28. August 2017

"Ab in den Wasserpark!"

Interview geführt von

Kindliche Freude im realen Leben und depressive Lyrics schließen sich nicht aus, das macht Leprous' Einar Solberg im Gespräch deutlich. So privat wie auf dem aktuellen Album "Malina" schrieb der Sänger noch nie.

Seit ihrem Insideout-Debüt "Bilateral" zählen Leprous qualitativ zur Speerspitze des Progressive Metal. Konsequent setzen sie sich dabei zwischen die Stühle der eher rhythmisch orientierten Fraktion à la Meshuggah und melodieverliebten Exemplaren wie Porcupine Tree. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt werden die Norweger als Emperor-Boss Ihsahn – übrigens der Schwager von Frontmann Einar Solberg – sie als Liveband für sein Soloprojekt verpflichtet.

Mit ihrem fünften Album "Malina" kehren Leprous dem Metal ein Stück weit den Rücken und orientieren sich mehr gen Rock. Außerdem kommen durch die Zusammenarbeit mit Cellist Raphael Weinroth-Browne die klassische Musiksozialisation Einars stärker zum Vorschein als jemals zuvor. Wir unterhielten uns mit dem Sänger, Keyboarder und Hauptsongwriter über das frische Material, die kommende Tour – und außerdem über mythologische Vergewaltigungen, Erdbeeren und Wasserparks...

Hi Einar, alles gut?

Naja, etwas gestresst. Der Flug war verspätet, ich bin wirklich gerade eben erst zur Tür reinspaziert. Ich hatte ein bisschen Urlaub in Belgrad – meine Frau hat dort ein Haus.

Vor zwei Jahren hast du in einem Interview die Hoffnung geäußert, bald von deiner Musik leben zu können. Ist das inzwischen möglich?

Zumindest bin ich viel näher dran als jemals zuvor. Die meiste Zeit bin ich mit Musik beschäftigt. In ruhigen Perioden kann es auch mal sein, dass ich etwas anderes arbeite. Die letzten drei Monate waren nur Musik. Und es wird wohl weiter in diese Richtung gehen. Es macht mir aber nichts aus, ab und an etwas anderes zu machen – auch wenn ich es nicht unbedingt muss.

Was arbeitest du denn, wenn du nicht Musik machst?

Ach, ab und zu jobbe ich aushilfsmäßig in einem Künstler-Center. Das mache ich schon seit ich 19 war. Aber wie gesagt: es wird weniger und weniger.

Sprechen wir über euer neues Album "Malina". Ich habe Google zum Titel befragt und bin dabei auf einen etwas verstörenden Inuit-Mythos gestoßen. Kam daher die Inspiration?

Oh, erzähl mal was du gefunden hast.

Es ging um das Geschwisterpaar Malina und ihren Bruder Anningan. Eines Tages vergewaltigt Anningan seine Schwester. Malina flieht vor ihrem Bruder in den Himmel und wird zur Sonne, Anningan verfolgt sie fortan und wird zum Mond. Jedesmal wenn er sie einholt und erneut vergewaltigt gibt es eine Sonnenfinsternis.

Nee, das wars nicht, haha.

Der Roman "Malina" von Ingeborg Bachmann?

Auch nicht. In alten slawischen Sprachen bedeutet 'Malina' 'Himbeere'. Daher kommt der Albumtitel. Ich erzähl' dir die Geschichte dahinter: Ich war in Georgien und habe diese alte Frau gesehen. Sie war bestimmt 80, vielleicht sogar schon 90 Jahre alt. Sie konnte kaum gehen, aber lief den ganzen Tag durch die Straßen und verkaufte Himbeeren, um zu überleben. Dabei murmelte sie unablässig "Malina, Malina, Malina". Das hat ziemlichen Eindruck bei mir hinterlassen und ich habe Lyrics dazu verfasst.

Und welches textliche Konzept hast du dann daraus geformt?

Es gibt nicht wirklich ein Konzept dazu. Malina, die Himbeere, verwende ich mehr symbolisch. Und auch nur für den einen Song – das Album an sich hat noch weniger Konzept. Aber es ist witzig: Fast alle Journalisten gehen davon aus, dass die Mythologie Pate stand. (lacht)

Das wäre auch ein ziemlich starkes Lyric-Thema oder?

