laut.de-Kritik

Zwischen Junkietum und Teenage-Heartbreaker.

Review von

Spätestens Anfang der Neunziger hatten die Rocker Fönfrisuren und Feuerwerke endgültig leid. Ihre Musik musste wieder böse und wütend sein. Nirvana, Soundgarden und Pearl Jam erfüllten dieses Bedürfnis nur zu gerne und beschallten die weltweiten Radios mit einer düsteren Endzeitstimmung.

Evan Dando, Sänger und einziges konstantes Mitglied der Lemonheads, konnte zwar auf ähnlich berauschte Abgründe zurückgreifen wie die Kollegen aus Seattle, ließ diese aber nicht so offensichtlich in seine Musik einfließen. Ganz im Gegenteil. Während MTV plötzlich Feedback akzeptierte, vollzog die Band aus Boston mit ihrem mittlerweile fünften Album "It's A Shame About Ray" einen damals verpönten Schritt: sie wendeten sich dem glasklaren Pop zu.

Vor der Veröffentlichung von "Ray" befand sich Dando an einem Wendepunkt in seiner Karriere. Seine etwas undefinierte, aus dem Hardcore stammende Band versuchte sich seit einiger Zeit daran, ihren Drei-Akkord-Songs eine gewisse Poppigkeit unterzuschmuggeln, wenngleich mit bescheidenem Erfolg. Bis auf Mastermind Dando hatten alle Gründungsmitglieder die Band inzwischen verlassen und kehrten zurück an die Universität (Ben Deily) oder verfolgten lieber eine Karriere als Fotograf und Filmregisseur (Jesse Peretz).

Allein das wunderbare Suzanne Vega-Cover "Luka" hatte den Lemonheads einen erfreulichen, aber überschaubaren Underground-Erfolg beschert, war jedoch auch schon zwei Alben her. Kurzum: Es musste etwas passieren. Dandos Weg zur großen Geste hatte sich auf dem Vorgänger-Album "Lovey" schon angekündigt. Zwischen abgehangem Alternative-Rock und zackigen Punk-Nummern blitzten immer wieder erste Pop-Perlen hindurch, die auch heute noch als Lemonheads-Klassiker gelten ("Stove").

Schlussendlich waren es aber nur ein paar Songs, bei denen sich Dando traute, auf Geschwindigkeit und harte Rocker-Attitüde zu verzichten. Nicht genug, um die Hänger dieser unentschlossenen Platte zu kaschieren. Eine Auszeit in Australien entwickelte sich dann zum Schlüsselerlebnis für die Lemonheads. In Sydney badete Dando sowohl ausgiebig in der Sonne als auch in den Drogen und begann eine Songwriter-Kollaboration mit Tom Morgan von der australischen Band Smudge.

Gemeinsam ging das Duo den eingeschlagenen Weg der Pop-Annäherung zielstrebig weiter und komponierte Songs, die plötzlich an Einfachheit nicht zu überbieten waren. Diese Herangehensweise war in gewisser Weise auch als Statement zu verstehen: Dando bekannte sich endgültig zu seiner seichten Seite.

Auf "Ray" ging Dando musikalisch gesehen an die Grenze des Machbaren. Es ging jetzt nicht mehr darum, Plattenfirmen-Bosse mit einer möglichst brachialen B-Seite und irgendwelchen Superfuzzmuffs zu nerven, sondern offensiv einen allein für die Breitwand produzierten Sound zu treffen. Das Bandfoto im Booklet visualisiert auf eine herrliche Art diese Zerrissenheit zwischen Junkietum und Teenage-Heartbreaker.

Gemeinsam mit Drummer David Ryan und Bassistin Juliana Hatfield (Dandos Muse von den Blake Babies) posiert das Trio mit Bierflaschen, Zigaretten und Löchern in den Jeans. Das Äußere dieser Band stand im krassen Gegensatz zu ihrem Sound: Die Lemonheads nahmen harte Drogen und spielten trotzdem Indie-Kuschelrock im Midtempo. Das roch streng nach Marketing-Gag, war aber radikale Realität.

Tatsächlich verpackte Dando in seinen herrlichen Bubblegum-Pop eine Zeit, in der die pflanzlichen und chemischen Mittel noch gut zu ihm waren. Von seiner Entstehungsgeschichte im australischen Drogennebel ist auf der Platte nichts zu spüren. "It's A Shame About Ray" ist vielmehr wie ein High School-Film: Oberflächlich nett, aber eigentlich hat er es faustdick hinter den Ohren.

