19. April 2018

"Mir folgen 5000 Leute, von denen ich nichts weiß"

Interview geführt von

Für alle, die gerne gesehen hätten, wie Michael Jackson gemeinsame Sache mit Meshuggah macht, schaffen TesseracT den idealen Soundtrack.

Die Musterschüler der Djent-Bewegung verbinden Pop-Melodien mit technisch und rhythmisch vertrackten Kompositionen und begeistern damit längst nicht mehr nur die Metal-Community. Dass die Burschen nicht nur gute Musiker, sondern auch abseits von Synkopen und Gitarrensaiten helle Köpfchen sind, bewies Sänger Dan Tompkins im Interview.

sonder - n. the realization that each random passerby is living a life as vivid and complex as your own.

So heißt es im "Dictionary Of Obscure Sorrows" des Autors John Koenig. Der Wortforscher begann sein Lexikon – zunächst als Videoserie auf YouTube, bald auch in gedruckter Form – aus der Motivation heraus, Gedichte zu schreiben. Weil er darin bestimmte Gefühle ausdrücken wollte, für die ihm die Begrifflichkeiten fehlten, schuf er passende Neologismen, basierend auf etymologischer Recherche.

TesseracT griffen einen der Einträge – Sonder – auf und spannen davon ausgehend das lyrische Konzept zu ihrem vierten, gleichbetitelten Studioalbum. Wir sprachen mit Sänger Dan Tompkins über "die Erkenntnis, dass jeder zufällige Passant ein ebenso buntes und komplexes Leben führt wie du selbst" und sonstige Einflüsse auf die hochkomplexe Musik der Briten. Dabei ergaben sich u.a. interessante Einblicke in ihre Produktionsweise, bei der ein Toningenieur namens Aidan O'Brien eine entscheidende Rolle spielt.

Im Lyric-Sheet finden sich zu fast allen Songs passende Zitate. Stammen diese alle von John Koenig, der euch zum Albumtitel inspirierte?

Dan Tompkins: Nein, das ist mein Versuch, die Bandkollegen zu fortzubilden, haha.

Das heißt, die Zitate stammen alle von dir?

Ja, genau. Sie sind quasi eine Erklärung, was jeder Song bedeutet.

Nur bei "Mirror Image" fehlt ein Zitat. Warum?

Haha, du bist nicht der erste, der danach fragt. Ich könnte sagen, dass ich es vergessen habe. Aber lass mich prätentiös sein: Das Stück hat eine tiefere Bedeutung für mich auf persönlicher Ebene. Schließ daraus, was du möchtest.

Ich schätze, Fragen nach der genauen Bedeutung der Songs kann ich mir also sparen, hm?

Hahaha, ja auf jeden Fall.

Demnach gehörst du zu den Textern, die ihre Hörer lieber der eigenen Fantasie und Interpretation überlassen?

Ich möchte, dass die Leute die Bedeutung selbst für sich entdecken. Aber diesmal hatte ich auch das Gefühl, die Songs hätten mehr verdient, da das Konzept so kraftvoll ist. Deshalb gab ich zumindest die Zitat-Hinweise. Noch nie zuvor haben wir so viele Gedanken auf das Thema des Albums verwendet. Es war eine neue Erfahrung – auf verschiedenen Ebenen. Wir ändern gern unsere Herangehensweisen, um die Sache aufregend zu halten.

Der Albumtitel stammt aus John Koenigs "Dictionary Of Obscure Sorrows". "Sonder" meint die Erkenntnis, dass jeder zufällige Passant ein ebenso komplexes Leben führt wie du selbst. Dreht sich darum das gesamte Konzept oder war das nur der Startpunkt, von dem aus du eine eigene Idee entwickelt hast?

Nee, nee, das bringt das gesamte Konzept schon sehr gut auf den Punkt. Jeder Song trägt auf individuelle Weise zum Gesamtwerk bei. Die Message, die wir vermitteln wollen, ist eine der Empathie – es geht darum, emphatische Gefühle zu entwickeln und Selbstsucht für selbstloses Leben zu opfern.

Sind die Texte in erster Linie das Ergebnis der Gedanken, die du dir zum beschriebenen Phänomen selbst gemacht hast, oder mehr eine Überlegung, wie die Leben der zufälligen Passanten tatsächlich aussehen könnten?

