20. Juli 2017

"Ich musste raus aus meiner Musikblase"

Interview geführt von

Von seinem Freund Udo Lindenberg bekam er die Bezeichnung "Goldkehlchen" verpasst und auch die deutsche Musiklandschaft ist Oerding mehr als gewogen. Nach den letzten beiden mit Gold ausgezeichneten Alben "Für immer ab jetzt" (2013) und "Alles Brennt" (2015) sowie erfolgreichen Tourneen machte sich der Wahl-Hamburger erstmal auf Reisen.

Beim Backpacken kam der 35-Jährige auf neue, frische Gedanken, die schließlich zu seinem fünften Studioalbum "Kreise" führten. Wir sprachen mit Oerding über sein neues Album, den Status Quo der deutschen Popmusik, seine Kollaboration mit Samy Deluxe, seine Bewunderung für Udo Lindenberg und warum er von Tinder nicht viel hält.

Wie wichtig ist dir das Reisen?

Ich glaube, dass es immer wichtig ist zu reisen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich meine Geschichten grundsätzlich daraus beziehe, dass ich unterwegs bin, andere Menschen treffe und nicht zuhause rumsitze. Sonst hätte ich alles wahrscheinlich schon in drei Songs erzählt. Aber bei diesem Album bin ich noch mal weiter weg als sonst, raus aus meiner kleinen Musikblase. Ich habe bewusst alles zuhause gelassen, auch die Gitarre, und gar nicht groß drüber nachgedacht, ob ich wieder mal ein Album machen muss. Dann passierte das nach ein paar Wochen von selbst – ich hatte dieses Jucken in den Fingern, ein paar schöne Sachen erlebt und dachte, dass ich die festhalten muss.

Während der Reise hast du aber nicht geschrieben?

Die ersten vier Wochen nicht, danach fing ich aber an, die Dinger festzuhalten, dass ich wenn ich nach Hause kam die Grundbausätze hatte, über die ich dann gerne schreiben wollte. Das wurden dann Songs wie "Unser Himmel ist der selbe" oder "Freier Fall", die sind in Australien entstanden.

Fährst du auch nach Tourneen regelmäßig weg, um runterzukommen?

Nee, eigentlich mache ich das zu selten. Ich habe das Gefühl, ich müsste das öfters machen. Ich fahre eher mal so zwei, drei Tage in die Nordsee. Ich bin aber sehr schlecht darin, einen Urlaub zu planen und mal zwei, drei Wochen komplett rauszugehen. Deshalb passiert das nur alle drei Jahre. Weil immer irgendwas ist. Ich packe mir ja auch alle Zeiten immer so voll, dass ich gar nicht lang weg kann. Zudem habe ich oft das Gefühl, dass ich das gar nicht brauche.

Du warst backpacken, richtig?

Genau, ich habe das nachgeholt, was ich nach der Schulzeit verpasst habe. Es war auch ungewohnt, der Älteste zu sein unter all den Leuten, die nach ihrer Schulzeit "Work and travel" machen, aber es war auch eine lustige Erfahrung, alleine unterwegs zu sein. Sonst hast man ja immer Menschen um einen rum, aber auf Reisen muss man neue Seiten an sich erarbeiten und entdecken.

Wann ging es mit den Arbeiten für "Kreise" los, wann hast du das erste Wort oder den ersten Ton geschrieben?

Ich glaube sogar, dass ich relativ zügig nach der Veröffentlichung von "Alles Brennt" im Januar 2015, Dinge, die da durchgefallen sind, mit in den neuen Prozess genommen. Im Grunde genommen habe ich immer geschrieben, immer festgehalten. Ich bin keiner, der sich hinsetzt und sagt, jetzt nehme ich mir vierWochen, um ein Album zu schreiben. Das passiert über zwei, zweieinhalb Jahre, dass ich immer wieder schreibe, verwerfe, neu anfange. Ich singe auch zwischendurch immer in mein Telefon und sammle das. Zwischendurch kommt dann auch so eine Phase, in der ich dann alles konkret mache: Was ist wichtig, was will ich sagen? Habe ich überhaupt etwas zu sagen?

"Ich bin einer der größten Samy-Deluxe-Fans überhaupt“

Wie viel Output hast du pro Platte?

