laut.de-Kritik

Große Songs, größere Angriffsfläche. Als sei kein Tag vergangen.

Review von

Mädchenschwarm Angelo ist nicht mehr der kleine, süße Junge von früher. Extremsportler Joey macht keine Flickflacks mehr. Und Klosterbruder Paddy steht inzwischen nur noch solo auf der Bühne. Trotzdem ist das Kelly Family-Comeback im Jahre 2017 mehr als eine reine Angelegenheit der Marke "die brauchen halt wieder Geld".

Warum auch? Angelo Kelly füllt in seiner irischen Heimat die großen Hallen längst im Alleingang, während Kollege Joey zwischen Wok-WM und Ironman-Triathlon in den letzten Jahren so ziemlich jede zu gewinnende Extremsport-Medaille eingesackt hat.

Das wirklich Bemerkenswerte an der erneuten Präsenz der Großfamilie ist dabei die Tatsache, dass die sieben verbliebenen Geschwister aus ihrer Wiedervereinigung gar keinen allzu großen Elefanten zu machen versuchen. Die heute zwar nicht länger verschmähte, dafür aber weiterhin belächelte Familieninstitution möchte (im Gegensatz zu einzelnen Geschwistern) gar nicht mehr sein als das, was sie in Wirklichkeit zu geben haben: Eine Reminiszenz an das hiesige Lebensgefühl der 90er Jahre – der Familienchor mit Mitsingpotenzial.

So überrascht es nicht, dass die aufbereiteten, gut zwanzig Jahre alten Folk-Pop-Hits à la "First Time" und "An Angel" auch live zu großen Teilen von einer Backing-Band ausgestaltet werden. Im Gegensatz zur Mogelpackung-Besetzung des im März erschienen Studioalbums stehen die Kellys hier voll und ganz zu ihren Begleitmusikern, greifen größtenteils selbst nur zu Akustikgitarre und Percussion.

Immerhin: Das im Rahmen der zahlreichen TV-Promotionauftritte präsentierte Playback-Solo in "Nanana" spielt Joey mittlerweile selbst, zu Stücken wie "Please Don't Go" lässt man sich hingegen etwas Feinfühliges von den Begleitern kredenzen.

Wirklich gewagt mag das Live-Comeback nicht daher kommen. Was aber nichtsdestoweniger von einer gewissen Portion Mut zeugt, ist die allgegenwärtige, bereitwillig gebotene Angriffsfläche. Die versucht coolen Jazz-Touch-Zeiten von "Homerun" sind vorbei, stattdessen präsentiert sich beispielsweise John Kelly zu "Imagine" schon früh im übergroßen Korbhut, dazu gleiten grünweiße Ballonwürmer durch die überwiegend weiblich zusammengesetzte Menge. Friede, Freude, Eierkuchen.

Gegen Ende des ersten Sets finden sich die Geschwister samt Halbbruder Paul Kelly (eine optische erschreckende Reinkarnation des 2002 verstorbenen Familienvaters) im Halbkreis ein und lassen den Pop-Rock der 90er fürs Erste hinter sich. Stattdessen gibts Gospel, Chansons und irische Folklore aus Straßenmusikerzeiten. Und ehe man sich versieht, tänzeln da plötzlich sieben Mittvierziger, teils in bunte Karogewändern gehüllt, mit Pauke, Akkordeon und Drehleier in der Hand über die Bühne der Dortmunder Westfalenhalle. Das muss man erst mal machen.

Wenn wir also im Jahr 2017 die Politik eines Christian Lindner scheiße finden, ihn aber gleichzeitig für seine Vision und seine Straightness bewundern können, warum sollten wir dieses zweifache Maß nicht auch der Kelly Family zugutekommen lassen? Schließlich ist "We Got Love Live" über weite Strecken nichts anderes als ein einziges, teils von schwer verdaulicher Dauerfröhlichkeit getragenes Hippie-Fest, das in erster Linie unterhalten soll – und zwar auf brutal ehrliche Art und Weise.

Entsprechend schade ist es um die für heutige Verhältnisse mittelprächtige Produktion, in deren verwaschener Sechs-Gitarren-sieben-Stimmen-Mixtur insbesondere auf dem CD-Release immer wieder Nuancen verloren gehen. Sicherlich lebt ein Kelly-Konzert von lautstarker Publikumsinteraktion. Wenn sich zum eifrigen Mitkreischen dann aber noch teils arhythmisches Klatschen gesellt, sollte einen das die Abmischung aber durchaus noch einmal überdenken lassen. Hier wäre definitiv mehr drin gewesen.

Ihr vier Jahrzehnte umspannendes Repertoire macht die Kelly Family damit vielleicht nicht zu einer Ausnahmeerscheinung der Musikgeschichte. Die Halbwertszeit ihrer Songs übersteigt die eines Großteils der heutigen Popmusik dafür aber deutlich. Das zeigt zumindest der Umstand, dass nach dreizehn Kelly-freien Jahren 45.000 Verrückte an drei Tagen in die Westfalenhalle strömen und aus dem Nichts das gesamte Set mitschmettern. Als sei kein Tag vergangen.

Trackliste

  1. 1. I Can't Stop The Love
  2. 2. Why Why Why
  3. 3. First Time
  4. 4. Imagine
  5. 5. Because It's Love
  6. 6. Come Back To Me
  7. 7. Red Shoes
  8. 8. No Lies
  9. 9. An Angel
  10. 10. Loch Lomond
  11. 11. When I Was In Town
  12. 12. Echo La Ronda
  13. 13. Une famille c'est une chanson
  14. 14. Swing Low
  15. 15. When The Boys Come Into Town
  16. 16. Nanana
  17. 17. Keep On Singing
  18. 18. Fathers Nose
  19. 19. Please Don't Go
  20. 20. Drum Solo
  21. 21. Fell In Love With An Alien
  22. 22. I Can't Help Myself
  23. 23. The Wolf
  24. 24. Cover The Road
  25. 25. We Got Love
  26. 26. Only Our Rivers Run Free
  27. 27. Dan O'Feefes (Irish Jig)
  28. 28. Wearing Of The Green
  29. 29. Who'll Come With Me (David's Song)
  30. 30. Good Neighbor
  31. 31. Take My Hand
  32. 32. Brothers And Sisters

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