Schon ja, aber es ist einfach so komplett anders als mein "Malina". (lacht) So bleibt allerdings jede Menge Interpretationsspielraum. Das mag ich. Und hey: Umgekehrt kamen bestimmt schon 50 Leute aus Russland oder Polen auf mich zu und meinten: "Eeey, weißt du, dass das in unserer Sprache 'Himbeere' heißt?" (lacht)

"Gefühlsachterbahn gehört dazu"

Passiert das öfter, dass du auf der Straße Leute oder Dinge entdeckst, die dich beeindrucken und dann schreibst du darüber?

Nein, die alte Frau war tatsächlich die einzige. Die anderen Songs auf dem Album sind auch überhaupt nicht damit verbunden, darin verhandele ich ganz andere Themen. Überhaupt ist "Malina" glaube ich das am wenigsten konzeptuelle Album, das wir je gemacht haben. Wirklich jeder Song steht lyrisch für sich selbst. Und musikalisch auch, finde ich.

Wichtiges Thema in den Lyrics ist Depression oder?

Ja, ich denke vor allem in "Illuminate" ist es recht offensichtlich. Es geht darum, dass du zwar die Schritte allein gehen musst, aber trotzdem kann dir jemand den Weg erleuchten. Ein paar Songs handeln von bestimmten Ereignissen, die zwar nicht notwendigerweise mich betreffen, aber Personen, die mir nahe stehen; "Bonneville" und "The Last Milestone" sind Beispiele. Als ich die Texte zu beiden geschrieben habe, kam irgendwann der Punkt, an dem ich entschied, dass es zu privat ist und schrieb sie um. Jetzt sind sie interpretationsoffener. Ich kann nicht sagen, worum es genau geht, das ist einfach zu privat. So arg war es bisher noch nie. Sonst habe ich immer noch ein bisschen Oberfläche gelassen und man konnte erahnen, worum es geht. Diesmal ging es zu tief. Tut mir leid, dass ich nicht ins Detail gehen kann.

Die Selbstmorde von Chris Cornell und Chester Bennington rückten das Thema Depression ja gerade dominant ins Bewusstsein der Musikszene. Wie hast du all das wahrgenommen?

Wie gesagt, das Thema ist mir durch mein Umfeld vertraut. Es ist superwichtig, offen damit umzugehen. Ich bin Künstler, eine gewisse Gefühlsachterbahn gehört dazu, aber ich selbst leide nicht unter Depression. Ich habe mir einige jüngere Interviews mit Chester angesehen. Es hatte den Anschein, als hätten ihn wirklich immer wenn er allein war destruktive Gedanken heimgesucht. Sowas hatte ich noch nie. Ich kann optimistisch denken, auch wenn ich Probleme habe. Aber ich schreibe über solche schweren Themen, es fühlt sich einfach echter an. Wenn alles perfekt ist, bist fehlt die Motivation, darüber zu schreiben. Wer will denn hören: "Hey, alles super!"?

Naja, in der Popwelt dominiert das.

Hm ja, aber es gibt schon auch dort Trauer – auf einem sehr oberflächlichem Level. Es geht doch dauernd um Trennungen. Klar, in Sommerhits ist alles voll mit Hüpfen und Grinsen. Wir sind eigentlich sehr fröhliche Menschen in der Band, aber so wollten wir noch nie sein, haha. Dazu muss ich dir was erzählen: Neulich mussten wir am Flughafen von Helsinki acht Stunden oder so warten und plötzlich meinte unser Drummer: "Hey, lass uns in diesen Wasserpark gehen!" Davon haben wir dann ein Foto gepostet. Wir stehen voll auf solche kindischen Sachen. Ein paar Leute fanden das eher befremdlich und kommentierten dann: "Äh, sind das Leprous?" Die dachten wahrscheinlich wir sind täglich so drauf wie wir Lyrics schreiben. Das ist ganz und gar nicht der Fall. (lacht)

Apropos: Insgesamt fällt "Malina" musikalisch ja etwas "heller" aus als die Vorgänger.

Ja, insgesamt schon, das stimmt. Wobei einige Songs auch noch depressiver sind als frühere. "The Last Milestone" ist wahrscheinlich das depressivste Stück, das wir haben.

Das stärkste Stück des Albums, meiner Meinung nach.

Dankeschön!

Auf dem ganzen Album sind Streichinstrumente sehr präsent – und besonders eben in "The Last Milestone". Wie kam es dazu?

