laut.de-Kritik

Auch in der Neuauflage ein Werk aus einem Guss.

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Bevor sich die Rolling Stones in der zweiten Hälfte der 70er Jahre in eine geldgierige wie seelenlose Monstermaschinerie verwandelten, waren sie eine richtig geile Band. Das nachzuvollziehen fällt nicht schwer angesichts der Neuausgaben, die alle paar Jahre auf den Markt kommen.

Dennoch ist es aufregend, die vorliegende Ausgabe von "Exile On Main Street" in den Händen zu halten, handelt es sich doch um eine jener Platten, die in der Geschichte der Rockmusik eine einzigartige Stellung einnehmen. Die Umstände sind bekannt und wurden über Jahrzehnte bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet.

Da sie Probleme mit der britischen Steuerbehörde hatten, zogen die Stones 1971 nach Südfrankreich. An der Côte d'Azur hatte Keith Richards eine Villa namens Nellcôte gemietet, die der Gestapo im zweiten Weltkrieg als Hauptquartier gedient hatte.

Nach dem Ende ihrer Zusammenarbeit mit dem zwielichtigen Manager Allen Klein stand die Band ohne Plan da. Mick Jagger war kurz davor, Vater zu werden, Richards war schwer dem Heroin zugetan. Die Gäste kamen und gingen, gebeten oder ungebeten, unter ihnen der wilde Hund Gram Parsons und Beat-Autor William S. Borroughs.

Unter diesen Umständen ein neues Album aufzunehmen scheint eine hirnrissige Aktion. War sie auch. Bassist Bill Wyman war so angepisst, dass er den Sessions weitgehend fern blieb. Jagger übernahm die Produktion, Richards ließ sich blicken, wenn er gerade mal Bock hatte. Den Strom fürs improvisierte Studio im Keller hatte der Gitarrist von einer Leitung im Garten abgezapft. Die Folge waren ständige Stromausfälle. Umgeben von Junkies und Schmarotzern, herrschte in den verfaulten Räumen ein absolutes Chaos.

Dass letztendlich ein Meisterwerk entstand, liegt auch an der aufwändigen Postproduktion in Los Angeles. Dennoch verlor das Album nicht den roten Faden, den es heute noch auszeichnet: Es ist ein Werk aus einem Guss. Dabei mischten die Beteiligten den Rock'n'Roll und den Blues, der sie bekannt gemacht hatte, mit Soul und anderen Elementen. Es ist bezeichnend, dass keines der Stücke für sich alleine genommen richtig eingeschlagen hat, weshalb sie in den zahlreichen Best Ofs nicht immer Beachtung finden. Am Bekanntesten sind "Tumbling Dice" und "Happy", das Richards noch heute gerne zum Besten gibt.

Schon der Opener "Rocks Off" zeigt, dass die Stones musikalisch noch lange nicht zum alten Eisen gehörten. Das ebenfalls mit Bläsern gespickte "Rip This Joint" hat einen programmatischen Titel, mit einem Nicky Hopkins, der darauf gefühlte drei Klaviere den Garaus macht. "Shake Yor Hips" enthält Anspielungen auf Thems "On The Road Again". "Ventilator Blues" beginnt mit einem selten coolen Riff. Die akustischen "Sweet Virginia" und "Shine A Light" waren so gut, dass die Stones sie 23 Jahre später auf "Stripped" weitgehend gleich interpretierten.

Die Kombination aus Richards' eigenwillig schludrigem Stil und der disziplinierten Verspieltheit Mick Taylors erreichte auf dem Album ihren Höhepunkt. Danach ging es bergab: Richards verlor sich im Heroin und Taylor stieg aus. "Er war ein Virtuose. Ich war instinktiv. Wenn es nach mir gegangen wäre, würde er immer noch mit uns spielen", trauert Richards Taylor heute noch nach.

Über den Sinn, ein Album zu remastern, das aus seiner konsequent dumpfen Abmischung Kapital geschlagen hat, sei dahin gestellt. Der Klang ist jedenfalls gut. Viel interessanter der Umstand, dass bei den Arbeiten unberücksichtigstes Material aufgetaucht ist. Zu hören auf CD 2.

Natürlich waren sich Jagger und Richards nicht zu schade, noch einmal Hand anzulegen, aber nach eigenen Angaben hielt sich die Überarbeitung in Grenzen. "Wir wollten die Songs so ursprünglich wie möglich lassen. Ich will mich ja nicht mit der Bibel anlegen. Die Nummern hatten ohnehin einen großartigen Grundsound", erklärt Richards dazu.

Die Geschichte des Rocks braucht man wegen den zehn Tracks nicht umzuschreiben. Hinter dem kuriosen Titel "Pass The Wine (Sophia Loren)" verbirgt sich eine soulige Uptempo-Nummer. Die schnulzig geratene Single-Auskopplung "Plundered My Soul" klingt trotz aller Beteuerungen nach einer starken Nachbearbeitung, "I'm Not Signifying" ist eine Blues-Nummer am Klavier im Rohstadium.

Der Text der Ballade "Following The River" verrät viel über den Zustand der Beteiligten zu jenem Zeitpunkt ("my cards are on the table, but the drinks have all run out"), ebenso der Titel "Good Time Women". "So Divine" nimmt den Anfangsriff von "Paint It Black" auf, das abschließende, unbenannte "Title 5" zeugt von einer groovigen Session.

Auch knapp 40 Jahre nach seiner Veröffentlichung bleibt "Exile On Main St." ein verdammt gutes Album. Ob in der Remastered-Ausgabe oder nicht, ist zweitrangig. Es ist das seltene Zeugnis einer Band, die auf dem Höhepunkt ihres Schaffens alle Zügel verliert und Talenten wie Lastern freien Lauf lässt. Mit "Goats Head Soup" ging ein Jahr später alles wieder geordnetere Gänge. Das Unterfangen Großunternehmen hatte begonnen.

Trackliste

Exile On Main Street

  1. 1. Rocks Off
  2. 2. Rip This Joint
  3. 3. Shake Your Hips
  4. 4. Casino Boogie
  5. 5. Tumbling Dice
  6. 6. Sweet Virginia
  7. 7. Torn And Frayed
  8. 8. Sweet Black Angel
  9. 9. Loving Cup
  10. 10. Happy
  11. 11. Turd On The Run
  12. 12. Ventilator Blues
  13. 13. I Just Want To See His Face
  14. 14. Let It Loose
  15. 15. All Down the Line
  16. 16. Stop Breaking Down
  17. 17. Shine A Light
  18. 18. Soul Survivor

Neue Tracks

  1. 1. Loving Cup (Alternate Take)
  2. 2. Pass The Wine (Sophia Loren)
  3. 3. I'm Not Signifying
  4. 4. Dancing In The Light
  5. 5. So Divine (Aladdin Story)
  6. 6. Soul Survivor (Alternate Take)
  7. 7. Following The River
  8. 8. Plundered My Soul
  9. 9. Good Time Women
  10. 10. Title 5

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