laut.de-Kritik

Albträume in einer Disney-losen Disneywelt.

Review von

Spellling ist eins dieser ungreifbaren Kinder der Bandcamp-DIY-Generation: Sie hat mit ihren ersten beiden Platten mit zwei analogen Synthesizern und einem Gefühl für okkulte, ätherische Soul-Klänge Gold gefunden. Doch aus diesem Fundus zwischen Neo-Psychedelia, Soul und Witch House bricht Spellling mit ihrem dritten Album aus – Schluss mit dem DIY-Minimalismus, es lebe der hochambitionierte DIY-Maximalismus. Zwei Dutzend Orchestermitglieder rekrutierte sie im Lockdown für "The Turning Wheel", ein barockes Chamber-Pop-Sammelsurium, das klingt, als hätten die Gebrüder Grimm einen Soundcloud-Account zur Verfügung gehabt.

"The Turning Wheel" ist ein Album, auf dem gleichzeitig sehr viel und sehr wenig passiert. Objektiv könnte dieses Projekt als eines der spannendsten Alben des Musikjahres durchgehen, eine reine Aufzählung seiner Inhalte wässert jedem Kritiker den Mund: Hexenkulte, Afrofuturismus, Amerika-Kritik, modern erzählte Märchen, Referenzen an Musikhelden der Achtziger und Siebziger, Referenzen an Shakespeare. Spellling – das ist Musik von Nerds für Nerds. Lässt man die Platte aber einfach nur so am Rande laufen, merkt man – irgendwie dümpelt sie ein bisschen vor sich hin.

Das liegt vielleicht daran, dass der dominante emotionale Modus auf "The Turning Wheel" der einer abstrakten Theatralik ist. Spellling zog schon immer Inspiration für ihre Songs aus Träumen, was erklärt, warum auch hier Flickenteppiche bizarrer Abstraktionen und kruder Geschichten Hand in Hand gehen. Aber auf bisherigen Alben stand sie weniger als Performerin im Mittelpunkt. Zwar gibt ihr das Vocal-Layering immer noch den okkulten Signatur-Sound, aber auf "Mazy Fly" war die Stimme selbst mehr Objekt des psychedelischen Mahlstroms. Sie wurde auf Songs wie "Under The Sun" selbst zerstückelt, neu gesamplet und in Frage gestellt. Auf "The Turning Wheel" steht Spellling als auktorialer Erzähler firm über den Klanglandschaften.

Und die sind allen voran hübsch: Ja, wenn man ein offenes Herz für Songwriting und Harmonie hat, dann sind Songs wie "Awaken" oder "Revolution" wohl ein Festmahl. Subtile Drums gegen Piano-Leitmotive, die dann von Posaunen, Flügelhörnern und Harfen ergänzt werden; anspruchsvoll und mit perfektem Timing schwellen die orchestralen Sounds auf dieser Platte an und ab, als wollen sie einen nie gedrehten Disney-Film untermalen. Spellling zeigt eindrucksvoll, wie effektiv und strategisch sie ihr neu aquiriertes Orchester einsetzt, sie nimmt klassische Pop-Strukturen, die sich zwischen Parts und Bridge einmal im Arrangement komplett um sich selbst drehen. Dabei folgen die Songs traditionellen Dramaturgien, senken sich in viktorianischen, barocken Sound. Zahlreiche Fünfminüter wie "Little Dear", "Magic Act" oder "Revolution" bleiben musikalisch frisch und beeindruckend.

Aber wie ernst ist dieser Klassizismus? Dass "The Turning Wheel" eine gewisse Doppelbödigkeit besitzt, davon muss man ja ausgehen. Immerhin ist Spellling seit je her subversive Künstlerin, zudem wälzen sich manche Songs thematisch in systematischer Ungerechtigkeit, in einer besseren Zukunft oder auch implizit im Schwarzsein der Protagonistin. Auch die Präsenz von immer wieder durchschlagenden elektronischen Percussion-Versatzstücken unterwandert die Chamber Pop-Instrumentierung. Es gibt sie noch, die elektronischen Momente, wobei sie hier auch nicht öfter vorkommen als die donnernden Gitarren-Riffs.

Da ist also ein Schatten in der funkelnden Traumwelt des Albums. Aber je öfter man die Platte hört, desto mehr scheint er sich wieder in die Augenwinkel zu flüchten. Gewissermaßen fühlt sich das Hören an wie eine dieser optischen Täuschungen, bei denen man einen Punkt zwischen Vierecken sehen soll, er aber immer nur dort auftaucht, wo man gerade nicht hinsieht. Die unkonkrete Ironie durchweht die Texte und Kompositionen, aber je länger man sie hört, desto weniger kriegt man sie zu fassen.

Bestes Beispiel ist da "Awaken", auf dem sie so explizit und konkret wird, wie es nur geht. "Do we have the mind to change? To make it better! Back down on Earth" singt sie da, gefolgt von "High in a tower we call America". Man möchte meinen, das verbinde ein paar lose Enden, aber gefühlt treibt es jene losen Enden nur weiter auseinander.

"Little Deer" sei laut Spellling selbst die Haupt-These der Platte und beschäftige sich mit Schöpfung und Wiedergeburt. Man erwartet also von diesem mystischen Traum-Setting live mit Bambi aus dem Garten Eden eine gewisse thematische Kohärenz. Aber die stellt sich einfach nie ein. "Tender lovers of the earth / Turn us back into the dirt" mag eine schöne, hexenkultige Mood-Zeile sein, aber am Ende fehlt es dem Album an Textur. Wo läuft sie denn mit Großstadt-Skepsis ("Turning Wheel"), einem Vogelkönig ("Emperor With An Egg") und ewiger Jugend ("Boys At School") zusammen?

Das Problem ist nicht, dass "The Turning Wheel" kaleidoskopisch verschiedene Inhalte zeigt, das Problem ist eher, dass die theatralische Inszenierung in Tandem mit dem extrem homogenen Sound wenig emotionalen Impact bietet. Was ist denn der emotionale Grundton dieses Albums? Ist es düster und makaber? Ist es atmosphärisch und warm? Am ehesten könnte man es als surreal und distanziert bezeichnen, es erfüllt tatsächlich eine ganz bestimmte Nische an Psychedelia, in der alltägliche Mythen, Politik und akademischer Hintergrund aberwitzig zusammenfallen. Aber das ist eine sehr kleine Nische für ein langes Album.

Vielleicht ist die Theatralik am Ende die größte Hürde, wirklich emotional in dieses Album vorzudringen. Mit den sofort eingängigen Synth-Grooves der letzten Platten auf Sparflamme bietet Spellling in ihrer Barock-Ära sehr viel unreaktive Schönheit und ein Kabinett an interessanten, wenn auch skizzenhaften Charakteren, die wie durch fünfzig Minuten Overtüre eingeführt werden. Aber beim Auftritt in dieser psychedelischen, wunderschönen Post-Disney-Manege wartet man schlussendlich vergebens auf den luziden Moment, in dem all die Elemente sich in Bewegung setzen. Es ist ein Timeline-förmiges Spektrum an coolen Ideen und virtuoser musikalischer Umsetzung, aber als Album bleibt "The Turning Wheel" irgendwie doch weniger als die Summe seiner Teile.

Trackliste

  1. 1. Little Deer
  2. 2. Always
  3. 3. Turning Wheel
  4. 4. The Future
  5. 5. Awaken
  6. 6. Emperor With An Egg
  7. 7. Boys At School
  8. 8. Legacy
  9. 9. Queen Of Wands
  10. 10. Magic Act
  11. 11. Revolution
  12. 12. Sweet Talk

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