Mit einem wahrhaft brillanten Line-Up feierte der Festival-Neuling am Wochenende Premiere.

Frankfurt (rnz) - Es gibt die geflügelten Worte "die Rosinen aus dem Kuchen picken". Was das Frankfurter Lüften Festival am vergangenen Wochenende aufbot, erinnerte in diesem Sinne an eine ganze Weihnachtsbäckerei.

Die reunierten Dexys, Emporkömmlinge wie das Dub-Duo Peaking Lights oder mit Alex Clare die Speerspitze der Charts - man konnte sich die Finger wund schlecken vor lauter Leckereien.

The Shins und König Fußball

Es gab nur ein kaum zu übersehendes Dilemma: Statt der erwarteten Zuschauerzahl von 10.000 zeigte der Besucherzähler im Schnitt leider nicht mehr als 2.000 an. Ein Shins-Konzert am Freitagabend fühlte sich heimeliger an als in der Kaschemme. Bevor deren Vorsteher James Mercer zur Prime Time zusätzlich mit Fußball-Abwanderern kämpfen musste, frönte mancher Liebhaber hiesiger Zukunftsmusik.

Get Well Soon eröffneten ihr Set mit dem Postrock-Kraftakt "I Sold My Hands For Food So Please Feed Me", rutschten dann aber etwas ab ins beliebige Einerlei. Konstantin Gropper ist ohne Frage mit einem süßschweren Bariton gesegnet. Allerdings waberte der auf der Open Air-Bühne in einem Frequenzbereich, in dem sich das übrige Instrumenten-Allerlei seiner Band tummelte und so Groppers Gesang verwischte.

The Notwist: leicht und doch erhaben

The Notwist-Frontmann Markus Acher erging es da besser. Dessen jungenhafte Stimme hielt sich spagatartig von ihrem wahren Alter fern. Leicht und doch erhaben setzte sie sich auf die Basteleien der anderen Kollegen. Die Band hatte einige neue Lieder vorbereitet, darunter "Hands", das mit minimalistischer Machart in Richtung "King Of Limbs" von Radiohead deutete.

Beim anderen Neuankömmling "Casino" wiederholte Acher gebetsmühlenartig: "There's something wrong with me". Doch es war alles in Ordnung. Als hätte es der Sonne gefallen, lugte sie noch mal zwischen den Ästen hervor, bevor wenig später die Nacht in der Jahrhunderthalle mit der dänischen Electro-Combo When Saints Go Machine eingeleitet wurde.

Deren Sänger Nikolaj Manuel Vonsild hatte eine ganz besondere Note. Seine Körpersprache erinnerte an Mark Hollis, die Zitterpartien an Antony Hegarty. Vielleicht war das der Grund, warum sich so rasch die Jünger um ihn scharten. The Whitest Boy Alive machten da lieber Entspannungsübungen mit ihrer Hörerschaft.

Trumpf der Kurzweil: Dexys

Am Samstagnachmittag beugte Jochen Distelmeyer mit seinem Noise-Programm der abfallenden Biokurve vor. Nur schade, dass er die herzensguten Momente wie die Blumfeld-Verzückung "Weil Es Liebe Ist" oder den Biedermeier-Pop "Murmel" vom Soloalbum "Heavy" so selten hervorrief.

Der Gitarrenmusik Distelmeyers bekam es unter freiem Himmel besser, dem Hang zum Melodiösen nachzugeben, als sich in die verzerrte Schlammschlacht zu stürzen. Dry The River, ihres Zeichens moderne Troubadours, suhlten sich mit ihren Kopfstimmen in der Mehrstimmigkeit von Retro-Acts wie Mumford & Sons und den Fleet Foxes, ihr amtliches Diplomzeugnis "Weights & Measures" konnten sie sich auch live beglaubigen lassen.

Den Trumpf der Kurzweil spielten hingegen andere aus. Die Briten Dexys kokettierten mit 80er-Kapriolen und dem brandneuen, meisterhaften Soul-Werk "One Day I'm Going To Soar". Ihr Adjutant Kevin Rowland bat in Schirmmütze und Latzhose immer wieder seine Sidekicks auf die Bühne, was zwar manchmal peinlich berührenden Musicalcharakter nach sich zog, aber immerhin den Unterhaltungswert nicht brach liegen ließ.

Dann Dauerbrenner Jan Delay. Hier ein kurzer Auszug aus der Setlist, inklusive aller Blaupausen: C & C Music Factory - "Gonna Make You Sweat (Everybody Dance Now)", Jay-Z & Kanye West - "Niggas In Paris", Backstreet Boys - "Everybody (Backstreets Back)", Das Bo - "'Türlich, Türlich (Sicher, Dicker)", Montell Jordan - "This Is How We Do It", Wir sind Helden - "Nur Ein Wort", Technotronic - "Pump Up The Jam", SNAP! - "Rhythm Is A Dancer", Deichkind - "Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)".

Der Interpret ist König, Urheberschaft hin oder her. Klar war Delays Rückendeckung Disko No. 1 mal wieder mit viel Hochglanzreiniger ausgestattet, um den vielen Trash salonfähig zu machen. Von wem auch immer der kam. Die wirklichen Juwelen waren woanders versteckt. Zum Beispiel im Casino. Jacques Palminger hielt eine LSD-Lesung. "Diese zwei Kaputtniks versuchen den LSD-Trip aus dem Kopf eines Hundes rauszuklopfen", kommentierte er süffisant die Diashow.

