Das Mannheimer Festival feierte Zehnjähriges mit u.a. Sophie Hunger, Notwist, Drangsal und Culk.

Mannheim (rnk) - "40 Gäste in einer Stunde und das wegen dieses Festivals", stöhnt der bleiche und geschaffte Hotel-Rezeptionist. Komisch, denke ich noch, denn die Leute, die hier seit einer Stunde in der Schlange stehen, sehen alle nicht wirklich nach dem üblichen Indie-Publikum vom Maifeld Derby Festival aus. Eher brummeln und schimpfen hier holländische Touristen vor sich hin. Auflösung meiner Verwirrung: Ein größeres Technofestival läuft synchron in der Quadratstadt Mannheim. Gerne hätte ich den ersten Tag nach allerhand Mitfahrer-Ärger und Verspätungen auch mitgenommen, aber erst um 22 Uhr klappt der Check-In ins Hotel. Ein Glück, dass Kollege Hannes Huß bereits vor Ort ist und seine Eindrücke des Freitags wie folgt schildert:

Corona-bedingt ist dieses Jahr alles etwas kleiner. Statt der vier Bühnen im Jahr 2019 gibt es dieses Jahr nur zwei. Die Palastbühne und den Biergarten d'amour. Auf der Palastbühne macht um 16 Uhr Luis Ake den Anfang. Der Stuttgarter verordnet sich irgendwo zwischen Eurotrash, Schlager, Tropicalismo, Minimalism und Pop und stimmt genau dadurch herrlich auf das Festival ein. Vor allem für den Freitag gibt es (scheinbar) zwei große Mottos. Indie-Mucke mit Nähe zu NDW-Schlager und Künstler*innen aus der Region. Regional einkaufen als Festival-Motto.

Sofia Portanet reist dagegen aus Berlin an, singt deutsch, englisch und französisch, sieht irgendwie nach 70s aus und klingt irgendwo nach den 80ern und klassischen Jambands zugleich. Nach ihr kommt das erste große Highlight des Festivals. Edwin Rosen ist aus Stuttgart angereist und hat seinen deutlich konventionelleren und zeitgemäßeren New Wave-Pop im Gepäck.

Danach geht es weiter in den Biergarten d'amour zum Quasi-Gegenstück des Hochglanz-Hipster-Post-Punk aus dem Hause Rosen. Love Machine sind da, stehen zu sechst auf der Bühne, Bartöl kauft diese Band wahrscheinlich in Literflaschen. Bierselig spielen sie 70s Bluesrock auf deutsch und englisch, vor allem die deutschen Sachen klingen nach International Music, man müsste beinahe eine Copyright-Klage anstrengen.

Nachdem die Belarussen von Molchat Doma die Dunkelheit mit ihrem Post-Punk einleiten dürfen, kommt endlich das Mainevent: Drangsal ist da. Zum zweiten Mal. Sein erster Auftritt war ein kurzer Cameo bei Edwin Rosen für ein 80s-inspiriertes Cover des Wir Sind Helden-Klassikers "Nur Ein Wort". Gekleidet in einen roten Anzug betritt Max Gruber die Bühne nun alleine, mit der Latex-Teufelmaske des "Exit Strategy"-Albumcovers. Das Set des Pfälzers dreht sich vor allem um die neuen Sachen und die Crowd ist begeistert. Das Schlagereske der neuen Songs und der hypnotische 80s New Wave-Vibe von Harieschaim sind genau das Richtige für die lauwarme Sommernacht. "Allan Align", "Turmbau Zu Babel" und "Schnuckel" (das am Ende zu einem erneuten "Nur Ein Wort"-Cover mutiert) ziehen Mannheim in ihren Bann.

Kein Handbrot, keine Toten Hosen, aber Star-Qualität

Nach kurzer Kontrolle des Impfstatus geht es nun auch zaghaft zurück in das Leben. Wie absolut selbstverständlich man noch vor zwei Jahren über das Gelände im Reitstadion schlenderte. Im Gegensatz zu damaligen Diskussionen über die nächsten Konzerte und bereits zurückliegende Highlights herrscht 2021 einfach pure Freude und Dankbarkeit, die Festivalveranstalter im Indie-Bereich eh schon lange verdienen. Kein Mammut-Festival mit fetten Sponsoren, keine Toten Hosen. Das Line Up ist dieses Jahr ausgedünnter und auch das hassgeliebte Handbrot nicht vor Ort. Letzteres ist für mich eher eine Wohltat - ey, sorry, was findet ihr hier im Süden an dem labbrigen Teig so geil? Bratwurst und veganes Essen gibt es natürlich immer noch. Auf dem Reitgelände-Kunstrasen steht eine große Bühne mit vielen Stuhlreihen, auf der Jon Doe heute den Aufgallop geben. Eine Heidelberger Band mit SEO-unfreundlichem Namen, aber netter Dream-Pop-Musik.