Natürlich steht jeder Song auch für sich, aber ich versuchte tatsächlich, meine Emotionen einfließen zu lassen, die ich fühlte, während ich über "Sonder" nachdachte. Und ich versuchte, sie in einen visuellen Kontext zu setzen. Das Lied "Luminary" basiert auf einer Erinnerung aus meiner Zeit in Japan. Ich lief über eine sehr belebte Fußgängerkreuzung in Shibuya, Tokio. Hunderte Leute waren um mich herum, jeder hastete zu seiner nächsten Unternehmung. Als ich zum ersten Mal von "Sonder" hörte, verband ich das Phänomen sofort mit Erlebnissen wie diesem. Die zentrale Zeile des Liedes lautet: "Are you alone locked inside / That prison in your head?" Du denkst plötzlich über den Unterschied von Lebensentwürfen nach. Wir können egoistisch leben, Informationen sammeln, um unsere Identität zu formen. Und dann können wir ebendas vielleicht opfern, um bedachter zu leben und der Lage anderer empathischer gegenüberzutreten. In der heutigen Zeit leben wir in gewisser Hinsicht recht abgeschottet voneinander. Zum einen haben wir das Internet, Social Media und sind dadurch natürlich sehr connected. Aber auf 1-on-1-Basis aufgebaute, persönliche Beziehungen verfallen, meiner Ansicht nach.

"Ich lebe nach David Bowies Verständnis von Kreativität"

Auf gewisse Weise ist das Konzept von Social Media ja ein Versuch, am Leben anderer teilzuhaben und einen Einblick in ihre Leben zu bekommen. Es wird erwartet, dass du deine Story auf Facebook, Twitter, Instagram mit der Welt teilst. Aber es ist ein erzwungenes und kontrolliertes Teilen.

Ja. Wie oft betrachtest du schon eine halbe Stunde lang das Profil eines anderen und versucht, anhand dessen zu verstehen, wie er tickt, welches Leben es führt? Das passiert nicht. Du scrollst an der Oberfläche entlang. Es ist eine unbeständige Welt, du "sammelst" Freundschaften. Ich nutze Social Media im Business-Kontext. Klar pflege ich die Beziehungen zu Leuten, die mir wirklich etwas bedeuten. Aber auf Facebook folgen mir fünftausend Leute, von denen ich rein gar nichts weiß, außer, dass sie mit meiner Musik etwas anfangen können. Durch Facebook und Co. verlieren wir die Kunst, auf persönlicher 1-on-1-Basis zu kommunizieren. Deswegen zerbrechen heutzutage glaube ich eine Menge Freundschaften. Die Leute missverstehen Dinge online. Körpersprache macht etwa 80, 90 Prozent unserer Kommunikation aus – wenn das fehlt und du nur an der Oberfläche kratzt, kannst du keine Beziehung aufbauen.

Durch Facebook zu scrollen ähnelt auch etwas deinem Bild der Fußgängerkreuzung in Japan. Es ist all dieses Zeug, die Leben um dich herum, du kannst einen Blick drauf werfen, aber nicht tiefer gehen.

Da ist was dran.

Beim Stöbern durch Koenigs Dictionary stieß ich auf einen weiteren interessanten Begriff: "Vemödalen". Es soll die Frustration darüber beschreiben, dass alles was du fotografierst – egal wie wunderbar – bereits fotografiert wurde. Das ließe sich auch auf Musik übertragen.

Irgendwie schon, ja. Wir alle haben unsere Einflüsse und wiederkäuen dauernd Songs, Strukturen, Patterns und Sounds. Aber wir re-interpretieren sie. Bei TesseracT sperren wir externe musikalische Einflüsse so gut es geht aus, um anders zu sein. Auf gewisser Ebene ist Musik letztlich stetige Regurgitation, klar. Doch es gibt Wege, sie frisch zu halten. Deshalb experimentieren wir mit verschiedenen Sounds und neuem Equipment, verändern die gesangliche Herangehensweise. Unbewusst werden wir natürlich trotzdem immer von irgendetwas beeinflusst.

Hast du selbst diese Frustration schon einmal verspürt bzw. das Gefühlt gehabt, ein Part klingt zu stark nach etwas anderem und nicht mehr originell?

