laut.de-Kritik

Schöpfungsgeschichte einer Ausnahmeband.

Review von

Die vom Gehirn befreite Hand bewegt sich, wohin die Feder sie führt; und sie führt kraft einer erstaunlichen Behexung die Feder so, dass diese lebendig wird, aber weil die Hand jede Verbindung mit der Logik verloren hat, nimmt sie, auf diesem Wege wiederhergestellt, mit dem Unbewussten Verbindung auf.
(Der automatistische Kunstbegriff)

Wenn beinahe aus dem Nichts Unerklärliches entsteht. Wenn Spontaneität mit schierer Gewalt überwältigt. Das Werden das Sein marginalisiert. Wenn man erst nach 45 Minuten feststellt, die ganze Zeit die Luft angehalten zu haben. Dann begehen ganz besondere Musiker den kreativen Urknall.

Im November 2002 gründen der Gitarrist Drew St. Ivany und der Bassist Ben Armstrong The Psychic Paramount. Fünf Tage später gehen die New Yorker gemeinsam mit dem Drummer und Improvisationskünstler Tatsuya Nakatani auf ihre erste Konzertreise. "The Franco-Italian Tour" dokumentiert die Stunde Null einer der außergewöhnlichsten Bands unserer Zeit.

To fathom hell or soar angelic
just take a pinch of psychedelic.

(Humphry Osmond, brit. Psychiater)

Zwischen den Eckpfeilern Lärm und Rhythmus balancieren die drei Instrumental-Berserker über bodenlose Abgründe. Lyon, Paris, Perpignan und Neapel sind Schauplätze der Kunststücke, pure Energie ihr Geburtshelfer. Mit einem einzigen Mikrofon konservieren sie halsbrecherischen Wagemut und akustische Kompromisslosigkeit, halten minutiös fest, wie Schlagzeug, Bass und Gitarre ohne Unterlass um den vordersten Platz streiten.

In Paris regnen kreischende Hendrix-Soli ununterbrochen auf den siedenden Basso ostinato herab, bis die Amps unter dem immensen Druck zusammenbrechen. Im zweiten Teil schieben verzerrte Drumpattern erbarmungslos Wände aufeinander zu, nur um hiernach Melodien ex tempore den Raum wieder öffnen zu lassen. Wenn dann die peitschenden Taktgeber wieder Oberhand gewinnen, implodiert der Eiffelturm.

Teamarbeit herrscht dagegen, wenn hypnotische Ambientflächen und treppensteigende Gitarrenmotive die Außenwelt negieren. Schallender Wahnsinn. Man möchte die Sonne umarmen. Unwetter heraufbeschwören. Auf brodelnden Vulkanen tanzen. Aber das ist schließlich der Job von The Psychic Paramount, die mit einem vollkommeneren Moment nach dem anderen Polkappen zum Schmelzen bringen. Ultimativer klingen nicht einmal Konzerte von The Mars Volta.

You must question authority and learn how to put yourself in a state of vulnerable open-mindedness - chaotic, confused vulnerability (…).
(Timothy Leary, LSD-Forscher)

"Live 2002" bedeutet fiebrige Eskalation. Rohe Schöpfungsgeschichte. Wenn die Grenzgänger in "Ex-Visitations" zum letzten Angriff blasen, um in tausend Funken zu verglühen, ist die Kapitulation lange unterschrieben. Aufrichtigster Neid an die Wenigen, die dieser Ausnahmeband beiwohnen durften. Der beiliegende Super 8-Film der Tournee bleibt in jedem Fall ein schwacher Trost.

Trackliste

  1. 1. Lyon
  2. 2. Paris Pt. One
  3. 3. Paris Pt. Two
  4. 4. Napoli/Perpignan Pt. Two
  5. 5. Perpignan Pt. One
  6. 6. Ex-Visitations

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LAUT.DE-PORTRÄT The Psychic Paramount

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