9. Mai 2018

"Streaming ist nicht die Schuld der Fans"

Interview geführt von

Shinedown haben den Anspruch, mit "Attention Attention" sowohl für sich selbst als auch jedem ihrer Fans ein sehr persönliches Album zu liefern. Wie genau sich Sänger Brent Smith das vorstellt, erläutert er im Interview.

Wenn jemand bei Interviews nach Fotos fragt, sind das in der Regel die Journalisten, nicht die Musiker. Brent Smith spielt heute aber mal verkehrte Welt und bittet jeden, der ihm ein Mikro unter die Nase hält, darum, für seine Fotografin zu posieren. "Wir wollen dokumentieren, mit wem wir uns auf dieser Reise getroffen haben", erklärt er. Das Projekt Europa ist dem Shinedown-Sänger anno 2018 offenbar besonders wichtig.

Kein Wunder: Während die Band in den USA seit Jahren Hitlisten dominiert, ist sie hierzulande noch immer verhältnismäßig unbekannt. Unter anderem Auftritte bei Rock am Ring/Rock im Park sollen das heuer ändern – und natürlich das sechste Studioalbum "Attention Attention". Dessen Vorlauf stimmt Smith durchweg positiv. Einen Tag zuvor debütierte die Lead-Single "Devil", was den Sänger zum Einstieg ins Gespräch veranlasst, eine kurze Einschätzung der ersten Reaktionen auf Album und Single mit uns zu teilen:

Brent Smith: Es war genau so, wie wir es uns erwartet haben. Ich glaube, viele Leute wurden in einer guten Weise überrascht; einige wohl auch geschockt, weil sie eine von "Threat To Survival" ausgehende Vorstellung davon hatten, in welche Richtung wir weitergehen würden. Freilich ist "Attention Attention" nur der Punkt, an dem wir jetzt gerade stehen, aber es ist definitiv ein wesentlich reflektierteres Album, ein fokussierteres und ein trotziges.

Du sagtest mal in einem Interview, dass du stets nach Furchtlosigkeit in Musik suchst.

Ich bin kein Freund von Grenzen. Wir machen nie zweimal dieselbe Platte, wir entwickeln uns immer natürlich weiter. Das jetzt ist einfach ein Schnappschuss unseres jetzigen Selbst als Band und was wir um uns herum beobachten.

Eure Single-Historie ist recht beeindruckend. Nach Van Halen und Three Days Grace seid ihr in dieser Hinsicht die erfolgreichste Band in den amerikanischen Mainstream Rock-Charts. Damit kommen natürlich gewisse Erwartungen – sowohl von Fans als auch Label. Denkt ihr darüber nach, wie ihr Singletauglichkeit und Albumtracks vereint oder passiert das einfach?

Du spielst wohl auf meine letztjährige Aussage an, derzufolge "Attention Attention" ein Konzeptalbum ist. Letztendlich wurde es eher ein "Story-Album" – für uns zumindest. Ein Konzeptalbum beinhaltet für mich sehr spezifische Figuren und Orte, mit Namen und Ursprungsgeschichte, alles ist sehr detailliert. Nimm etwa Pink Floyds "The Wall" und Queensryches "Operation: Mindcrime". Was wir haben, ist eine Geschichte, bei der ich den Hörer selbst in den "Raum" bringen möchte und es dadurch erst spezifisch mache. Die Symbolik dieses Albums kreist teilweise um einen leeren Raum mit einem Stuhl darin. Zu Beginn des Albums rattert eine Maschine wie ein Herzschlag, eine Tür öffnet sich, jemand tritt herein, setzt sich, atmet ein und aus – dann startet "Devil".