"Wir haben noch gar nicht genug Songs, deswegen kommen jetzt nur noch Cover", witzelt der Sänger. Selbst in einer schwierigen Situation setzt das Maifeld Derby weiter auf lokale Newcomer - vorbildlich. Wobei Newcomer bei dem darauf folgenden Schmyt relativ ist. Mit fast 40 erinnert seine Story an Trettmann und so ähnlich klingt auch seine Musik. Trap-Autotune-Gesang trifft auf nachdenkliche Texte. Die Entscheidung zwischen dem Befindlichkeits-Rap und Hunger stillen fällt dann zugunsten von Nahrungsaufnahme aus. Sorry Schmyt. Angeblich kommt bald eine Haftbefehl-Kollabo. Annika Henderson aus England spielt ihren düsteren Post-Punk in praller Nachmittagssonne, kann aber bereits jetzt am frühen Abend genug Leute auf die Sitzbänke für sich gewinnen. Die etwas unnahbare Aura wirkt nie arrogant und fast man meint, Nico von Velvet Underground stünde leibhaftig vor einem. Sehr, sehr gut alles.

Sophia Kennedy eröffnet den Headliner-Reigen. Ihr zur Seite steht Mense Reents, der schon ihr Album co-produzierte. Das klaviergetragene Set fügt sich hervorragend in den Sonnenuntergang ein. Da schmeckt das Weinchen fast wie Italien, hauseigenen Sekt gibt es übrigens auch. Im Dunkel tritt dann Sophie Hunger auf die Bühne und fällt nicht nur wegen ihres knallroten Anzugs auf. Es ist voll auf den Bänken und der dahinter liegenden Tribüne. Nicht mal The Notwist locken am folgenden Tag so viele Menschen vor die Bühne. Es stellt keinen Euphemismus dar, wenn man ihr absolute Starqualität zuschreibt. So schüchtern die Ansagen zwischendurch auch sind, Hungers Charisma könnte Stadien füllen.

Schweizer Coolness mit Dagobert

Sonntag Morgen und vor dem Hotelzimmer geht ein lautes Geschrei los. Irgendwer kloppt sich mit irgendwem um einen Parkplatz. Hach, Menschen! Solche Aggressionen erlebt man auf dem Gelände ja überhaupt nicht. Alle halten sich ohne Murren an die 3G-Regeln und wie kann man überhaupt schlechte Laune bekommen bei so charmanten Künstlern von unseren Nachbarn? Culk aus Wien spielen schönen Indie-Rock, der an The Breeders erinnert. Das letzte Mal gastierten sie in München, wo sie noch Winterjacken anziehen mussten. Nee, heute ist fast mediterranes Klima angesagt. Da nimmt man gerne die Trinksäulen mit dem frischen Wasser in Anspruch. Die nächste Alpenregion wird durch Dagobert repräsentiert. Der Schweizer wohnt allerdings schon länger in Berlin und performt trotz der gefühlten 40 Grad im schwarzen Mantel, nur zwischendurch überlässt er einem Rapper die Bühne. Coolness, die gerade bei unserem teutonischen Angebot rar gesäht ist.

Wem die Flamboyanz nicht so zusagt, bekommt man dann von DeWolff das Kontrastprogramm. Die Niederländer müssen etwas die Rockfraktion auf der Hauptbühne vertreten und der Stoner-Rock sitzt genau so gut wie die 70er-Klamotten. Sänger Pablo van de Poel kann sich zudem als David Spade-Double bewerben, falls es mit der Musik nicht klappt. Das scheint angesichts der euphorischen Reaktion der Zuschauer ausgeschlossen sein. Fuck, wie man das alles vermisst hat! Endlich wieder ein Gefühl von Freiheit. The Notwist müssen da praktisch einfach anwesend sein, aber das wäre für die Perfektionisten aus Weilheim natürlich zu wenig. Auch wenn Sänger Markus Acher zu Beginn kleine Tonprobleme stören. Dass diese Band weltweit das Indie-Aushängeschild Deutschlands ist, sollte nach so einem Auftritt keinen mehr wundern. Da kullern die Tränchen etwas zu "Consequence" und man weiß schon gar nicht mehr, ob das an dem immer noch schönsten Song von The Notwist liegt, oder ob man einfach Danke sagen möchte. Es hat so gut getan, wieder zurück im Leben zu sein und dass Veranstalter Timo Kumpf sein Baby gegen alle Widrigkeiten mal wieder über die Bühne bringt ist auch keine Selbstverständlichkeit. Der Kampf hat sich gelohnt. Für alle.

Fotos

Maifeld Derby, 2021 Der Festival-Restart in Mannheim 2021.

Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich) Der Festival-Restart in Mannheim 2021., Maifeld Derby, 2021 | © laut.de (Fotograf: Rinko Heidrich)

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1 Kommentar

  • Vor 2 Jahren

    Ich stimme mit vielem über das Maifeld-Derby während Corona überein.
    ABER... Handbrot ist nicht wabbelig sondern KULT :-)
    Das muss wieder 2022. Auch trockener Rotwein!
    Ansonsten fehlt mir in den Beschreibungen definitiv: Cari Cari - die waren super mega
    Und natürlich neben Dewolff zum Abschluss auf dem Parcour D'Amour 2021 Yin Yin mit irgendwelchen Zeichen auf den Buchstaben, die meine Tastatur aus meiner Sicht nicht her gibt.
    Insgesamt war das Mailfeld-Derby 2021 für die Umstände ein super Festival das seines gleichen sucht.
    Vorfreude auf 2022 ist groß. Vielleicht ohne 3 G nächstes Jahr vom 10 - 12.06.22...