10. März 2016

"Ich bereue nichts"

Interview geführt von

Drei Jahre nach "Disarm The Descent" veröffentlichen Killswitch Engage dieser Tage mit "Incarnate" ein neuse Album. Für Sänger Jesse Leach ist "Incarnate" etwas ganz besonderes.

Nach dem Ausstieg von Sänger Howard Jones meldeten sich Killswitch Engage im April 2013 mit der Veröffentlichung ihres sechsten Studioalbums "Disarm The Descent" wieder zurück. Mit an Bord war ein alter Bekannter: Jesse Leach. Mit der Rückkehr des verlorenen Sohnes schloss sich für die Band ein Kreis. Zehn Jahre nach Jesses Ausstieg war das einstige Rampenlicht-Gerüst der Band also wieder am Start. Knapp drei Jahre später steht nun das nächste Studioalbum namens "Incarnate" in den Startlöchern. Im Rahmen der Promo-Tour für das neue Werk trafen wir Sänger Jesse Leach in Berlin zum Interview und sprachen über wilde Stunden hinterm DJ-Pult, dunkle Reisen in die Vergangenheit und den Killswitch-Fluch.

Jesse, bevor wir über die Band und das neue Album reden: Du hast gestern Abend hier in Berlin im Sage Club aufgelegt. Wie war's?

Jesse Leach: Unvergesslich! Ich hab schon in vielen Clubs aufgelegt. Aber die Party gestern war der Hammer. Ich weiß gar nicht, wie ich es genau beschreiben soll. Ich dachte mir, ich lege einfach ein paar meiner Lieblingssongs auf, und der eine oder andere wird schon mitwippen. Aber die Leute haben getanzt. Und zwar zu den brutalsten Sounds. Die haben richtig getanzt. Und nicht wenige. Das war eine unglaubliche Erfahrung. Ich muss definitiv schnell wiederkommen und das noch einmal wiederholen (lacht).

Klingt nach einer euphorisierenden Erfahrung, die man als Musiker sonst nur im Rahmen eines Konzertes erlebt.

Die Grundstimmung ist sicherlich ähnlich. Aber hinter dem Pult zu stehen, ist natürlich wesentlich entspannter. Auf der Bühne renne ich rum. Ich schreie, schwitze und verausgabe mich. Das ist noch mal ne andere Baustelle. Aber sollte ich nach meiner aktiven Karriere immer noch Bock auf Musik haben, dann steht der DJ-Job sicherlich ganz oben auf meiner Liste.

Apropos live: Ihr wart in den vergangenen zwei Jahren unheimlich viel unterwegs. Ich glaube sogar, ihr habt auf jedem Kontinent gespielt, oder?

Fast. Die Antarktis haben wir ausgelassen. Aber wird sind ja auch nicht Metallica (lacht).

Wärt ihr denn gerne so big in business wie James Hetfield und Co?

Nun, wir müssten uns dann sicherlich in vielen Bereichen keine Sorgen mehr machen. Aber wir wollen uns nicht beschweren. Unsere Platten verkaufen sich gut. Und die Tourneen laufen auch super. Es reicht für ein gutes Leben.

Wart ihr in den vergangenen zwei Jahren auch deshalb so viel unterwegs, um als Band wieder näher zusammen zu rücken?

Auf jeden Fall. Auf Tour ist es wie im Urlaub – vom Urlaub an sich und dem garantiert schönen Wetter natürlich abgesehen. Man ist über einen längeren Zeitraum 24 Stunden am Tag miteinander zu Gange. Das schweißt natürlich zusammen.

"Es war sehr schmerzhaft, deprimierend und erschreckend"

Wie fühlst du dich heute? Ich meine, du bist jetzt seit fast drei Jahren wieder dabei. Als wäre es nie anders gewesen?

So ungefähr. Natürlich gibt es noch Momente, in denen mir bewusst wird, dass ich lange Zeit nicht dabei war. Zum Beispiel wenn ich irgendwo auf Fans treffe. Die erzählen mir dann, wie sehr sie mich vermisst haben. Da wird mir dann schnell klar: Ah, stimmt. Ich war ja ne Zeit lang weg (lacht). Innerhalb der Band fühlt es sich aber schon lange nicht mehr neu an. Das war du die erste Zeit so. Ich kam ziemlich schnell wieder rein.

Im letzten Jahr gings für dich dann das erste Mal wieder unter dem Killswitch-Banner ins Studio.

Ja, das war ein großer Moment für mich. Ich denke, die ersten Konzerte mit den Jungs waren aber noch herausfordernder. Ich meine, das war ja eine Punkt-Situation. Ich hatte keine Ahnung, wie es auf der Bühne funktioniert. Und ich hatte auch keine Ahnung, wie die Leute vor der Bühne reagieren. Glücklicherweise lief aber alles reibungslos. Die Produktion des neuen Albums war natürlich auch eine aufregende Sache für mich, zumal ich schon während der Songwritingphase durch die Hölle ging.

Was war los?

Ich hatte mir vorgenommen die ehrlichsten und authentischsten Texte meines Lebens zu schreiben. Dafür musste ich mich allerdings ganz schön oft vor den Spiegel stellen, wenn du weißt was ich meine.

So schlimm?

