laut.de-Kritik

Das Konzertereignis des Corona-Jahres.

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Es war das Konzertereignis 2020. Nicht so schwierig, könnte man relativieren, schließlich wurden ab März so gut wie alle Auftritte abgesagt. Doch während sich die meisten Künstler darauf beschränkten, ab und zu einen Song aus den eigenen vier Wänden zu posten oder alte Liveauftritte hochzuladen, machte sich Nick Cave die Mühe, einen großen Konzertsaal zu buchen sowie ein professionelles Filmteam und ebensolches Aufnahmeequipment zusammenzustellen. Das hat außer ihm in dieser Form niemand getan.

Im Juni aufgenommen, lief das Konzert am 23. Juli als Stream. Wie bei einem traditionellen Konzert gab es einen Vorverkauf. Für 18 EUR erhielt man den Zugangslink zu einem Ereignis, das einmalig sein sollte, wie die damalige Ankündigung nahe legte: "Der Film wird als Live-Stream übertragen und kann nach der Veranstaltung nicht mehr online angesehen werden." Das Stichwort war wohl "online", weitere Vertriebswege wurden nicht explizit ausgeschlossen. Wer also nicht zu den mehreren Zehntausend gehört, die den Stream gesehen haben (genauere Zahlen hat Cave nicht bekannt gegeben), darf sich nun auf die Veröffentlichung als Doppel-CD und schön gestalteter Doppel-Vinyl freuen. Wer dabei war, sowieso. Zudem sollte der Film ab dem 5. November mit vier zusätzlichen Tracks in ausgewählten Kinos laufen, doch die zweite Corona-Welle hat auch diesen Zeitplan durcheinander gewirbelt. Tickets und Austragungsorte finden sich unter idiotprayerfilm.com.

"Es ist ein Gebet ins Leere - allein im Alexandra Palace - ein Souvenir aus einem seltsamen und prekären Moment der Geschichte", fasst Cave das Ereignis im Booklet treffend zusammen. Wer ihn jemals live erlebt hat, weiß, wie stark er sein Publikum mit einbezieht. Das Cover mit ihm und seinem Flügel in einem riesigen, sonst leeren Saal ist ein starkes Symbolbild für das Corona-Jahr. Dass es ihm trotzdem gelingt, den Hörer in einen leicht mystischen Zustand zu versetzen, zeugt von seinen Qualitäten als Entertainer und denen seiner Musik.

Die Grundlage für das "Gebet" bildete die Auftrittsreihe "Conversations With Nick Cave", mit der er 2019 solo auf Tour ging. Dort erklärte er seine Songs und interpretierte sie neu, oder besser: dekonstruierte sie. Die Idee, sie im Studio aufzunehmen, verwarf er, und machte daraus ein studioähnliches Live-Event. "Umgeben von Covid-Offiziellen mit Maßbändern und Thermometern, maskierten Beleuchtern und Kameraleuten, nervös dreinblickenden Technikern und Eimern voller Handgel, schufen wir gemeinsam etwas sehr Seltsames und sehr Schönes, das auf diesen unsicheren Moment erwidert, sich ihm aber in keiner Weise beugt", erklärte er.

Die Tracklist dieser Veröffentlichung entspricht der des Streams. In 90 Minuten spielt Cave sein Repertoire von fünf Jahrzehnten und bietet die eine oder andere Überraschung. Mit sechs Auszügen bildet "The Boatman's Call" (1997) das Hauptgerüst, in zwei Stücken aus Grinderman-Zeiten erinnert Cave an Randy Newman, auch sonst bevorzugt er eher weniger bekannte Stücke. "The Mercy Seat" darf natürlich nicht fehlen (diesmal ist der zum Tode Verurteilte unschuldig), von der Intensität her sind die Höhepunkte jedoch "Papa Won't Leave You Henry" und "Higgs Boson Blues". Zwischendrin präsentiert Cave das neue Stück "Euthanasia", in dem der alttestamentarische Dornbusch vorkommt, der schon in Johnny Cashs "The Man Comes Around" sein Unwesen trieb.

Den größten Aha-Effekt erzielt Cave jedoch bei den Stücken, die ursprünglich ganz anders arrangiert waren. "Sad Waters" war 1986 eine eher wirre Angelegenheit mit gesprochenem Gesang und Geschrammel, hier erhält es als Intro eine Variation von "Let It Be" der Beatles. Es fällt auch richtig auf, dass Cave den Country-Klassiker "Green, Green Grass of Home" wörtlich zitiert: "Down the road I look and there runs Mary / Hair of gold and lips like cherries". Ein weiteres Beispiel: Das abschließende "Galleon Ship" aus dem aktuellen Album "Ghosteen" (2019) funktioniert als Klavierballade viel besser als mit den wabernden Keyboardklängen des Originals.