Für die aktuelle Platte habe ich bestimmt 23, 24 Songs geschrieben – die auch wirklich fertig geschrieben sind. Umgesetzt, aktiv produziert habe ich 16 Songs. 14 sind auf die Platte gekommen, einer wurde als B-Seite verwendet. Der andere liegt so rum, mal schauen was mit ihm passiert. Aber es ist immer Material übrig. Ich glaube, man muss 100 Prozent überzeugt sein, dass es die richtige Zeit ist, das rauszubringen. Es kann auch sein, dass ein Song für sechs Jahren geschrieben wurde, aber es erst jetzt die richtige Zeit ist, diesen zu veröffentlichen.

Wie sieht die Studioarbeit bei dir aus?

Ich fahre immer in den Wald – nördlich von Kiel hat sich mein Produzent ein gläsernes Studio mitten in den Wald gebaut. Ich komme mit meinen rudimentären Ideen an, die ich abgespeckt schon mal aufnehme – ich spiele Gitarren ein, Klavier und überlege mir auch, wohin die Reise beatmäßig gehen kann. Dann arbeiten wir an den Sachen, versuchen, sie für die Vorproduktion schon so gut wie möglich einzuspielen. Das machen wir zu zweit, spielen alle Instrumente selbst. Die ganze Feinarbeit, das ist das, was sich dann hinzieht. Man geht nochmal ins Studio mit der Band, versucht die Grundgerüste mit den Jungs nochmal einzuspielen, wenn er Song danach verlangt. Wenn der Song ein live klingen soll, hole ich die Jungs hinzu. Wenn ich aber bewusst etwas synthetisch machen will, mit einem programmierten Beat oder so, dann reicht das, wenn wir das am Rechner in einem kleinen Studio machen.

Wann weißt du, wann das Album fertig ist – und gibst du es leicht aus der Hand, wenn es soweit ist?

Das ist eine schöne Frage. Ich bin immer schon sehr beruhigt, wenn ich merke, ich habe sechs starke Songs auf der Platte. Wenn ich merke, die sind fertig, die funktionieren, dann kommt der Kampf um die sechs, sieben nächsten Plätze auf dem Album. Das zieht sich ein wenig hin, weil sich die Songs ja auch gegenseitig ein wenig kannibalisieren. Ein Song löst den anderen vielleicht ab, weil er eventuell noch etwas präziser auf den Punkt ist. Dieses Abgeben, das kann ich Gottseidank sehr, sehr gut. Ich habe viele Schwächen, aber eine Stärke von mir ist, Entscheidungen zu treffen. Zu sagen, so, der ist fertig, raus damit. Bei mir ist es nie vorgekommen, dass ich zu lange rumeiere und fünf Jahre an einem Song schreibe. Man kann es auch kaputtproduzieren, kaputtschreiben, verschlimmbessern vor allen Dingen (lacht). Wenn man von einem Song, der eigentlich gut ist, zwanzig Versionen macht, ist das kontraproduktiv. Als das Album rauskam, war ich erleichtert und froh. Dann ist es nämlich offiziell, dass man nichts mehr daran machen kann und das ist eine schöne Sache.

Ab wann kannst du es dir wieder anhören? Kannst du dir eigene Alben anhören?

Kurz danach kommt man kaum drum rum. Ich höre nicht gezielt in die Platte rein, aber man ist ja auf Promoreise, spielt die ersten Livekonzerte und muss sich wieder mit dem Zeug auseinandersetzen. Aber es gibt schon eine Phase des Overkills, wo man sagt, so jetzt habe ich den Song 30.000 mal gehört, jetzt würd ich gern mal eine neue Version für die Live-Arrangements machen.

Hast du die Live-Arrangements schon im Kopf, wenn du schreibst? Ab wann machst du dir darüber Gedanken?

Das ist auch ein übergehender Prozess. Manchmal sitz ich schon beim Komponieren da und denke, wäre geil, wenn wir das live so und so machen. Ich mache alles, was ich mache, auch immer auf die Live-Essenz hin. Für mich ist das die Essenz des Berufes. Manchmal verliere ich mich da auch drin. Vieles entsteht dann auch, wenn die Platte draussen ist und wir merken, dass wir das gar nicht so umsetzen können, wie wir das im Studio gemacht haben. Da muss man schon ein paar Sachen umbauen, weil ich nicht will, dass ein Band mitläuft. Live soll anders klingen und im besten Fall setzt man noch einen drauf wenn's um die Energie geht.

