laut.de-Kritik

Auf den Spuren von Samba und Miles Davis.

Review von

Multinationale Herkunftsgeschichten gehören gerade im 21. Jahrhundert zur DNA des R'n'B. Die biographische Suche nach den eigenen Wurzeln befruchtet die Musik. "Dank meines Vaters, einem Afro-Brasilianer, und meiner Mutter, einer Norwegerin, gab es eine Menge unterschiedlicher Musik zuhause", erinnert sich Charlotte Dos Santos in unserem Gespräch an ihre Kindheit. Nicht alles, aber manches davon hört man ihrem Album "Morfo" an: "Als ich aufwuchs, hatte ich Samba um mich herum, und die Música Popular Brasileira. Meine Mama war Fan von marokkanischer Musik, von Flamenco und Musik aus dem Mittelmeerraum mit arabischen Einflüssen. Es gibt so viel Fusion überall."

Die studierte Jazzkomponistin lässt offen, ob "Morfo" als ihr Debüt zu betrachten ist, wie ihre französische Plattenfirma die Platte nennt. Tatsächlich erschien 2017 eine CD/LP namens "Cleo" auf einem US-Mini-Label. Bereits auf dieser Platte erinnerte sie mich massiv an Anita Baker, jetzt an ein paar Stellen wieder. "Sie ist großartig, ich liebe sie. Aber ich hab noch nie gehört, dass man mich mit ihr vergleichen kann. Das ist ja unfassbar."

Bei den fetten 80ies-Baker-Bassdrums des 'ersten' Debüts ist Charlotte zwar in ihrer zweiten Produktion "Morfo" nur selten geblieben, so in "Angel In Disguise". Aber ihre Stimmfarbe, Phrasierung, manche Harmonien - wie in "Cupid's Bow", "Bye" oder besagtem "Angel In Disguise" - und die durchweg warmen Stimmungen lösen immer noch die Assoziation mit "Rapture" aus, jener Soul- und R'n'B-Blaupause der zweiten Achtziger-Hälfte.

Bezug auf eine andere berühmte Baker nimmt Charlotte in "Ghost In The Shell": "I can't dance like Josephine", der Song weckt dank etlicher berühmter Song-Zeilen Erinnerungen an die große Zeit des Variété-Films und des Easy Listening-Jazz, obwohl ihn eine gewissee Discopop-Ästhetik ausmacht. Vielschichtiger zeigt sich zum Beispiel "Just Sayin", ein brodelnd hartes, perkussives Stück mit leichtfüßiger und hymnischer Hook.

"Just Sayin" steigert sich fortlaufend und nutzt dabei auch brasilianische Unterhaltungsmusik. Ein Cello badet in einem Meer aus E-Piano-Layers, eine P-Funk-Basslinie wetteifert mit Geigen-Pizzicato. "Ich schreibe und erzeuge das alles an meinem E-Piano", erläutert Dos Santos. "Als Produzentin nutze ich auch Software, Midi zum Beispiel. Ich habe Programme, die Streicher, Flöten und andere Blechbläser imitieren können und all die Orchester-Bestandteile, die ich in der Musik drin haben möchte. Eigentlich kann ich vortäuschen, jedes Instrument zu spielen. Aber ich benutze mein Keyboard."

Besagtes "Just Sayin" vereint die beiden großen Strömungen der Platte, die der Vergangenheit entsatmmen: "Morfo" verkörpert, was der Ethnologe Claude Lévi-Strauss in einem fundamentalen Buch "Traurige Tropen" nannte. Auch Dos Santos unternahm eine große Reise: "Als ich 22 war, beschäftigten mich mein Erbe, meine Vorfahren, der Struggle, durch den ich so gegangen war, und ich lernte Portugiesisch, flog nach Brasilien, lernte eine Menge. Traf meine Familie väterlicherseits und versuchte mit meinen Wurzeln zu 're-connecten'."