Es war eigentlich nie geplant. Ich habe ein paar Entwürfe geschrieben, "The Last Milestone" war einer der letzten davon. Irgendwie hat es sich dann natürlich angefühlt, Streicherarrangements zu den Songs zu packen, obwohl wir das vorher noch nie gemacht hatten. Abgesehen von ein bisschen Improvisation bei "Contaminate Me" von "Coal". Es war keine bewusste Entscheidung, aber ein paar mal dachte ich mir dann, dass man Streicherparts einbauen könnte. Und "The Last Milestone" habe ich infolgedessen tatsächlich ausschließlich für Streicher geschrieben. Ich hatte überlegt, vielleicht noch ein bisschen Percussion, Elektronik oder Gitarre hinzuzufügen. Doch immer wenn ich versucht habe, etwas damit zu machen, fühlte es sich einfach weniger 'rein' an. Es lenkte eher ab und nervte. Später kam dann freilich noch Gesang dazu.

Ich hatte übrigens nie vor, das Stück auf das Album zu nehmen. Die anderen Bandmitglieder hatten ja rein gar nichts damit zu tun. Sie haben nicht mitkomponiert, sie haben nicht mitarrangiert, sie spielten nichts ein. Wir sind immerhin eine Band – ein Solostück von mir auf dem Album ist dafür vielleicht nicht das Richtige. Ich überlegte, es vielleicht unabhängig von Leprous irgendwann anders zu veröffentlichen. Da der Cellist aber eh schon im Studio war, haben wir es schonmal mit aufgenommen und einfach ausprobiert, wie es am Ende der Platte klingen würde. Wir waren uns dann alle einig, dass das Album dadurch definitiv stärker wird.

Es ist der perfekte Closer.

Ja, finde ich auch. Woanders könnte es auch nicht stehen. Das würde sehr seltsam klingen. Und das tut es auf der Bonusedition des Albums auch. Da steht ja noch der Extra-Track dahinter. Und das ist ausgerechnet der am wenigsten depressive Song. Er kommt sofort auf den Punkt, ist eher einfach gehalten. Das klingt echt komisch, haha. Aber weißt du: Labels und Bonustracks – du kommst nicht drumrum, haha.

Für die Bemusterung haben sie den Bonustrack weggelassen.

Zum Glück. Ich finde den Song an sich überhaupt nicht schlecht, nur so wie er jetzt platziert ist, ist etwas unglücklich. Aber das Label will eben verschiedene Formate verkaufen – mutmaßlich zu teureren Preisen.

Naja, für den Bonustrack muss man meistens nur ein, zwei Euro drauflegen. Das ist okay, finde ich.

Ja, stimmt schon.

"Agent Fresco werden uns die Show stehlen"

Hast du eigentlich bestimmte klassische Einflüsse?

Jaja, schon immer. Klassik ist eins meiner Lieblingsgenres. Es kam nur bisher auf den Alben nicht so durch, weil es sich nie so natürlich angefühlt hat, diese Einflüsse in die Musik einzubeziehen. Erst jetzt habe ich festgestellt, dass es funktioniert. Gewissermaßen ist auf diesem Album wohl die Inspiration vieler Jahre zu hören.

Dein Gesangsstil ist ja auch etwas klassisch angehaucht.

Ein bisschen wohl, ja. Meine Mutter hat einen Abschluss, sie ist klassische Gesangslehrerin. Ich bin von der Stimmcharakteristik viel zu sehr im Pop/Rock verankert, aber du hörst eine gewisse klassische Vorbildung heraus. Ich sehe mich selbst allerdings als Rocksänger.

Jedenfalls ist dein Stil recht einzigartig. Wie hat sich dieser eigentlich entwickelt?

Früher hatte ich sogar noch mehr klassische Elemente integriert. So habe ich singen gelernt. Bevor ich Unterricht nahm, habe ich viel Grunge und Punk gesungen. Das war cool, aber es ist einfach verdammt schlecht für deine Stimme, ohne jegliche Technik zu singen. Als ich dann angefangen habe zu singen, wurde es qualitativ erst einmal drastisch weniger angenehm zuzuhören. Denn du befindest dich im Lernprozess und veränderst im Grunde komplett alles. Du hast es nicht wirklich unter Kontrolle. So ging es bei mir in Richtung dieses klassischen Stils. Aber um wirklich klassisch zu singen, fehlt mir die Technik. Egal wie ich singe – ich greife immer nur auf die Basistechniken zurück.

Jemand, der einen ähnlichen Stil wie du pflegt, ist der Sänger von Agent Fresco, mit denen ihr im Herbst gemeinsam tourt.