Du beginnst also die Story am furchterregendsten Ort überhaupt: Du akzeptierst, dass du in diesen Raum gehen und dich dir selbst stellen musst. Ich möchte, dass der Hörer während der Albumreise versteht, warum "Devil" an erster Stelle steht, warum "Black Soul" folgt und in "Attention Attention" mündet. Die Leute sollen verstehen, dass es ein ganz anderes Shinedown-Album ist, jedenfalls in der Herangehensweise. Die Singles werden dann separat ausgewählt. Früh sprachen wir bereits darüber, dass jeder Song des Albums ein Musikvideo bekommen soll. So erzählen wir die Geschichte. Zwei haben wir bereits abgedreht. Es wird ein bisschen "Pulp Fiction"-mäßig, weil wir bestimmte Videos nur zu bestimmten Zeiten drehen können.

Ihr werdet also nicht chronologisch vorgehen?

Die Reihenfolge der Singles wird wohl nicht chronologisch sein. Aber das Ziel ist, bis 2019 alles gefilmt zu haben. Wir arbeiten mit einem zentralen Regisseur. Das ist einfach notwendig, um die Story korrekt und stimmig zu halten. Bei den Schauspielern werden wir sowohl durchwechseln als auch bei den gleichen bleiben. Die Person im Stuhl wird zum Beispiel nicht immer ein Mann sein – manchmal wird dort eine Frau sitzen. Die Person im Stuhl wird nicht immer denselben ethnischen Hintergrund haben. Wir ändern die Variablen.

Das ist interessant. Also wollt ihr unterstreichen, dass die Musik für jeden gedacht ist? Für Fans aus Europa, aus den USA, aus Asien, aus Afrika, aus woauchimmer?

Ganz genau. Wenn ich das Album in einem kurzen Statement zusammenfassen müsste, würde ich sagen, es geht darum, keine Angst vor dem Versagen zu haben. Sobald du das verstanden hast, wirst du auch verstehen, dass du um dorthin zu gelangen wohl öfter Mist bauen wirst. Was "dorthin" ist, weiß ich nicht – das bleibt dir überlassen. Suche danach. Es ist, wo du dich "ganz" fühlst. Ich glaube nicht, dass Menschen durch ihre Fehler definiert werden, sondern durch ihre Siege. Ich kenne nichts stärkeres als den menschlichen Geist. Das ist ein wesentlicher Einfluss für mich beim Songschreiben und war es besonders bei diesem Album. Die Dynamik des Albums soll dabei helfen zu verstehen, dass du dich nicht davor fürchten kannst, zu scheitern. Deswegen ist es ein wichtiges Album für genau jetzt. Du wirst in deinem Leben eine Menge Hindernisse überwinden müssen. Aber du kannst nicht nach ihnen leben. Du musst gemäß der Idee leben, dass du vielleicht heute nicht erreicht hast, was du wolltest, es aber morgen die nächste Möglichkeit gibt.

"Im Studio durfte niemand twittern"

Was meinst du damit, wenn du sagst, das Album ist genau jetzt relevant? Offensichtlich wäre natürlich, auf die aktuelle politische Situation zu schließen ...

Klar. Und ich bin sicher, dass allein durch all das, was um mich herum geschah, während wir am Album arbeiteten, unbewusst manches davon einfloss. Aber ich möchte dazu kurz etwas erklären. Im Studio hatten wir gewisse Regeln. Eric Bass produzierte das Album, er mischte es und er spielt natürlich auch in der Band. Es war natürlich Absicht, ihn als Produzenten einzusetzen. Wir konnten dieses Album nur auf eine Weise machen und zwar, indem wir es selbst machen. Um es in Erics Worten zu sagen: Lieber drehen wir selbst am Rad, als dabei zuzusehen wie jemand anderes an unserer Platte verrückt spielt.

Wir beschlossen, dass niemand im Studio Twitter benutzen durfte. Niemand durfte die Nachrichten checken. Die Telefone blieben ausgeschaltet. Man konnte natürlich Themen mit ins Studio bringen, aber drinnen nicht mehr nachchecken. Wir lebten zusammen im Moment und ließen uns nicht ablenken. Das machten wir, um sicherzustellen, so wenig wie möglich von der Außenwelt beeinflusst zu werden. Unter anderem deswegen findest du nichts per se Politisches auf dem Album. Aber unbewusst floss wie gesagt sicher etwas mit ein.