Man hört deinen Studioalben schon an, dass sie Studioalben sind. Live-Sound scheinst du keinen anzustreben auf Platte.

Genau. Das habe ich auch immer so gesehen: Ein Studioalbum ist ein Studioalbum, wenn ich ein Live-Album aufnehmen will, schneide ich ein Konzert mit. Trotzdem passiert das auch mal, dass ich Songs mit drei, vier Leuten einspiele und wir danach nichts mehr machen. „Die Zeit nach der Zeit danach“ ist da so ein Beispiel. Sowas passiert auch.

Für den Song "Weiße Tauben" hast du mit Samy Deluxe zusammengearbeitet.

Ich bin sowieso immer einer der größten Samy-Deluxe-Fans überhaupt. Wir sind uns immer wieder mal über den Weg gelaufen, haben für andere Künstler auch ein gemeinsames Feature gemacht. Wir mögen uns beide, wir mochten auch, das, was der andere macht. Wir haben mal geschaut, ob wir zusammen was schreiben können – und das hat wunderbar funktioniert. Ich bin zu Samy hingegangen und dann sprudelte es aus uns beiden nur so raus. "Weiße Tauben" ist ein sehr wichtiger Song auf dem Album. Ich wollte gezielt Samy auf den Song haben, weil es ein sehr politischer Song ist, das ist für mich ja auch Neuland. Samy hat für mich das immer sehr, sehr gut hinbekommen: Dass er seine Meinung äußert und Haltung zeigt, ohne mit erhobenem Zeigefinger um die Ecke zu kommen.

„Ich würde mir manchmal etwas mehr Vielfalt in der Popmusik wünschen"

Stichwort Politik: Findest du, dass es für Singer/Songwriter nötig wäre, mehr Stellung zu beziehen?

Ja, das finde ich. Ich merke aber auch, dass es für jeden Künstler ein Prozess ist. Ich musste mich da auch reinfuchsen. Früher wollte ich das lieber lassen, mit meiner politische und religiöse Meinung eher hinter dem Berg halten. Das hat sich bei mir aber komplett geändert. Auch die Kontakte mit Menschen aus der Szene haben mich dazu getrieben, das zu machen. Ich spüre eine gewisse Verantwortung als Künstler, finde aber auch, dass das jeder für sich entscheiden muss. Ich habe für mich meine eigene Verantwortung erkannt.

Ich habe Anfang dieses Jahres mit deinem Freund Udo Lindenberg gesprochen, der meinte, es wäre total wichtig und er würde sich gerade in die Schlagerrichtung wünschen, dass da was passiert.

Udo ist für mich sowieso ein großes Vorbild, auch was das anbelangt. Udo macht das natürlich sehr plakativ, er spielt in ja auch in Riesenstadien, findet es wichtig, Haltung zu zeigen. Gerade bei ihm kommt da oft Gegenwind. Du erreichst als Künstler in seiner Dimension ja alle Gruppierungen der Gesellschaft. Ja, wenn man mich nach meiner persönlichen Meinung fragt: Wir Künstler haben eine Verantwortung. Und wenn wir eine Reichweite hat, dann sollte man die – sensibel, aber gezielt – auch nutzen. Man sollte zum Nachdenken anregen. Ob das Schlager oder Pop ist: Da gibt es zur Zeit ganz, ganz viel Bedarf.

Apropos Udo: Du warst auf seiner Tour kürzlich ja bei einigen Shows dabei. Was schätzt du an ihm besonders?

Udo ist jemand, der ein sehr großes Herz hat. Er ist sehr loyal – und er hat die in der Musikbranche sehr seltene Eigenschaft, dass er seinen Erfolg weiter gibt. Er gibt Leuten eine Chance, ist immer wieder neugierig auf neue Künstler, ist total offen. Udo steht seit vielem Jahrzehnten und hat immer noch diese Leidenschaft in den Augen, freut sich wie ein kleines Kind. Und er hat diese Haltung, die er mutig in großen Arenen auch kundtut.

