laut.de-Kritik

Der "Summer Song Guy" wird zum "King of City Pop".

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Wirklich jeder sollte "Plastic Love" von Mariya Takeuchi kennen. Es ist der größte Hit des "Japanese City Pop", einem weiteren Subgenre aus dem musikalisch besten Jahrzehnt (den 80ern), das seit 2010 dank YouTube, Blogs und Re-Issues eine Wiederauferstehung erlebt. Insbesondere für die westliche Welt hat der City Pop eine bemerkenswerte Anziehungskraft, da er verspielte und fröhliche Melodien mit der Exotik japanischer Sprache kombiniert sowie ab und an ein englisches Wort in die Lyrics einfließen lässt.

Warum das so ist? Japan hatte in den 80ern einen Wirtschaftsboom und öffnete sich für den Rest der Welt, integrierte Einflüsse in seine Musik. City Pop ist ein unwiderstehliches Amalgam aus Soft/Yacht Rock, AOR (adult-oriented rock), Jazz, Funk und R'n'B. Er fungiert als Nährboden für die moderneren Abspaltungen Vaporwave oder Future Funk. Kein Wunder, dass im 80s-Hype diese Gattung bei kontemporären Künstlern wie The Weeknd nicht spurlos vorbeigehen, der sogar "Midnight Pretenders" von Tomoko Aran auf "Dawn FM" samplet.

Tatsuro Yamashita wird als der Pionier des City Pop angesehen. Er arbeitet schon früh mit dem US-amerikanischen Songwriter Alan O'Day zusammen und nimmt viele Inspirationen aus dem Land auf. Ab 1975 nimmt er jedes Jahr mindestens ein Album auf. Sein fünftes Album "Ride On Time" von 1980 mit der gleichnamigen Leadsingle etabliert seinen ersten kommerziellen Erfolg und schenkt ihm infolgedessen endlich die zeitliche und finanzielle Freiheit, etwas aufzunehmen, was voll und ganz seinen Vorstellungen entspricht. Zeitgleich kommen ihm technologische Fortschritte zugute, als Kassetten, Walkman und Car-HiFi an Massentauglichkeit gewinnen. Somit hören viele Menschen seine Musik unterwegs und zwar am liebsten an sonnigen Tagen. In seinem Heimatland erhält er daraufhin den Spitznamen "Summer Song Guy", und der Slogan "Summer, Sea, Tatsuro!" avanciert zu einem geflügelten Wort.

Für sein 1982 erscheinendes Album "For You" hätte er gerne Hiroshi Nagai als Cover-Künstler genommen, der für seine zahlreichen Bilder im Americana-Pop-Stil bekannt ist und viele Hintergründe des City Pop ziert. Jedoch hatte der sich zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden, das Albumcover für Eiichi Ohtakis Album "A Long Vacation" zu gestalten: Eines der größten japanischen Rockalben aller Zeiten. Yamashita verpflichtet Eizin Suzuki, der in einem ähnlichen Stil zeichnet und ihm ein farbenfrohes, in sattem Blau erstrahlendes Cover spendiert.

Auf "For You" öffnet Tatsuro seinen musikalischen Fächer und liefert den Soundtrack für einen perfekten Sommertag in Japan, angefangen mit dem hinreißenden "Sparkle". Bläser, funky Bass, E-Gitarrenlicks und ein Saxofon-Solo bringen die Sonne in alle Herzen. Sein melancholisch-berückender Gesang zaubert dabei ein Lächeln ins Gesicht. Eine Blaupause für den perfekten City Pop Song. Das sympathische "Music Book" nimmt ein bisschen das Tempo raus und lässt uns am Strand in der Sonne entspannen und träumen. Streicher und ein Trompeten-Solo verleihen den besonderen Touch, während er poetisch über Musik spricht: "Music Book fura itara / Melody no ame ga kata o nura shite / Music Book furisosogu / Sore wa sawayakana harmony motte hazumu" (Music book, wenn ich es öffne / Regnet die Melodie auf meine Schultern herab / Music book, es regnet herunter / Es hüpft mit frischen Harmonien).

Ebenso romantisierend schmachtet er im nächsten Hit "Morning Glory": Ein feiner Lounge-Jazzpop mit großen Gesten, elegantem Schlagzeugspiel und einem unvergesslichen Refrain. Zwischen manchen Songs streut Tatsuro kurze Acapella-Interludes ein, um den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten und dem Album eine weitere Facette hinzuzufügen, die es noch einzigartiger erklingen lässt.

Was darf auf einem Album der achtziger Jahre nicht fehlen? Exakt, eine elegische Ballade. "Futari", zu deutsch "Freude", erfüllt diese Aufgabe mit Bravour. Chime-Tree, perlendes Piano, sanfte Streicher und ein Saxofon ergeben die Zutaten für ein bezauberndes Liebeslied. Darüber hinaus glänzt der Mittelteil durch ein wunderbares, mehrstufiges Crescendo. Yamashita-san vergoldet all das mit seiner betörenden Performance.