Oh ja, natürlich. Ich versuche, dabei nach einer Devise David Bowies zu leben – seinem Verständnis von Kreativität. In einem berühmten Interview erklärte er, dass er sich vorstellte, vom Strand ins Wasser zu waten, bis zum Punkt, an dem die Wellen stärker werden und seine Füße den Kontakt zum Boden verlieren. Diesen Punkt empfand er als den spannendsten Ort, um kreativ zu sein. Das heißt: Mach es dir etwas umkomfortabel, denn dort wirst du neue Wachstumsfläche finden. Danach streben wir als Band.

TesseracT zeichnen sich durch die Balance zwischen hoch technischen Parts und griffigen Melodien aus – für letztere sorgst vor allem du am Mikrofon. Musst du die anderen dafür manchmal zügeln, dass sie nicht zu komplex agieren?

Nein, eigentlich nicht. Niemand tritt dem anderen auf die Zehen. Wir möchten der Kreativität keine Grenzen setzen. Wenn ich es mal mit einem besonders schwierigen Pattern oder Stück zu tun bekomme, verwende ich eben mehr Zeit darauf. Der Gesang ist das Element, das in den Songs sprichwörtlich die Tür offen lasst – er hält TesseracT zugänglich für ein breites Publikum. Wenn du gesanglich einen ebenso komplexen Standpunkt einnehmen würdest wie bei den Instrumenten, gäbe es keine Melodie zum Einklinken, keine erinnerbaren Hooks. Um Hooks und Melodien geht es mir als Sänger persönlich am meisten. 'Einprägsamkeit' lautet das Stichwort.

Hast du Vorbilder, wenn es darum geht, griffige Vocals zu komplexen Instrumentals zu schreiben?

Wie gesagt tue ich mein Bestes, nicht zu kopieren und andere Künstler zu plagiieren. Manchmal ist es trotzdem unvermeidbar. Ich wuchs mit Michael Jackson auf und empfinde seine Songs noch immer als als einige der besten, die je geschrieben wurden. Unbewusst beeinflusst mich seine Pop-Sensibilität enorm. Oft habe ich aber auch schlicht keine Zeit, neue Musik zu hören, da ich mit meiner eigenen Musik beschäftigt bin. Es kommt deshalb nicht oft vor, dass ich neue Einflüsse entdecke. Hin und wieder stoße ich aber natürlich doch auf ein paar. Vor ein paar Jahren entdeckte ich zum Beispiel Anohni, eine britische Popsängerin mit wahnsinnig interessanter Stimme. Mir geht es vor allem um Stimmen – sie müssen Gänsehaut auslösen, dann bin ich ganz Ohr. Das passiert nicht oft, Anohni hat es geschafft.

"Am Ende des Albums hörst du den Großvater lesen."

Es existiert unter anderem bereits ein weiteres Musikalbum zum Thema – "Sonderlust" von Kishi Bashi. Hat dich dieses beeinflusst?

Oh! Nein, davon habe ich noch nicht einmal gehört.

Er wählte eine sehr persönliche Herangehensweise an das Thema – er verarbeitet damit die Trennung von seiner Frau. Musikalisch eine ganz andere Baustelle als TesseracT, aber durchaus interessant.

Mich überrascht nicht, dass du das gefunden hast. Ich bin auch über einige Künstler gestolpert, die sich bereits mit "Sonder" beschäftigt haben. Ein Teil von mir war deshalb auch skeptisch, ob ich das Konzept wirklich nutzen sollte. Aber ich war einfach so beeindruckt von dem Phänomen und es ist ein tolles Wort. Letztlich war es nicht meine Entscheidung allein, die Sache durchzuziehen, sondern die der ganzen Band. Wir alle fühlten, dass es das richtige Wort fürs Album sein würde.

Eine Frage zu den Einflüssen habe ich noch, dann lasse ich dich damit in Ruhe: Im Presstext steht, dass euch oft die Bands inspirieren, mit denen ihr tourt. Explizit für den jetzigen Abschnitt genannt sind Meshuggah und Megadeth. Meshuggah überrascht nicht wirklich, setzt man euch doch oft in deren Dunstkreis. Megadeth allerdings hätte ich nicht erwartet. Wie kommts?