Der deutschen Popmusik wird derzeit ja oft vorgeworfen, allzu generisch daher zu kommen. Alles ist sehr schlagerhaft, alles geht um "Carpe diem", ist belanglos.

Da bin ich auch wieder bei dir. Ich bekomme schon mit, dass die Themenvielfalt derzeit sehr eingeschränkt ist und alle sehr böhmermannmäßig über die drei, vier großen Themen singen. Ich würde mir da auch manchmal etwas mehr Vielfalt wünschen. Aber vielen jungen Künstler, die zur Zeit los legen, sind da auch die Hände gebunden. Es gibt da ein paar Tools, die für sie besonders wichtig sind – Radio zum Beispiel. Im Radio werden schwierige Themen in der Regel vermieden. Da muss man sich entscheiden: Möchte man sich abhängig machen von diesem großen Medium? Oder geht man einen anderen Weg? Da habe ich das große Glück sagen zu können, dass ich die ersten Jahre ja mehr oder weniger unter dem Radar lief mit meinen ersten Alben und mir live mein Fundament aufbauen konnte. Umso schöner, wenn sich vom Album jetzt mal ein Song herauskristallisiert, der auch im Radio laufen kann.

Ein Song auf deiner Platte heißt "Love Me Tinder".

Das ist meine kleine Gesellschaftskritik. (lacht) Ich komme aus einer Generation, in der viele auf der Suche nach der großen Liebe sind. Durch diese digitalen Tools wie Tinder fällt schon auf, dass das ein neues Großstädter-Verhalten ist. Das ist natürlich auch ein bisschen augenzwinkernd: Alle sind auf der Suche nach etwas Großem, kommen dann aber enttäuscht wieder. Ich bin mir auch nicht sicher, ob diese Filtermöglichkeiten und dieses Effektive die Sache wirklich besser oder schneller machen. Du kannst schneller jemanden kennenlernen und deinen One-Night-Stand haben, aber ich weiß nicht, ob das wirklich der richtige Weg ist.

Ich habe das nie ausprobiert um ehrlich zu sein.

Ja, ich auch nicht. Ist natürlich auch schwer, wenn man etwas bekannter ist, dann wird man sofort als Fake-Profil gelöscht. Aber ich bekomme das auf Parties ja mit. Ich bin halt jemand, der gerne rausgeht und Menschen kennenlernt. Vielleicht bin ich da romantisch.

Hast du eigentlich unsere Kritik zu deiner letzten Platte gelesen? Da schrieb mein Kollege Kai Butterweck, dass du nicht entscheiden könntest, ob du Lagerfeuer-Poet oder Pop-Entertainer sein willst.

Ich habe das ehrlich gesagt nicht gelesen, das kommt mir nicht bekannt vor. Ich weiß ja manchmal selbst nicht, was ich genau bin – ich bin ja eine Mischung aus beidem. Ich kann natürlich auch introvertierte, ruhige Songs schreiben und alle mit Gitarre auf dem Hocker sitzen, aber ich flitze auch gerne über die großen Bühnen des Landes und unterhalte die Leute. Das war immer schon mein Naturell, das sind meine Facetten. Ich glaube aber dennoch, dass ich auf einem guten Weg bin, für mich ein Profil zu erarbeiten. Die Zeit, die ich schon da bin spricht ja auch dafür, dass ich ein paar Sachen richtig gemacht habe.

Wenn du deinen Backkatalog betrachtest: Gibt es einen speziellen Song, der dich mit Genugtuung erfüllt?

Ja, ich finde den Song "Reparieren" vom zweiten Album "Boxer" gut, die ein wenig unter dem Radar lief. Der befasste sich zum ersten Mal mit anderen Sachen, nicht nur mit dem, was gerade bei mir läuft. Da fing das Beobachten, das Storytelling jenseits vom Autobiographischen für mich an.

Danke fürs Gespräch.

Ich sage danke – und richte deinem Kollegen, die die Rezension geschrieben hat, liebe Grüße von mir aus! [Anm. der Autors: Grüße an Kai Butterweck von Johannes Oerding, M.B.]

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