Zartem Akustik-Samba-Soul mit entsprechendem Trommelaufgebot in "Filha Do Sol" (inspiriert von Edu Lobo, "O Açoite Bateu", 1968) wie auch in der sphärisch-elegischen Form ohne Trommeln (in der emphatischen "Aria 4 Arien") stehen wabbelnde Electrofunk-Bounces gegenüber: "Bye", oder "The Player And The Fool". Hier zitiert sie dann auch mal ihre große Ikone Miles Davis mit der Textwendung "Bitches Brew". Denn gleichzeitig fußt die CD auf Electro-Funk und Boogie-R'n'B der frühen 80er und der Sorte, wie ihn der kürzlich verstorbene James Mtume anrichtete.

Keine Neuerfindung des Rads zwar, aber dennoch beachtlich kommt der Vibe der Platte. "Morfo" springt immer wieder scheinbar in die Easy Listening-Schiene, nimmt aber in etlichen Songs unerwartete Kurven. So entstehen komplexe und verschachtelte Strukturen in einem simplen Rahmen. Zeitgemäß und im Amber Mark-Stil schielt "Away From You" eher auf den Massenmarkt.

Die Texte schildern immer wieder die Kommunikation in der heutigen Alltagswelt, in der sich sich alles ums "cell phone", "iPhone", Apps oder Chat-Dienste dreht. Darüber hinaus kehrt die 32-Jährige viel Inneres nach außen, dank der mitteilsamen Stimme und ihren geschmeidigen dunkel/hell- und tief/hoch-Sprüngen. Die Musik entsteht jeweils aus einem Guss in Kombination mit ihren Vocals, davon könnten sich andere (z.B. Jorja Smith) eine Scheibe abschneiden.

Der Tatsache, dass Dos Santos eine Absolventin des Berklee College ist, macht "Morfo" durchaus alle Ehre. Die Scheibe transportiert die Jazz-Durchmessung und -Modernisierung des Instituts, wo Professorin Esperanza Spalding durch die Flure lief, während Charlotte noch studierte, und Robert Glasper doziert. "Oder gar größere Legenden wie Pat Metheny: Da tummeln sich immer solch großartige Musiker, wenn du dort herum läufst oder ein Master-Seminar belegst. Das war eine ganz besondere Umgebung. Ich startete dort, als ich schon 'älter' war, 23, und ich wusste, was ich dort wollte, und war bereits reifer als andere Studierende, und dabei hab ich so viel gelernt." Das hört man dem atmosphärisch dichten Album auch an.

Trackliste

  1. 1. Hello Hello
  2. 2. The Player And The Fool
  3. 3. Patience
  4. 4. Away From You
  5. 5. Cupid's Bow
  6. 6. Interlude
  7. 7. Angel In Disguise
  8. 8. Filha Do Sol
  9. 9. Ghost In The Shell
  10. 10. Bye
  11. 11. Crooked House
  12. 12. Just Sayin
  13. 13. Aria 4 Arien

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1 Kommentar mit 6 Antworten

    • Vor einem Jahr

      Tooli, aldens! :-)

    • Vor einem Jahr

      GLEEPi, Allah - ich grüße Dich!!!

    • Vor einem Jahr

      wb, TOOLi! Falls es nur ein kurzes Intermezzo werden sollte trotzdem schön, dass Du mal rein schaust und uns nicht ganz so allein mit den Wahnsinnigen lässt. :D

    • Vor einem Jahr

      Merci beacoup :^*
      Mir ist tatsächlich zum ersten Mal seit Ewigkeiten richtig langweilig, weil Coroner und ich kann weder viel lesen, noch Musik machen, Videospiele spielen, und Sport geht schon mal gar nicht. Da passt mir das hier gerade wirklich sehr gut in den Kram. Und auch, wenn ich hier, seit meiner Verabschiedung wesentlich seltener reingeschaut habe, würde ich lügen, wenn ich behauptete, dass ich den Zirkus hier nicht doch immer wieder auf dem Schirm gehabt habe :D
      Und in letzter Zeit ging es ja auch mit den Wahnsinnigen hier, iSv, sie dominieren wieder mehr. Es sind die Normies, die mir auf den Sack gehen, nicht die Freaks ;)

    • Vor einem Jahr

      Aus unserer Sicht sind die Normies wohl die Freaks, aber ansonsten bin ich voll bei dir. Wenn Coroner und nicht Mal bissl Musik machen oder zocken klar geht, scheint es sich ordentlich erwischt zu haben. Wünsche einen weiterhin milden Verlauf und das völlige Ausbleiben aller Langzeitfolgen!