laut.de-Kritik

Die alte Mär: "Meine Gang und ich gegen den Rest".

Review von

Die schöne Nachricht ist: Sentino lässt sich nicht unterkriegen. Seit 2016 veröffentlicht der viel gescholtene, für seine Fähigkeiten aber genauso häufig gelobte Berliner zuverlässig Alben und Mixtapes. Die Qualität hat sich auf einem konstanten Level eingependelt. Der endgültige Aufstieg in die A-Liga blieb ihm trotzdem verwehrt. Hoffnung besteht: "20/20" ist sein ambitioniertestes Werk der letzten Jahre.

Mit 36 Jahren klingt Sentino wie die gerade volljährig gewordene Konkurrenz. Ob er sich aus Kalkül am Sound der Stunde orientiert oder ihn tatsächlich fühlt, bleibt unklar. Sein Ziel hat der ehemalige Partner von Fler zumindest erreicht: Die 14 Stücke lassen sich theoretisch hervorragend in die kommerziell wichtigsten Spotify-Listen einfügen.

Dabei vergisst das einstige Wunderkind nicht, weshalb ihn von Maskulin bis Jubeko Records gefühlt alle Labels schon einmal haben wollten: seine unbestreitbaren Fähigkeiten als Rapper. So vergehen auch im Opener von "20/20" keine zwei Takte, bis Sentino das erste Mal den Flow wechselt. Dass auch er 2020 keinen Song ohne Autotune produziert, dürfte niemanden überraschen.

"Wir kommen nicht rein, machen aber die Tür", klagt Sentino. Einfallsreiche Zeilen wie diese zünden, da sie Humor und Realität verbinden. Leider suhlt sich der Rapper zu häufig in den immer gleichen Lifestyle- und Statussymbol-Beschreibungen. Spätestens ab der Albumhälfte müssen die Hörer wirklich am Ball bleiben wollen, um Weisheiten wie diese nicht zu verpassen: "Wollersheim ist mein Frauenbild."

Sentino könnte vermutlich Bücher darüber füllen, was er in all den Jahren erlebt hat. Seine Erzählungen auf "20/20" bringen allerdings keinen Mehrwert. Zu oft verrennt er sich in dramatischer Poesie, die die alte Mär von "Meine Gang und ich gegen den Rest" erzählt: "Wieder muss ich gehen, die Familie bleibt allein / Denn ich war klinisch tot, eine ziemlich lange Zeit / Die Teufel, die mich ficken wollten, saßen in meinem Kopf / Bleibe nur mit Brüdern, mit denen ich aß aus einem Topf."

Musikalisch sieht es genauso dünn aus. Die mit Xylofonklängen und klappernden Hihats bestückten Beats laufen im Auto-Modus. Goldfinger030, capobeatz und Jacon haben anständig produziert, doch originell geht anders. Da reicht es auch nicht, "Rhythm Is A Dancer" für "100 Mille" zu verwursten.

Abwechslung kommt nicht einmal in den zahlreichen Gast-Verses auf, da die sich unter der Autotune-Schicht kaum von Sentino unterscheiden. Der Protagonist selbst erinnert auch ohne Akzent an RAF Camora. An den kommt Sentino zwar locker handwerklich heran, die inhaltliche Tiefe seines österreichischen Kollegen erreicht er allerdings nicht. Schade.

Trackliste

  1. 1. Shem Shem
  2. 2. Tränen feat. NOIR40
  3. 3. Richard Mille feat. NOIR40
  4. 4. Perico feat. NOIR40
  5. 5. 63 AMG feat. NOIR40
  6. 6. 20/20 feat. NOIR40
  7. 7. 100 Mille feat. NOIR40
  8. 8. GTS feat. NOIR40
  9. 9. Stop feat. Blacha
  10. 10. AMG feat. Yung Saint Paul
  11. 11. Daytona feat. Yung Saint Paul
  12. 12. Baby Girl
  13. 13. Love 2 Hate
  14. 14. 112 feat. Selaido & Alusha

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Sentino

Selbst in einer Stadt wie Berlin, in deren Rap-Szene Schein und Bling-Bling alles ist, kann man es als Rapper zu Erfolg bringen, ohne allen erzählen …

9 Kommentare mit 18 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    "Der Protagonist selbst erinnert auch ohne Akzent an RAF Camora. An den kommt Sentino zwar locker handwerklich heran, die inhaltliche Tiefe seines österreichischen Kollegen erreicht er allerdings nicht."