Die Aussage stammt glaube ich von Amos, unserem Bassisten. Ich glaube, ihm ging es weniger um die Musik und mehr um die Arbeitsweise hinter den Kulissen. Denn hinter jeder Band steht ein tolles Team. Auf jeder Tour lernen wir dazu – wie wir uns managen sollten, wie wir unseren Live-Sound verbessern, wie wir unsere Show verbessern. Dahingehend waren sie sicher eine Inspiration. Bei der Musik bin ich mir da nicht so sicher, haha. Bei Meshuggah übrigens genauso. Beim ersten Album hörst du deutlich den Einfluss heraus, weil Acle (Kahney, Gitarre; Anm.d.Red.) riesiger Fan der Band war. Doch im Zuge unseres Wachstums entfernten wir uns davon. Alle unsere bisherigen Alben unterscheiden sich.

Meshuggah klingen auch definitiv nicht catchy.

Haha, das auch, ja.

Jedenfalls steht bald eine neue Tour mit anderen Tourpartnern an: Between The Buried And Me und Plini werden euch in Europa begleiten. Mit beiden verbindet euch eine gemeinsame Vergangenheit, nicht wahr?

Ja, genau. Plini war teils auch dabei, als ich abseits von TesseracT mit anderen Künstlern zusammenarbeitete. Wir kennen uns also alle. Die erste Tour mit Between The Buried And Me habe ich leider verpasst, da ich zu dieser Zeit nicht in der Band spielte. Jetzt freue ich mich natürlich total drauf. Ich höre nichts als Gutes über die Jungs – sowohl als Musiker wie auch als Menschen. Das gleiche gilt für Plini. Ich glaube es wird echt super, ihn mit im Line-Up zu haben. Es wird ein sehr – in positivem Sinne – kontrastreiches Programm. Verrückter Ambient Metal von Between The Buried And Me, TesseracT und Plini – für jeden, der auf progressive Musik steht, wird das eine super Show.

Aufgrund eures hohen technischen Anspruchs fällt es leicht, die Musik TesseracTs als Studiomusik zu kategorisieren. Aber wie wichtig sind euch Liveshows tatsächlich?

Ich persönlich finde, TesseracT kommen live noch besser rüber als auf Platte. Wesentlich dazu bei trägt unser fantastischer Toningenieur. Ohne ihn hätten wir nicht den Live-Ruf, den wir heute haben. Aidan O'Brien heißt er. Man könnte ihn als sechstes Mitglied TesseracTs bezeichnen. Er produziert auch selbst und schrieb ein bisschen an den letzten drei Alben mit. Aber zurück zur Frage: Liveshows sind uns sehr wichtig! Wir arbeiten sehr hart daran, unseren Sound zu verfeinern und das richtige Equipment zu finden. Wir haben sogar unser eigenes Mischpult und unser eigenes Monitor-System. In der Band ist alles recht technisiert, aber es funktioniert brillant! Meistens jedenfalls, haha. Wenn du dich so sehr auf Technologie verlässt, wird es natürlich verdammt kompliziert, wenn mal etwas doch nicht funktioniert. Aber in der Regel läuft alles wie geschmiert.

Der Name Aidan O’Brien taucht auch in den Credits zu "Sonder" auf. Inwiefern war er diesmal involviert?

Oh ja, er hat etwas wahnsinnig Interessantes abgeliefert. Er nahm Kontakt zu unserer Fanbase auf und kommunizierte, dass wir nach Field Recordings suchen. Er bat die Fans, selbst tätig zu werden und eigene Field Recordings einzureichen – völlig egal was, alltägliche Sounds. Ein Kerl nahm auf, wie er Fleisch auf einem Schneidebrett zerlegte, weil er Koch ist. Ein anderer fing ein, wie ein Gewitter durch den Klimaanlageschacht eines Hochhauses raste. Jemand sandte uns eine alte Aufnahme, in der ihm sein Großvater eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest. Es waren so viele persönliche, unterschiedliche Sounds! Aidan nutzte diese Aufnahmen und baute sie an verschiedenen Stellen des Albums ein. Er samplete zum Beispiel zwei der Sounds, kreierte einen Synthesizer-Klang daraus und setzte ihn als atmosphärische Ebene ein. Das ist ein brillanter Songwriting-Ansatz finde ich, denn du arbeitest hier mit einzigartigen, sehr organischen Sounds.

Wo hört man diese Klänge zum Beispiel?

Auf dem gesamten Album! Aber sie sind sehr subtil eingearbeitet.

Also sollte man genau hinhören.

Sowieso. Am Ende des Albums hörst du den Großvater lesen.

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