Ein Album also, das zu einigen Neuentdeckungen einlädt. Oder einfach nur dazu, den eigenen Gedanken nachzugehen. Obwohl Caves Musik nicht gerade fröhlich ist, drückt sie doch eine gewisse Hoffnung aus, dass auch im schwärzesten Dunkel schlussendlich ein Licht erscheint. Am Ende des Films öffnet sich eine Tür, Cave erhebt sich und schreitet in Richtung des gleißenden Lichts. All things muss pass. Auch Verzweiflung. Und Corona.

Trackliste

CD 1

  1. 1. Spinning Song
  2. 2. Idiot Prayer
  3. 3. Sad Waters
  4. 4. Brompton Oratory
  5. 5. Palaces Of Montezuma
  6. 6. Girl In Amber
  7. 7. Man In The Moon
  8. 8. Nobody's Baby Now
  9. 9. (Are You) The One That I've Been Waiting For?
  10. 10. Waiting For You
  11. 11. The Mercy Seat
  12. 12. Euthanasia

CD 2

  1. 1. Jubilee Street
  2. 2. Far from Me
  3. 3. He Wants You
  4. 4. Higgs Boson Blues
  5. 5. Stranger Than Kindness
  6. 6. Into My Arms
  7. 7. The Ship Song
  8. 8. Papa Won't Leave You, Henry
  9. 9. Black Hair
  10. 10. Galleon Ship

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12 Kommentare mit 26 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Ohne seine künstlerische Leistung schmälern zu wollen, aber Nick Cave könnte das Telefonbuch rückwärts furzen und die Laut-Redaktion würde mit Tränen der Rührung die 5 Punkte zücken....

    • Vor 3 Jahren

      Ich vermisse da Ulf sehr. Wenn er etwas liebte, dann machte er das mit seinem Pathos, seiner Leidenschaft absolut klar. Funktioniert für mich textlich besser, als das der Seriösität halber verstecken zu wollen, wie das bei den Fetischobjekten der verbliebenen Redaktion mMn. oft versucht wird.

    • Vor 3 Jahren

      Man könnte fast meinen, Musikrezensionen seien ganz grundsätzlich subjektiv.

    • Vor 3 Jahren

      Ich vermisse Craze.

    • Vor 3 Jahren

      So wie ich das sehe, haben wir so gar nichts Gegensätzliches gesagt, Gleep.

    • Vor 3 Jahren

      Meinste? Wenn Musikwahrnehmung und -bewertung generell subjektiv ist, dann ergibt das Konzept eines persönlichen Fetischs doch wohl herzlich wenig Sinn. Die Implikation ist ja, dass das Album nur so gut geschrieben wird, weil es dem Autor persönlich irgendwie außergewöhnlich und besonders gut gefällt, was bei gut bewerteten Alben ja aber sowieso immer der Fall ist.

    • Vor 3 Jahren

      Mir gefällt Gleep Glorp in letzter Zeit. Sind Studien eigentlich auch immer zu einem gewissen Teil subjektiv?

    • Vor 3 Jahren

      Sehe ich sehr anders. Eine Rezension ist klar immer subjektiv, ein Fetisch natürlich auch. Eine gelungene subjektive Rezension bezieht sich aber auf die Platte. Der suggerierte Fetisch im OP ist aber eine Anbetung, die a priori funktioniert. Also "Nick Cave ist selbst beim Telefonbuchfurzen toll".

      Der vorgetragene Meteorismus der Zahlen an sich sei also nicht das Schöne, sondern der Blähende - furze er, was er wolle.

  • Vor 3 Jahren

    "Das hat außer ihm in dieser Form niemand getan."

    Ich frage mich, woran das liegt. :rolleyes:

    • Vor 3 Jahren

      die Info ist schlicht miserabel recherchiert, das haben verschiedene Künstler sehr wohl getan. Wochenlang spammte mich z.B. Corey Taylor damit zu..

  • Vor 3 Jahren

    Ich finde es faszinierend. Und mir fällt niemand sonst ein, mit dem diese Art von Konzert so funktionieren könnte, wie dies mit Nick Cave der Fall ist.