    Was hat denn dieser Ragucci bitte für inhaltliche Tiefe?!?

    • Vor 3 Jahren

      Ja... Texte über krähen, Raben und den Tod. Voll deep, weischt

    • Vor 3 Jahren

      wo wir beim thema sind, lebt der anwalt eigentlich noch?
      lang nix mehr von der alten fledermaus hier gelesen.

    • Vor 3 Jahren

      „Wenn es sein muss, komm' ich nachts in deinen Traum wie La Mano Nera
      Drei Chays und ich in einem Raum,mein Schwanz macht Capoeira.“
      Lyrische Tiefe

    • Vor 3 Jahren

      Diese Idee des deepen RAF Camora ist so eine obskure Eigenart des Deutschrap-Zirkus.
      Ich finde seine dezidiert """deepen""" Sachen noch viel eindrücklicher als das oben; wie in "Noah":

      "Befallen vom Roboter-Roboter-Virus
      Denn alles Veraltete wirkt nun so sinnlos
      Die Welt, die ich früher mal kannte, ist tot
      LED-Fackeln am Friedhof
      Altes wird zur Legende, die neue Zeit wird geboren
      Und wir fangen wieder von vorn an
      Erstes Level beendet, nächstes Level begonnen
      Und wir fangen wieder von vorn an
      Meine Generation am Ertrinken und wir rufen Noah
      Die Zeit, in der ich lebe, wird zur Supernova
      Maximale Kraftleistung in einem Computerprogramm
      Die Zeit, in der ich lebe, wird zur Supernova"

      und wenn man ehrlich ist, findet man diese Art der Prätention von inhaltlicher Tiefe auch schon auf seinen alten Alben; wie hier in "Vorbei":

      "Ey, es ist vorbei, vergangen ist vergangen
      Die Zeit ist wie ein Band und es spannt
      Und es spannt, und es spannt bis es zerreißt
      Und du merkst, dass die Zeit, die du hast, nicht mehr reicht, doch bis du begreifst, vergangen ist vergangen
      Verwandelt sich dein Geist und du siehst alles schwarzweiß, schwarzweiß wie das Buch deines Lebens
      Das du schreibst und alle Szenen vereint"

    • Vor 3 Jahren

      @dhvw :D

      wir müssen doch wieder an poe denken ;)

    • Vor 3 Jahren

      Danke für die geilen Beispiele :D

      Das war nämlich auch genau mein Gefühl, dass dieser Austroitaliener einfach ein pseudodeeper Kasper ist, der meint, wenn sich im Video seine Luxuskarosse in einen Rabenschwarm verwandelt, dann ist es automatisch nicht prollig sondern dEeP uNd EdGy.

    • Vor 3 Jahren

      Kraftleistung :lol:

    • Vor 3 Jahren

      MAXIMALE Kraftleistung bitteschön.

    • Vor 3 Jahren

      Richtiger Lyricist, der Raf :D

    • Vor 3 Jahren

      Ich glaube ja auf "LED-Fackeln am Friedhof" hat er sich richtig einen gehobelt. "Ich bin so genial, yeah, der D-Rap Goethe, yeah!" :lol:

  • Vor 3 Jahren

    Cool, dass der gute (oder in Anbetracht seiner Freundschaft zu Hells Angeis doch nicht so gute) Sentino hier überhaupt mal wieder rezensiert wird. Habe mir das Teil noch nicht angehört, aber "Tränen" mit Noir hat mir zumindest gefallen und ich habe auf jedem seiner letzten Tapes ein paar Hits für mich gefunden.