Zeitweise schon. Ich habe mich und meine Vergangenheit hinterfragt. Immer und immer wieder. Und ich habe versucht, das Ganze mit dem Jesse Leach im Hier und Jetzt zu vergleichen. Da klafften teilweise ganz schön große Lücken. Ich habe mich nicht nur einmal in die Ecke verkrochen und mir die Hände vors Gesicht gehalten. Es war sehr schmerzhaft, deprimierend und erschreckend. Aber dieser Prozess hat mich auch stärker gemacht, und letztlich Texte hervorgebracht, auf die ich unheimlich stolz bin. Bis auf zwei Titel drehen sich alle Texte der neuen Platte um meinen ganz persönlichen Kampf. Das sagt, denke ich, schon viel über den Stellenwert dieses Albums aus. Für mich ist es definitiv das am engsten mit meinem inneren Ich verbundene Album, an dem ich je mitgewirkt habe.

"Ich musste diesen Weg gehen"

Adam Dutkiewicz (Gitarre, Produzent) sprach neulich von den intensivsten Gesangsaufnahmen seiner Karriere.

Ja, das glaube ich ihm. Wir saßen teilweise nächtelang zusammen und haben über Gott und die Welt geredet. Wir haben alles auf den Tisch gelegt. Es ging um mich, um ihn, um uns, um Politik, Religion und all den gesellschaftlichen Scheiß, der uns heutzutage vor die Füße geworfen wird. Das waren sehr intensive und auch inspirierende Gespräche.

Inwieweit wehrt man sich als Künstler beim Schreiben neuer Songs gegen das Öffnen alter Wunden? Hat man da auch mit Blockaden zu kämpfen?

Ehrlich gesagt, fällt mir das Schreiben über Dinge, die mich belasten, wesentlich leichter. Wenn ich mein eigenes Ich hinterfrage und mich mit meiner dunklen Seite beschäftige, sprudelt es förmlich aus mir heraus. Als ich anfing, über die neue Platte nachzudenken, hatte ich eine Blockade. Sicher, es gab viele allgemeine Themen, die mir auf den Sack gingen und über die ich hätte schreiben können. Aber ich fühlte mich irgendwie leer. Da war nichts.

Ich habe mich dann ein paar Wochen in die Wildnis zurückgezogen, um mir darüber klar zu werden, was mich wirklich bewegt. Und dann kam alles raus. Plötzlich war alles da. Diese Phase war unheimlich wichtig für mich, auch wenn sie bisweilen sehr schmerzvoll war. Auf diesem Album präsentiere ich mich wie ein offenes Buch. Ich bin noch nie in meinem Leben so ehrlich zu mir selbst gewesen. Aber als Künstler muss man irgendwann diesen Weg gehen. Man muss auch mal das Licht ausschalten können. Die Angst davor darf einen nicht bremsen; denn wenn man da wieder rauskommt, ist alles um einen herum heller als je zuvor. Man verwandelt etwas Negatives in etwas Positives. Das ist kein leichter Prozess. Aber es lohnt sich.

Deine bis dato größte künstlerische Herausforderung?

Auf jeden Fall.

Mit Blockaden und tiefer gehenden negativen Emotionen kennst du dich ja aus. Howard Jones (Ex-Sänger) hat letztens in einem Interview verraten, dass er zeitweise sogar Selbstmordgedanken hatte. Ging es dir in deinen schlimmsten Depressionsphasen ähnlich?

Definitiv. Ich denke, das ist der Killswitch-Fluch (lacht). Im Ernst: Ich habe mir zwar nie eine Knarre an den Kopf gehalten. Aber es gab Zeiten, da war ich ganz unten, habe Drogen und Alkohol konsumiert wie andere Leute normales Essen. Das war schon ziemlich heftig. Aber weißt du was? Ich bereue nichts. Ich musste diesen Weg gehen. Ich musste dem Ende ins Auge blicken, um der zu werden, der ich heute bin. Die neuen Texte sprechen dahingehend eine klare Sprache.

Es haben sich aber nicht nur die Texte verändert. Du singst mittlerweile auch in höheren Stimmlagen.

Ja, das war eine weitere Herausforderung für mich. Ich bin ja eigentlich ein Kind des Punkrocks. Drei oder vier Akkorde und ein schneller Beat: damit bin aufgewachsen. Ich stehe mittlerweile aber auch total auf schleppende Sounds. Auf diesem Album haben wir dahingehend viel ausprobiert. Es gibt viele ruhigere Passagen, in denen mein Stimmvolumen intensiver zur Geltung kommt. Ich wollte herausfinden, zu was meine Stimme in der Lage ist. Das hat viel Training gekostet. Aber ich finde, es hat sich ausgezahlt.

Den Song "Strength Of The Mind" habt ihr bereits live ausprobiert. Wie waren die Reaktionen?

Die Leute sind ausgeflippt. Ehrlich: Es war unglaublich. Vielleicht liegt es an der besonderen Atmosphäre des Songs. Vielleicht liegt's auch an dem einprägsamen Riff, das mich ein bisschen an alte Pantera-Sachen erinnert. Ich habe keine Ahnung. Aber die Leute sind sofort mitgegangen. Wahnsinn.

Ihr zählt nun schon seit Jahren zu den Speerspitzen des Genres. Was hältst du eigentlich von euren deutschen Kollegen. Caliban, Callejon, Heaven Shall Burn: Klingelt da was?

Oh ja, ich bin im Bilde. Das ist GUTER Metal-Core.

Und wer macht schlechten Metal-Core?

(Lacht) Das werde ich dir nicht verraten. Ich bin zwar kein Kind von Traurigkeit. Aber es gibt da draußen Kollegen, die breiter und stärker sind als ich. Da will ich mich jetzt in die Nesseln setzen.

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