Es ist witzig: Sie werden oft mit uns verglichen und wir mit ihnen, aber bis vor ein paar Jahren hatten wir beide noch nie voneinander gehört. Die Top-Kommentare bei ihren Videos lauten immer "Der Typ hat Leprous gehört" und bei uns steht: "Klingt wie Agent Fresco". Es ist totaler Zufall eigentlich. Als wir "The Congregation" aufgenommen haben, kannten wir sie noch nicht und sie haben uns auch erst entdeckt, nachdem ihr jüngstes Album "Destrier" im Kaste war. Ich finde sie toll! Und ich stimme absolut zu, dass wir ähnliche Register abrufen. Arnór orientiert sich mehr in Richtung der soften Parts seiner Stimme, während ich diese zwar auch oft verwende, häufig aber in gröbere Rockbereiche gehe.

Wo liegen denn für dich die Hauptunterschiede zwischen den beiden Bands? Was sticht bei euch hervor, was bei ihnen?

Sie haben mehr Pop-Touch als wir. Es ist schwierig auszudrücken. Aber einige unserer Kompositionen könnten niemals Agent Fresco-Songs sein – und umgekehrt. Ich glaube insgesamt klingen Leprous etwas melancholischer als Agent Fresco. Das ist wahrscheinlich der Hauptunterschied. Die Energie, die sie auf der Bühne verströmen ist eine andere – sie ist viel positiver als unsere. Sie lachen und springen rum. Außerdem kommen wir vom Metal, sie haben eher einen Hardcore-/Indie-Hintergrund.

Ich finde übrigens interessant, dass die Stimmen nicht einmal das einzige sind, was sich überschneidet. Wir beide haben diese melodischen, aber mit Akkorden gespielten Gitarrenriffs mit komplizierten Rhythmusstrukturen. Das ist ein Trademark beider Bands. Normalerweise geht es bei komplizierteren Rhythmen immer in Richtung Meshuggah – Djent. Mit tief gestimmten Gitarren und so...

Ja, dabei steht einzig der Rhythmus im Vordergrund, Melodie spielt eine untergeordnete Rolle.

Genau. Und dass wir das anders machen, ist eben auch eine Gemeinsamkeit mit Agent Fresco. Es ist super, mit ihnen touren zu können. Meiner Meinung nach sind sie aktuell eine der besten Livebands. Das ist gut für uns, weil wir dann jeden Tag vor einer Herausforderung stehen. Wir können nicht einfach auf die Bühne rausgehen und annehmen, dass wir eh allen die Show stehlen. So wird es nämlich sicher nicht sein, wenn wir Agent Fresco mitnehmen. An einigen Abenden werden sie uns total fertig machen.

Besteht die Möglichkeit, dass ihr auch den Cellist mit auf Tour nehmt?

Ja, das ist sogar sehr wahrscheinlich.

Ihr habt mit Raphael Weinroth-Browne gearbeitet, wenn ich recht informiert bin. (RWB sorgte in der Metalszene durch YouTube-Cover von unter anderem Opeths "Harvest" für Aufsehen, Anm. d. Red.)

Genau. Er ist einer der großartigsten Typen, mit denen ich bisher gespielt habe. Er ist nicht nur ein fantastischer Musiker, sondern hat auch einen unglaublichen Dreh als Komponist. Und es ist so angenehm mit ihm zu arbeiten. Ich sehe eigentlich keinen Grund, warum wir nicht mit ihm touren sollten. (lacht) Abgesehen davon, dass es natürlich recht teuer wird, Flüge für einen Cellisten zu buchen, weil man für seinen Koffer immer noch einen Extra-Sitz braucht.

Nochmal kurz zum Songwriting: Ihr hattet ja viel mehr Entwürfe als letztendlich Songs auf dem Album gelandet sind. Gibt es Metarial, das du persönlich gerne verwendet hättest, das es aber am Ende nicht raufgeschafft hat?

Nee, nicht wirklich. Wir waren uns recht einig. Wobei: Einen Song gibt es, den wir damals nicht mochten, aber inzwischen nochmal gehört haben und interessant fanden. Einige Tracks sind wahnsinnig abhängig von Vocals. Das betrifft etwa die beiden ersten Singles ("From The Flame" und "Stuck", Anm. d. Red.). Ohne die Vocals würden sie sehr an Reiz verlieren. Daran dachten wir bei dem angesprochenen Song zunächst nicht. Als wir ihn neulich nochmal gehört haben, kam es uns so vor als würde er mit bestimmtem Gesang vielleicht doch funktionieren. Womöglich graben wir den in Zukunft nochmal aus. Eigentlich herrscht bei uns absolutes Verbot, alte Sachen zu überdenken, aber vielleicht machen wir diesmal wirklich eine Ausnahme.

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