laut.de-Kritik

Phosphorlicht über der Afterhour.

Review von

Schon mit ihrer "Alias"-EP hat Shygirl sich als eine der interessanten Stimmen im Hyperpop-Untergrund etabliert. Ihre Musik zeigte viele Attribute von dem, was Fans in dem schwer greifbaren Genre gerne hörten, garniert mit ihrer starken Stimme, wiedererkennbarer Ästhetik und einem klaren thematischen Schwerpunkt auf Sex-Positivismus, der mal explizit und direkt, mal fast surreal und unwirklich ausgespielt wurde. Ihr Debütalbum "Nymph" geht nun einen Schritt weiter: Statt einfach nur Genre-Anforderungen sehr gut zu beantworten, fühlt es sich erstmals wie ein eigenes Album-Statement an, das ihre bisherige Themenpalette in eine kohärente und eigenwillige musikalische Welt übersetzt.

Dazu muss zuerst einmal angehimmelt werden, wie dieses Album klingt. Das Albumcover macht einen guten Job, diese Ideen einzuführen, Shygirl, allein in hellblauem Mantel, alleine eine Stunde vor Sonnenaufgang, die Message kommt herüber: "Nymph" ist nicht mehr reiner Club-Fan-Service, sondern eine komplexere Auseinandersetzung mit dem Leben in der Musikindustrie, mit den richtigen und falschen Versprechungen und unterfüttert all ihr musikalisches Glitzern mit einem doppelten Boden, unter dem Einsamkeit und Melancholie lauern.

Nichts verarbeitet dieses Doppelbödigkeit besser als die fantastische Leadsingle "Firefly", da singt sie in der Bridge "I'm right here like I been all those other times / Just waiting for you to give a sign über einen Liebhaber, der oder die ihr die Antwort verweigert, ob da nun mehr sein wird oder nicht, als nur das Ein- und Ausfahren von Versprechungen. Die phosphorizierenden Synthesizer klingen gleichzeitig hoffnungsvoll wie wehmütig, der ganze Song versetzt einen perfekt in diesen emotionalen Taumel hinein, in dem man nur auf dieses entscheidende eine Wort wartet.

Man muss Shygirl generell großen Respekt zollen, dass sie es geschafft hat, aus einem so heterogenen Pool an Produzentinnen und Produzenten mit unter anderem Sega Bodega, A.G. Cook, Danny L Harle, Mura Masa, Bloodpop, Karma Kid oder ihr selbst eine so einheitlich klingende Platte zu schustern. Alle Songs klingen nach Afterhour, etwas zu sanft und lowkey für den Club, aber Endorphin und Adrenalin klingt noch nach. Die Stimmungspalette balanciert Euphorie und Müdigkeit, den Rest eines Stimmungshochs und die darunter lauernden Comedown-Gedanken. Songs wie "Shlut", "Little Bit" oder "Missing U" wirken völlig wie aus einem Guss.

Was nicht heißt, dass "Nymph" nicht beizeiten auch einfach verdammt viel Spaß machen kann. Songs wie "Coochie (A Bedtime Story)" oder "Nike" machen ihre klassische Schule an absurden Horny-Jams und hauen auch Rapper-Shygirl wieder in volle Wirkung, die sonst auf diesem Projekt ein bisschen auf den Beifahrersitz gerutscht ist. Wenn dann aber zwischendurch Trap-Drums und Hip Hop-Bounces einsetzen, merkt man, dass sie an Fähigkeit nichts eingebüßt hat. Songs wie "Honey" lassen fast an Ambient-Vaporwave-Texturen denken und geben eine Varianz in dieses ohnehin schon nicht sehr lange Projekt, die es völlig kurzweilig erscheinen lässt.

"Nymph" wirkt mehr noch als eine Weiterentwicklung wie ein erstes richtiges Statement, eine erste komplette Iteration von Shygirl als dem progressiven Popstar, den die Welt schon damals in ihr geahnt hat. Mehr noch als einfach nur Swagger und Talent zu haben, hat sie gezeigt, dass sie eine komplett eigene Vision entwickeln kann. Da das Hyperpop-Genre vermutlich gerade wegen eines Mangels an Album-Artists in den letzten Jahren ein wenig an Schwung verloren hat, stimmt wenig euphorischer, als Shygirl in einer so inspirierten und kreativen Form zu erleben.

Trackliste

  1. 1. Woe
  2. 2. Come For Me
  3. 3. Shlut
  4. 4. Little Bit
  5. 5. Firefly
  6. 6. Coochie (A Bedtime Story)
  7. 7. Heaven
  8. 8. Nike
  9. 9. Poison
  10. 10. Honey
  11. 11. Missin U
  12. 12. Wildfire

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4 Kommentare

  • Vor einem Jahr

    Plätschert ziemlich ereignislos vor sich hin, die Platte. Nix bleibt hängen. Jede weitere solcher Scheiben machts anderen Künstlern natürlich leichter, hervorzustechen.

  • Vor einem Jahr

    Bin ziemlich ernüchtert, im Vergleich zu den großartigen EPs und ihrem früheren Output allgemein relativ schwach und Ereignislos. Vor sich hinplätschernd triffts großteils leider ganz gut, 'Shlut' und 'Poison' definitiv die besten songs.

  • Vor einem Jahr

    Die EPs waren echt super, das hier enttäuscht mich im Moment auch. Naja, vielleicht macht sie damit mehr Kohle, ich gönne es ihr auf jeden Fall.

  • Vor einem Jahr

    Ist es das Album-Syndrom, bei welchem manche Künstler glauben, ein wenig angepasster sein zu müssen um ein bisschen professioneller zu wirken? Nicht, dass diese Platte schlecht wäre, ist sie nicht, aber sie ist im Verhältnis zu den vorherigen EPs ein wenig zu zahm. Weniger Hyper, mehr Pop und allgemein weniger Radikalität. Dabei hatte die Arca-Kollaboration "Come For Me" genau das angedeutet. "Shlut" ist immerhin ein sehr starker Song, der sich aber auch gezielt von den meisten anderen Liedern abhebt.

    Für einen Einstand nicht schlecht, leider aber nicht die erhoffte Offenbarung, die sich auf den Vorgänger-Werken angedeutet hat.