    Vielleicht zeigt er es hier ja nicht, aber Sentino hat schön öfter bewiesen, dass er auch deepe Texte schreiben kann (zuletzt bei "Indio"). Die sind mir jedenfalls eher in Erinnerung geblieben als die von RAF, der für mich oft Deepness suggeriert, wo eigentlich keine ist, und gerade in den letzten Jahren Masse statt Klasse bringt. Eines der frühen Vorbilder für Sentino war übrigens tatsächlich Curse. :D

  • Vor 3 Jahren

    Vielleicht noch zur Einordnung: Es handelt sich um eine Art Sampler und nicht um ein klassisches Album. "20/20" bedeutet, dass die Features alle 20 Jahre alt sind und Sentence selbst seit 20 Jahren in der Szene aktiv ist.

    • Vor 3 Jahren

      Stimmt, das richtige nächste Album namens "Smile" soll ja auch irgendwann dieses Jahr kommen. Man darf gespannt sein... Ist an sich eine nette Konzept-Idee, aber nach dem ersten Durchgang muss ich sagen, dass die meisten Newcomer ihm nicht das Wasser reichen können und dieser Sound doch schon etwas totgeritten wurde. Bei "Ganando la Vida" gefiel mir das durch den Sprachen-Mix irgendwie besser. Gebe dem Teil aber noch ein, zwei Durchgänge in den nächsten Tagen.

    • Vor 3 Jahren

      20/20 ist eine EP. EP steht für Extended Play, das ist ein Werk, das nicht ganz Albumlänge und -qualität erreicht.

  • Vor 3 Jahren

    jeder hsvmann wie uwe seeler^^

  • Vor 3 Jahren

    fuer mich bis heute ein raetsel, warum sentino es nicht bis an die spitze geschafft hat. er kann rappen, klingt auf jedem beat gut, hat persoenlichkeit und weiss, wie man einen song schreibt.
    vielleicht war er zu sehr in dieser fragwuerdigen deutschen dipset epoche involviert.

  • Vor 3 Jahren

    Ich habe Sentinos Werdegang über die Jahre immer mitverfolgt. Habe auch alles aus den letzten Jahren gekauft und gehört (zuletzt SW3, Lost Tapes, El Malo, Ganando La Vida, 20/20).

    Ja, unter anderem die HSV-Mann-Line auf 20/20 ist Hammer.

    Aber monumental ist Sentinos Spätwerk in anderer Hinsicht: Als erschütterndes Zeugnis des Abstürzens eines Menschen in die Kokainabhängigkeit.

    Schaut euch nochmal das lyrische "Am Nagel geboren" aus HDF 2011 mit einem jungen, wachen Sentino an. Vergleicht das z.B. mit dem Song "Perico" von 20/20 - es ist schockierend, wie Sentinos Gedanken mittlerweile nur noch um Kokain kreisen. Es ist auch bezeichnend, wie die Drogenbezüge über die letzten EPs häufiger geworden sind; 20/20 ist der Tiefpunkt, in dem es monothematisch fast nur noch um Drogenkonsum und -handel geht. Sentino ist der realste Rapper Deutschlands. Es ist erschütternd, wie düster er geworden ist, und wie weit er sich als Mensch von der Mehrheitsgesellschaft entfernt hat.

    Bin absolut kein Fler-Fan, aber Fler hat vermutlich recht, wenn er Sentino lapidar als "Junkie" bezeichnet - und 20/20 ist ein so noch nie gehörtes Zeugnis, wie es in der Gedankenwelt eines Junkies aussieht. Was es heißt, Junkie zu sein.

    Sentino, falls du das hier liest: Du bist ein sehr guter und ehrlicher Rapper. Ich wünsche dir, dass du dein Problem erkennst, wieder auf die Füße kommst, und zu deiner alten Form zurückfindest. Es wäre sehr schade, wenn du als Mensch und Rapper nicht mehr da wärst. Sei gut zu dir selbst.

    Und die HSV-Mann-Line war wirklich Hammer.

    • Vor 3 Jahren

      Ich denke er hat aufgehört zu ziehen!?
      Aber wie Bogy schon sagte "mit Koks aufzuhören ist leicht habe ich schon 1 Millionm mal gemacht"