Selten hat jemand den Akt des Drogenkaufs so rührend vertont wie in Evan Dandos vielleicht bestem Song "My Drug Buddy". Mit Wandergitarre und Orgel berichtet Dando von Telefonaten in Sydneys King Street und den seltsamem zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf solch wackligen Grundlagen entstehen.

Mit Hilfe des Produzenten-Duos Robb Brothers perfektionierte der Gitarrist seinen konsequenten Pop-Ansatz in makellosem Mainstream-Sound und reiht mit schwebender Leichtigkeit Hit an Hit. Seine in seichte Harmonie verpackte Hoffnungslosigkeit offenbart sich oft erst auf den zweiten Blick. Aber genau darin liegt die Größe dieser Platte.

Der heimliche Hit "Rudderless" mit der folgenschweren Zeile "Tired of getting high" nervt offensiv mit Mädchen-Backgrounds, seine simple Akkordfolge und Dandos sehnsüchtige Stimme bleiben aber markant im Hook-Gedächtnis. Man muss sich auf diesen Pathos einlassen – ja, sich ihm regelrecht stellen - bevor man für dieses Wagnis ausgiebig belohnt wird. Getragen von Dandos weicher und alles überragender Stimme wird hier jeder verzweifelte Moment noch tragischer.

War da noch was? Ach ja, das Simon & Garfunkel-Cover "Mrs. Robinson", von Dando persönlich verhasst und bereut (als die damalige Besetzung der Lemonheads das komplette Album im Jahr 2005 in London aufführte, fehlte der Song auf der Setlist). Doch man muss sich eingestehen: Es gibt Schlimmeres. Ursprünglich als Beitrag zum 25-jährigen Jubiläum des Filmklassikers "The Graduate" eingespielt, wurde das Stück nach dem Erfolg der Single als neuer Abschluss auf die bereits veröffentlichte "Ray"-Platte hinzugefügt.

Bis heute hängt es dort nach dem eigentlichen Lagerfeuer-Ende "Frank Mills" (eine Cover-Version eines Songs aus dem "Hair"-Musical) lose herum. Dass "Mrs. Robinson" Dando aber ein Finanzpolster beschert haben dürfte, mit dem er die Hochphase seines Schaffens finanzierte, kann im Nachhinein jedem Fan nur recht sein.

Mit oder ohne Simon & Garfunkel strahlt "It's A Shame About Ray" auch heute noch. Dandos strikte Indiepop-Vision hat selbst zwanzig Jahre später nichts von seiner Klasse verloren und verschaffte bei ihrer Veröffentlichung im Jahre 1992 den Lemonheads den Durchbruch (Gold-Auszeichnung in Amerika, Großbritannien und im geliebten Australien inklusive). Zugleich war sie der Beginn einer fruchtbaren Kollaboration zwischen Tom Morgan und Dando, die zwei weitere stilprägende Alben hervorbrachte und den Lemonheads endgültig Einlass im 90s-Indie-Rock-Himmel gewährte.

Angesichts von heutigen Veröffentlichungen halbgarer Cover-Platten, in Hotelzimmern aufgenommenen Demo-Tapes und desaströsen Konzerten, muss man dieses musikalische Geschenk in guter Erinnerung bewahren. "Hope In My Past" heißt eine Zeile auf diesem Klassiker - trotz aller "Früher war alles besser"-Floskeln bleibt zu wünschen, dass Evan Dando diese Hoffnung (irgendwie) am Leben hält.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Rockin Stroll
  2. 2. Confetti
  3. 3. It's a Shame About Ray
  4. 4. Rudderless
  5. 5. My Drug Buddy
  6. 6. The Turnpike Down
  7. 7. Bit Part
  8. 8. Alison's Starting to Happen
  9. 9. Hannah & Gabi
  10. 10. Kitchen
  11. 11. Ceiling Fan In My Spoon
  12. 12. Frank Mills

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Lemonheads

"Bring me the head of Evan Dando!", prangte es von der Bassdrum des Social Distortion-Drummers herab. Anfang der Neunziger zeigte der Beliebtheitsgrad …

8 Kommentare