Gravenhursts Tagträumerei unter der nur drei Meter hohen Decke und My Brightest Diamond mit ihrem Gespensterchen Shara Worden ließen die Ausnahmestellung dieses erlesenen Festivals spürbar werden. Überhaupt war es der Tag der detailverliebten, oft abseitigen Frickler. Die hochstilisierte Dillon strickte weiter an ihrer Außenwahrnehmung, die Naturgewalt ihres schrulligen Auftretens nahm mächtigere Züge an als ihr Debüt "This Silence Kills".

Das Wunderkind

Dabei warteten viele unter vorgehaltener Hand auf das oft zitierte 'Wunderkind' James Blake. Unter Zuhilfenahme verfremdeter E-Gitarre und E-Drums breitete er seinen Klangteppich aus und verantwortete hie und da eine Schockstarre. "Like a waterfall in slow motion" eben. Die Planstelle im Bereich Innovation bleibt ihm sicher, auch wenn noch andere den Lehrstuhl innehaben.

Der Sonntag wurde zum Miesepeter. Als ob ihm der Sprühregen nicht gereicht hätte, musste er seinen Tag nasskalt gestalten. Aber es begann ja nicht so. Deswegen gab es auch für die Other Lives eine gute und eine schlechte Nachricht: Trotz des positiven Umstands, in trockenen Tüchern zu sein, bedeutete das keine Publikumsgarantie.

Dennoch machte sich das Indie-Kollektiv bei den etwa hundert Anwesenden so beliebt, dass diese mit viel Applaus und Zuneigung Zugabe forderten, für die der Band aber leider keine Zeit mehr blieb. Die Wachablösung kam mit dem heimlichen Joe Cocker-Erben Jamie N Commons und seinem aktualisierten Blues-Rock. Sein gutturales Organ verkörperte die Schwere des letzten, wolkenverhangenen Festivaltags.

"Best Line-Up ever"

"Best Line Up I've ever seen", stellte er fest und saß hernach prompt neben den Konzertgängern. Beim Verhallen dieser Worte rieb sich so mancher die Augen und fragte sich, weshalb das vielmehr nach einem Gerücht klang, das niemanden erreicht hatte, als nach der eigentlichen Wahrheit und Brillanz, wie sie im Spielplan festgeschrieben stand.

Die Folk-Elegien der Schwerenöter von The Low Anthem erhärteten einen schon älteren Verdacht, obwohl sie freilich schön anzuhören waren. Das abermalige, von mittelalterlicher Mehrstimmigkeit geprägte Abspulen traditioneller und momentan angesagter Popmusik kann schneller als Modeerscheinung in die Vergangenheit rücken, als man glaubt.

Wenn jeder dieselbe Formel anwendet, ist der Zauber irgendwann verloren. Da hilft alle Effekthascherei nichts, wie ein Sägeblatt mit einem Geigenbogen zu bespielen, was Ben Knox Miller demonstrierte. Am Ende klang das nach einer undefinierten Geige, die versucht, einen Flageolettton zu erreichen.

Regentanz oben ohne

Zeitgemäßer agierten da Kakkmaddafakka. Während einige Unterschlupf in der Halle suchten, luden sie zum Regentanz oben ohne ein und trafen den Nerv. Sie durften den Publikumsjoker ziehen, der größte Sympathien für diesen flippigen Indierock aus Norwegen beinhaltete.

Dann gaben sie das Zepter an die Schamanin Sharon Jones weiter. Mit grünem Glitzergewand feuerte sie ihr Mantra ab: "You can run but you can't hide". Diese herzliche Umarmung nahm jeder gerne an und leitete die Schwingungen ins Tanzbein weiter.

Musik war nur ein Stück des üppig geratenen Kuchens, in den sich noch Kunst, Theater und Performance mischten. Man darf hoffen, dass dieses Festival, das heuer die Premiere erlebte, genauso im nächsten Jahr gefördert, kuratiert und vor allem wahrgenommen wird. Sonst gäbe es wieder einen Anlass für ein geflügeltes Wort, dann nämlich wären Perlen vor die Säue geworfen. Und das gilt es bitteschön unbedingt zu vermeiden.

Fotos

Jan Delay und James Blake

Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Jan Delay und James Blake,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof)

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2 Kommentare

  • Vor 11 Jahren

    putzig wie der kleine fanboy sich wieder gebärdet.

  • Vor 11 Jahren

    Ich habe am Freitag das Lüften besucht und muss sagen, dass mir genauso Festivals wieder Spaß machen! Es war zwar wirklich ein wenig leer auf dem Gelände, dafür ist mir aufgefallen, dass wirklich alle Besucher da waren um Musik zu hören und die Hauptaufgabe nicht darin bestand Alkohol zu vernichten und "Helga" zu brüllen. Tolles Line-Up und sehr familiär (Erlend Oye stand zum Beispiel die ganze Zeit mitten im Publikum). Sollte es nächstes Jahr wieder stattfinden, bin ich mit dabei!