laut.de-Kritik

Hier wird Pop zukunftsfähig gemacht.

Review von

Hyperpop ist jetzt seit mindestens einem halben Jahrzehnt unter wechselnden Namen die Zukunft der Musik. Nicht morgen, aber irgendwann jedenfalls. Bestimmt! Aber immer, wenn man denkt, dass die Quelle an interessanten Quietschpop-Subversierern langsam versiegt, kommt das nächste Album ums Eck, das das ganze Genre-Konzept einen Block weiter schiebt. "Fishmonger" von den Underscores, "Teen Week" von Dltzk, die Post-100 Gecs-Szene gehört queeren Bandcamp-Weirdos. Und das ist gut so, denn anders hätten wir "Drive-By Lullabies" von Osquinn nicht bekommen. Diese Teenagerin aus den Staaten nutzt ein Repertoire an nerdigen Sound-Experimenten für den letzten Schritt, den Hyperpop noch realistisch gehen muss: Den Schritt zur Ernsthaftigkeit.

Es klingt erst einmal ironisch, wenn das Album anläuft. Das Voice-Editing orientiert sich eindeutig an Laura Les und Dylan Brady. Osquinns Stimme klingt robotisch, ein bisschen albern, aber auch warm. Dazu knarzt im Hintergrund ein schmerzhaftes Sample, das kindlich, aber auch fremd klingt. Wer weiß, ob das quietschende Schuhe oder andere Nervigkeiten sind, auf jeden Fall ist es eins von vielen Motiven, die mit auditiver Entfremdung spielt. Ein Autotune-Effekt für die ganze Produktion, quasi.

Würde man die Hyperpop-Formel jetzt konventionell spielen, würden alberne Lyrics, Ironisierung und Rollenspiel folgen. Tut es aber nicht. Osquinn begeht ihr Debütalbum als Rapperin und rappt sich deswegen auch mit Aufrichtigkeit den Schmerz von der Seele. "I'll be your nothing, something or your forever nothing / But I'm a sheep in the herd, either way" rappt sie auf "The World Is Ending Soon!" und legt ihre Unsicherheiten fast eine Stufe zu brutal dar. Es ist einer von vielen Momenten, in denen ihre Lyrics über Isolation und Depression aus der sowieso schon stressigen Teenager-Perspektive unter die Haut gehen.

"Do you like my smile? /Do you appreciate my love for you? / If not, I can change that", wiederholt sie die Kernidee von "Change That". Es erfrischt, die jugendlichen Gedankenspiralen so ungefiltert zu hören. Inzwischen ist man es ja gewohnt, dass selbst jugendliche Selbstbilder unter drei Lagen Aspiration und vorgeschriebenen Rollenbildern begraben liegen. Bei Osquinn muss man die Komplexe nicht archäologisch unter den Selbst-Idealisierungen finden, nicht aus imaginären Powertrips filtern, sie legt einfach offen dar, was sie fühlt. 'Ich liebe mich so, wie ich bin' ist als Teenage-Außenseiter als Binsenweisheit halt auch komplett für den Arsch, "ich mach was ihr wollt, wenn ihr mich dann lieb habt" kommt der unschönen Realität näher.

Und das ist bitter, weil ein Teenager sein bitter ist; das können wir Weißbrote vom Lande bezeugen, wie es einem nicht-cis-Mädel in der amerikanischen Stadt gehen muss, das will man sich gar nicht vorstellen. Aber ob bereit oder nicht, dieses Album lehnt sich in dieses Gefühl. Die Texte sind die eine Facette, aber die virtuose Seite von Osquinn ist eindeutig ihre Produktion. Sie ist schmerzhaft gut darin, Alienation in Musik auszudrücken. Der simpelste Song ist auch der größte Todesstoß, denn "Birthday Girl" bietet einfach nur das Recording von einem streitenden Elternpaar im Nebenzimmer, untermalt von ein paar traurig improvisierten Keyboard-Läufen und dem Geräusch von Stiften auf dem Papier. Ich kann hier nicht wiedergeben, wie tief diese Aufnahme in die Magengrube haut. Hier wirkt das Song-Äquivalent von einem Bild, das mehr als viele Worte sagt.

Diese Mischung aus dokumentarischem Zeigen-statt-Vertonen und Midi-Beats, die sich in amateurhafter DIY-Realness suhlen, sorgt für eine einzigartige Klangkulisse. "School Days" spannt hinten raus noch einmal eine Akustikgitarre auf ein sehr intim aufgenommenes Schlaflied, das wie eine noch weiter reduzierte Emo-Trap-Ballade in ehrenwerter Lil Peep-Manier klingt. "From Paris With Love" geht mit einem lärmigen Bass-Klamauk am Ende in die einzige offene Banger-Passage des Albums über und "12/25/18" haut mit tieferer Stimmlage und rauer Sprache plötzlich einen Südstaaten-Rap inspirierten Representer aus.

"Drive-By Lullabies" ist ein Album, das in einer sehr spezifischen Sparte extrem viele Facetten findet. Es nutzt die überaus frische Synthese aus Hyperpop und modernem Hip Hop, um viel zu nah an die Anxieties moderner queeren Teenagerschaft zu kommen. Es ist ein zerstörerischer Hördurchgang, den man erst einmal aushalten muss. Aber in dieser viel zu aufrichtigen Platte liegen ein paar musikalische Ideen, MIDI-Synthesizer-Experimente und Sample-Flips, die locker ein paar Jahre in der Zukunft liegen. Wer wissen will, wie man des Pops Zukunft weiter zukunftsfähig hält, sollte hier genau zuhören.

Trackliste

  1. 1. The World Is Ending Soon!
  2. 2. From Paris, With Love
  3. 3. Can You Really Blame Me For How I React
  4. 4. Coping Mechanism
  5. 5. Birthday Girl
  6. 6. Silly
  7. 7. Perfect Imperfection
  8. 8. Mallgrabber P
  9. 9. 12/25/18
  10. 10. Change That
  11. 11. It Molds Where It Doesn't Dry Correctly
  12. 12. School Days
  13. 13. And Now A Word From Our Sponsors!
  14. 14. I'm Here For A Good Time, Not A Long Time

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