Unabhängig davon können politische Geschehnisse zu einem bewusst unpolitischen Album inspirieren oder? Zum Beispiel einem, mit dem man auf Leute zugeht und jeden einlädt, Teil zu sein – was anscheinend eure Intention mit "Attention Attention" war, wenn ich das vorhin richtig verstanden habe.

Absolut. Und dazu zieht sich eine feine Linie durch die Dynamik des Albums: menschliche Interaktion. Es ist 2018 und du stimmst mir sicher zu, wenn ich behaupte: Wir alle sind verbunden. Jeder hat ein Smartphone – das ist Teil unserer Gesellschaft. Ich sehe, wie bestimmte Altersgruppen Panikattacken bekommen, wenn sie eine Konversation führen müssen. Sie wissen nicht, wie das geht! Was wir beide hier gerade machen, ist total natürlich. Nicht jeder kriegt das auf die Reihe. Es braucht Balance in dieser Hinsicht und diese fehlt oft. Ich hatte auch das Gefühl, für dieses Album mehr zuhören als sprechen zu müssen.

Weil ich so viel Zeit mit Zach (Meyers, Gitarrist; Anm.d.Red.), Barry (Kerch, Drummer) und Eric verbringe, dreht sich natürlich vieles auf der Platte um uns. Ich weiß alles über sie, sie wissen alles über mich. Wir hatten keine Angst, uns zu öffnen. Wir wollten das machen, denn es gestaltet die Story authentischer. Aber mit all den Dingen, die momentan in der Welt geschehen im Hintergrund, wurde mir am letzten Tag des Albumprozesses erst richtig klar, dass die Platte tatsächlich gesellschaftsrelevant ist. Gewisse Dinge müssen einfach angesprochen werden. Wenn die Leute aufmerksam zuhören, finden sie darin vielleicht Antworten auf einige schwere Fragen. Ich jedenfalls fand welche darin.

"Dauernd läuft irgendwer gegen Laternenmasten"

In "Kill Your Conscience" beschäftigst du dich eingehend mit dem gerade angesprochen Social Media-Overload oder?

Ja.

Siehst du das Problem eher als gesamtgesellschaftliche Angelegenheit oder denkst du, jeder muss es für sich selbst lösen?

Ich glaube, es liegt mehr beim Individuum. Allerdings spielt mit rein, wie das Individuum die Menschen um sich herum sieht. "Kill Your Conscience" dreht sich um den Verlust von Interaktion und Verlust der Verbindung zu anderen. Aber es gibt natürlich auch eine andere Seite. Das ist nunmal die Welt, in der wir heute leben. Jemand der 1996 geboren wurde sammelt ganz unterschiedliche Erfahrungen als zum Beispiel ich, der 1978 geboren wurde. Das betrifft auch Musik und wie Musik konsumiert wird. Viele Künstler beschweren sich über Streaming, die Fans und dass niemand für Kunst bezahlt. Aber das ist doch nicht ihre Schuld! Sie sind einfach so aufgewachsen. Du kannst sie doch nicht für etwas angreifen, was sie gar nicht anders kennen. In "Kill The Conscience" geht es deshalb auch ein bisschen um die ältere Person, die angepisst ist, dass das System sich geändert hat. Denn für sie hat es sich nicht zum Besseren gewandt – für jemand anderen aber vielleicht schon.

Man muss einfach seinen moralischen Kompass anschalten, um die Balance zu finden. Guck dich doch nur mal um, wenn du morgens auf die Straße gehst! Ich garantiere dir, du siehst einen Haufen Leute nach unten starren. Dauernd läuft irgendwer gegen Pfosten und Laternenmasten! Kein Scheiß, letztes Jahr in Vegas sah ich einen Typen von der anderen Straßenseite kommen – und ein Taxi auf ihn zu. Ich rannte los, um ihn zu warnen, der Fahrer legte eine Vollbremsung hin! Der Kerl bekam nichts davon mit! Er bekam nicht mal mit, dass er fast überfahren worden wäre!