Das Pacing auf "For You" ist sowieso über jeden Zweifel erhaben und sorgt für Abwechslung, sodass Gleichförmigkeit überhaupt keine Rolle spielt. Nach so einem hochemotionalen Moment zieht uns Tatsuro auf die Tanzfläche. "Loveland, Island!" beginnt ein bisschen wie Captain Future, setzt dann auf Melodiekaskaden, viel Uptempo und kräftigen Bass. Ein Fest für "Future Funk"-Fans mit Ohrwurm-Refrain. Der Funk bleibt präsent im anschließenden "Love Talkin' (Honey It's You)", flankiert von Soul, R'n'B und Yacht Rock, wenn ein filterverzerrtes E-Gitarrensolo ertönt. Ein kleiner, aber feiner Song über einen verliebten Burschen, der seiner angebeteten Dame die Frage stellt: "Kokoro o uchi akeyou / Kimi wa boku o aishiterukai?" (Ich werde mich dir öffnen / Liebst du mich?).

Doch nicht nur die im Pop viel besungenen zwischenmenschlichen Beziehungen finden Erwähnung, der in Tokio geborene Musiker gewährt auch Einblicke in seine schüchterne Persona, wegen der er extrem selten international auf Tour ging und auch kaum Bilder von sich schießen ließ. Ergo verleiht er seiner Abneigung gegenüber Paparazzi im zynischen "Hey Reporter!" Ausdruck. Seine Rockwurzeln schimmern hier mit Gitarrensolo und rotzigem Funk durch. Generell fällt der Track aus dem Rahmen: Distortion, Filter auf der Stimme, stampfender Beat und ein schweres Klavier. Tatsuro singt aufreizend und überspitzt provozierend. Ein musikalischer Wolkenbruch an einem heißen Sommertag.

Nach diesem rumpelnden Ausflug beendet Yamashita das Album auf eine bittersüße, schwelgerische Art. Das vornehmlich in Englisch dargebrachte "Your Eyes" umarmt mit Piano, Saxofon sowie unterstützenden Hintergrundsängern bei Sonnenuntergang, wenn man zurück in die Großstadt fährt.

"For You" ist nicht deshalb ein Meilenstein, weil es sein erfolgreichstes Album ist. Das wäre "Melodies" ein Jahr später aufgrund seines größten Hits "Christmas Eve", das erst viel später durch TV-Werbungen der Central Japan Railway Company Aufmerksamkeit bekommt. Diese Popularität schmeckt Yamashita überhaupt nicht, wie er in einem Interview des Buches "Made in Japan: Studies in Popular Music" 2013 zu Protokoll gibt.

Er hatte nicht das Ziel, ein Charts-Musiker zu werden. Er wollte seinen Sound entwickeln und die kreative Kontrolle über seine Alben haben. Er ist der Meinung, dass die größten Erfolge eines Musikers, wie eben sein "Christmas Eve", oft nicht der Lieblingssong eines Musikers sind und sie dann gezwungen sind, diesen Song aufgrund der großen Nachfrage zu spielen. Yamashita fügt hinzu, er habe "sehr viel Glück gehabt, ich war nur einmal mit einem Chart-Topper gesegnet und habe es vermieden, im Fernsehen aufzutreten."

"For You" ist zum einen ein Meilenstein, weil es die gesamte Bandbreite dieses Subgenres abdeckt, jeder Song anders klingt und vielen Künstler:innen als Inspiration dient wie bspw. Junko Ohashi, Miki Matsubara oder seiner Ehefrau Mariya Takeuchi. Auf dem Re-Issue von 2002 befindet sich mit "Every Night" ein romantischer Song, den er eigentlich für sie komponiert hat. Zum anderen ist sein sechstes Studioalbum sein ganz persönlicher Meilenstein, bei dem er aus vollem Herzen musizieren konnte, ohne eingeschränkt zu sein. Diese Spielfreude merkt man ihm in jeder Sekunde an, vor allem in seiner stimmlichen Darbietung. Der "Summer Song Guy" wird zum "King of City Pop".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Sparkle
  2. 2. Music Book
  3. 3. Interlude A Part I
  4. 4. Morning Glory
  5. 5. Interlude A Part II
  6. 6. Futari
  7. 7. Loveland, Island!
  8. 8. Interlude B Part I
  9. 9. Love Talkin' (Honey It's You)
  10. 10. Hey Reporter!
  11. 11. Interlude B Part II
  12. 12. Your Eyes

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LAUT.DE-PORTRÄT Tatsuro Yamashita

Japanese City Pop ist ein Subgenre, das seit 2010 dank YouTube, Re-Issues und Uploads zu großer Bekanntheit gelangt ist und unzählige Playlisten hervorruft.

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