie doch: "My Lord is my light / and I will never divide from him".

Soca hat auch einen starken Bezug zur Remixing-Culture, und so taucht mit "Gyptian - Hold You (Soca Refix)" ein elf Jahre alter Dancehall-Knaller aus Jamaika auf. Mit "South South West - Thelma" gräbt die Sammlung einen alten Kracher aus, der seinerzeit 2002 als A-Seite für den damals raren Versuch diente, einen Soca-Act (Kevin Lyttle) als Mainstream-Künstler international zu etablieren. Der kleine Kevin gab die B-Seite - und gemäß ihrem Namen "Turn Me On" drehten die DJs die Sache einfach um. Folge: Der Track kletterte auf Platz 2 in Deutschland und wurde so hierzulande zum bisher einzig wirklichen Soca-Hit. Das war allerdings Anfang 2004, als wir umgekehrt dank Seeed einen Hit nach Trinidad exportierten.

Aber nicht nur aufgrund des Lockdowns hat Soca schwer: Die recht spontane Taktung auf Jahreszeiten oder den Karneval passt nicht recht zu den Abläufen der Musikindustrie. International skalierbar wäre diese Musik wohl nur durch ein Wunder, auch wenn Afrika Bambaataa Soca schon mehrfach sampelte, und sich die Vengaboys an ihm bedienten ("Hot Hot Hot") bzw. Eddy Grant versuchte, den Stil in England zu etablieren.

Die überschäumenden und infektiösen Melodien auf "Soca Gold 2021" erinnern daran, dass der Mensch Gelegenheiten braucht, um physisch Kontakte anzubahnen. Fehlende räumlich geteilte gemeinsame Erlebnisse mit anderen über lange Zeit - das Defizit drückt auf die Seele und ist keine reine Konsum-vs-Solidaritäts-Frage. Was Edwin Yearwood in seinem Song "Resilience (Make It Work)" andeutet, in einem äußerst seltenen Moment von politisch werdendem Soca, ist, dass auch all das Zoomen, über das er sich lustig macht, nichts an dem Umstand ändert, dass Covid-19 wie ein "Erdbeben" einschlug.

Wo Zoom aber nicht hilft, so Yearwood: Während der Pandemie wurden Millionen Menschen obdachlos oder waren als Flüchtlinge unterwegs. Oder dass es noch andere Erreger, wie das Dengue-Fieber gibt, was die Welt schnell vergisst, da nur ärmere Nationen betroffen sind. Alleine für diesen Sichtwechsel lohnt es, einen Sampler mit exotischer Musik zu durchforsten. Der Spaß an den Blubber-Beats rechtfertigt es aber allemal. Zumal: Der Afrobeat-Hit "Master KG ft Nomcebo Zikode - Jerusalema" ist im Kontext zwar etwas deplatziert, dafür nun endlich auch in Deutschland physisch legal erwerbbar.

Trackliste

CD1

  1. 1. Master KG ft Nomcebo Zikode - Jerusalema
  2. 2. Alison Hinds - Go Gal
  3. 3. Machel Montano - Private Party
  4. 4. Edwin Yearwood - Resilience (Make It Work)
  5. 5. Bunji Garlin - All House Is Road
  6. 6. Fay-Ann Lyons - Sleepwalk
  7. 7. Ricardo Drue X Dev - South Man
  8. 8. Choppi ft Machel Montano - Gud Gud
  9. 9. Jonnelle ft Trinidad Killa - Watch Ova Wi
  10. 10. Jus D - Single
  11. 11. Patrice Roberts - Dai Mine
  12. 12. Edwin Yearwood - Everytime
  13. 13. Rupee - Blame It On De Music
  14. 14. Gyptian - Hold You (Soca Refix)
  15. 15. South South West - Thelma
  16. 16. Bunji Garlin - We Maniac
  17. 17. Iwer George - Gimmi Ah Bligh

CD2

  1. 1. DJ Puffy - Megamix

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