Die Situation klingt, als wäre sie dabei nicht nur für ihn gefährlich gewesen. Du rennst auf die Straße, der Fahrer verliert vielleicht die Kontrolle ...

Genau, das ist es ja: Es ist für alle gefährlich! Was mich so perplex machte, war eben, dass der Typ absolut nichts mitbekam, während er in sein Smartphone starrte. Communication-Breakdown! Du schweifst komplett aus der Realität ab und gibst dich quasi einer Fantasie-Welt hin. Klar gibt es verschiedene Standpunkte dazu. Ich finde es fantastisch, welch Wissensreichtum wir heute haben. Wenn ich als Zehntklässler etwas wissen oder lernen wollte, musste ich die Bibliothek aufsuchen. Und um die richtige Antwort zu finden, kam es schonmal vor, dass du fünf Stunden von einem Buch zum nächsten tingeltest. Heute drückst du einen Knopf, fragst Siri und vorausgesetzt du hast gutes Netz erzählt sie dir, was immer du brauchst. Beachtlich oder? Fantastisch! Gleichzeitig raubt es auch das spannende Element des Lernens. Die ganze Recherche fällt weg.

Weniger Lernen, mehr Nachsehen.

Ja, das Wissen liegt einfach da. Du arbeitest dich nicht mehr durch verschiedene Perspektiven und Umwege vor, sondern bekommst nur noch Fakten vorgesetzt. Das führt zu zwei Dingen: Einerseits hemmt es dabei, sich eine eigene fundierte Meinung zu bilden – gleichzeitig hat plötzlich jeder eine Meinung zu allem. Und das ist nicht immer gut. Denn es ist viel einfacher, eine negative Einstellung zu vertreten und Teil des Problems zu werden. Es ist viel schwieriger, Lösungsansätze zu suchen. Manchmal kommt es mir deshalb so vor, als wäre die Lösung für das Problem der fehlende Interaktion zwischen uns, einfach mal das Telefon wegzulegen.

Obwohl du in den Texten eine recht breites Themenspektrum auffährst, schreibst du alles mit einer persönlichen Ebene. Du verallgemeinerst nicht.

Nee, ich bin sehr spezifisch. Ich drücke es beinahe zwanghaft aus mir raus. Es ist in mir drin und ich habe es erlebt. Ich spreche nicht gern so vage von "es", aber "es" könnte alles sein von einer Beziehung bis zur Frustration, dass ich das neunte Level eines Computerspiel nicht schaffe. "Es" sind Fragen, auf die ich eine Antwort brauche. Das hält mich nachts wach. Ich war immer in der Lage, niederzuschreiben, wie ich mich fühle. Zuerst finde ich heraus, wie ich es niederschreibe und dann überlege ich, wie ich dem eine Stimme verleihe.

Hat sich deine Herangehensweise über die Jahre verändert und vielleicht auch die hauptsächlichen Inspirationsquellen? Wie du sagst, sie reichen von Beziehungen bis hin zu Videospielen, bei "Amaryllis" thematisierst du ausführlich deine überwundene Drogensucht.

Klar ändert sich das. Zur Zeit von "Amaryllis" befand ich mich schließlich in einer ganz anderen Situation als jetzt. Ich stelle nur sicher, dass meine Augen und Ohren stets offen sind. Ich glaube, ich kratze gerade einmal an der Oberfläche dessen, wozu ich in der Lage bin. So sollen auch die Hörer über sich selbst denken. Damit schließt sich wieder der Kreis zum Album: Hab keine Angst zu scheitern. Dort draußen ist so viel und manchmal musst du die Kette um deinen Hals zerreißen, gewisse Lasten loslassen, den Kontakt zu Menschen suchen und neue Erfahrungen sammeln. Bleib nicht drinnen! Geh raus! Lebe! Sonst verpasst du was. Du wirst dich besser fühlen – vielleicht nicht sofort, aber auf lange Sicht. Es wird dich bereichern, wenn du dich aufmachst und dich selbst mit der Welt teilst. Das verspreche ich dir.

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