Die Everything But The Girl-Sängerin beschreibt unaufgeregt ihre Jugend in der englischen Vorstadt.

Brookmans Park (rnk) - Ach, ihr privilegierten Kinder in Berlin, Hamburg oder Köln! Was bin ich mit großen Augen aus dem Regionalexpress gestiegen und war erstaunt, als ich zum ersten Mal den Kölner Dom und später eine U-Bahn sah. Die Menschen sahen aus wie aus dem Fernsehen und nicht wie eine Mischung aus Zweiter Weltkrieg-Opa oder Western-Club-Proll.

So ganz real erschienen solche Ausflüge nie, weil sie einfach zu weit weg von der komplett erstarrten Provinz-Tristesse entfernt schienen. Das Motto meiner Stadt heißt heute übrigens "Siegen pulsiert", was eher nach besorgter Überprüfung eines komatösen Patienten klingt und nicht Boomtown. Das brutalistische Stadtbild fasste die Titanic mal schön zusammen: "Siegen sieht aus, als hätten sich Baumärkte zum Sterben in die Berge zurückgezogen." Immerhin, die durchschnittlichste Stadt Deutschlands verfügt über eine schnelle Anbindung in die Freiheit.

Tracey Thorn, so scheint es nach der Lektüre von ihrem neuen Buch "Ein anderer Planet" (Heyne Verlag, 240 Seiten, 20 Euro), wuchs wohl auch hier auf. Hier genau natürlich nicht, aber wir Provinzkinder teilen weltweit das gleiche Leid. Ob wir nun in einem deutschen Niemandsland groß wurden oder in Brookmans Park, ein englischen Satelliten-Dorf für Londoner Pendler, wo die Everything But The Girl-Sängerin ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Eigentlich war das Buch nur als kurzer Essay über die Vorstadt geplant und in Teilen schon in Kolumnen erschienen, aber aus "Green Belt" wuchs dann die doch ausführlichere Betrachtung der eingeschränkten Lebensverhältnisse in Suburbia.

Smalltowngirl

In Deutschland verbindet man mit ihr immer noch den Welthit "Missing You", den wahrscheinlich traurigsten und substanziellsten 90er-Hit, der jemals auf Platz 1 in Deutschland stand. Nicht der übliche Einfach-Bumsbeat-Hit, den die Deutschen so sehr liebten, sondern ein Lied über die Trauer nach dem Ende einer Beziehung.

In den ersten Zeilen singt Thorne darüber, wie aus einem Zug aussteigt und zu der Wohnung des ehemals Geliebten fährt, der aber gar nicht mehr dort wohnt. Im ersten Kapitel von "Ein anderer Planet" steigt sie in London in einen Zug, mit dem Ziel den Ort ihrer Kindheit nach Ewigkeiten wieder zu besuchen und darüber zu berichten. Das Leben an der Themse ist urban und laut, die Menschen drängeln hektisch in Waggons. Auf den letzten Stationen vor dem Heimatort sitzt nur noch ein Handvoll Leute im Abteil. Wie im Video zu "Smalltown Boy", nur umgekehrt. Nach einem Wochenende bei den Eltern weiß jeder Großstädter, warum er einst floh. Run away, Run away, run away.

Sei Leise

Die Tagebucheinträge aus dieser Zeit sehen tatsächlich so traurig und öde wie eben das Leben zwischen Ereignislosigkeit und Zweifamilienhäusern. "Mit Liz nach Welywn gefahren. Nichts gekauft, außer Pommes bei Kentucky". Ansonsten kommt einem die "Zu viel zum Sterben, zu wenig zu Leben"-Atmosphäre extrem bekannt vor. Das Gefühl, schon irgendwie körperlich dort zu sein, aber nicht wirklich zu leben. Immer wieder mit detaillierten Erlebnissen aus der Kindheit im kreativen Ödland, wo bürgerliche Normalität den Alltag bestimmt. Ein Idyll für komplett ambitionslose Menschen und Sonntagsspaziergänger. "Ich hatte immer eine Stimme im Hinterkopf, die mich ermahnte, die Angeberei sein zu lassen. Mach kein Theater. Sei Leise." Nirgendwo ein Echoraum für Kreativität, eine hermetisch abgeschottete Landschaft, die sich für nichts außerhalb der Stadtgrenzen und Normalität interessiert.

Ich kann nicht sein, was ich nicht sehen kann

Weibliche, emanzipierte Vorbilder gibt es kaum. Patti Smith und Siouxsie Sioux grüßen wie Comicfiguren aus dem Pop-Universum herüber. Als ob das Leben in Suburbia nicht schon mistig genug wäre, fehlt auch eine Peer Group. Die Jungs im Ort machen die Regeln und bestimmen, wer als cool gilt und mitmachen darf. Traceys Dad ist durch den Weltkrieg traumatisiert und kann nicht über Gefühle reden.

Für Indie-Girls, die nicht nur auf Make-Up oder mädchenhafte Schnulzenmusik abfahren, bleibt nur die Möglichkeit, das Spiel ohne Murren mitzuspielen und sich dem Kodex anzupassen oder wie Smith oder Poly Styrene den Mut aufzubringen, einen eigenen Weg zu gehen. Die Rrriot Girls wie Bikini Kill, so stellt die EBTG-Sängerin fest, konnten sich Anfang der 90er immerhin schon auf Vorbilder berufen, die den Weg frei machten.

Weil man es eigentlich ja mag

Und trotzdem gibt es keine verbitterte Abrechnung mit Brookmans Park. Denn eigentlich ist es ja auch schon fast zu sehr Klischee. Es gibt kaum einen Song von einem Künstler, der nicht mit dem biederen Leben der Eltern und dem Heimartort abrechnet. Der Sarkasmus ist im Buch britisch fein dosiert und auch die Abrechnung mit den eigenen Fehlern leibt nicht aus.

Wo gerade amerikanische Biografien doch etwas zu sehr auf die eigenen Schultern klopfen, bleibt hier letztendlich immer eine feine Ironie, die nie abgehoben oder über den Dingen steht. Natürlich ist Thorn mit ihren 58 Jahren auch kein bockiger Rebellen-Teenager mehr und wundert sich über Eigenheiten ihrer Kinder, ohne dabei aber in "Früher war alles besser" zu verfallen. Es ist eben so. Punkt.

Diese unaufgeregte Betrachtung tut gut, gerade weil viele ihrer Altersgenossen doch gerne die Prä-Internet-Zeit verklären. Schon als Gastsängerin von Massive Attack fiel Thorn nie als laute Egomanin auf. Die immer stets traurige Stimme drang nicht mit voller Wucht nach vorne, sondern war auf eine ganze eigene Art sehr präsent. Am Ende des Buches schlägt die Zugtür hinter ihr zu, wahrscheinlich wieder für eine längere Zeit, oder wie sie in "Missing" singt: "Like outer space / You've found some better place".

Tracey Thorn, Ein anderer Planet*

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