laut.de-Kritik

Wegweisende Experimente aus den 70ern.

Review von

Mute-Chef Daniel Miller versuchte sich ja bekanntlich Ende der 70er Jahre als Musiker, bevor er mit Depeche Mode einen Riesenfisch an Land zog und fortan in der Rolle des Label-Chefs aufging. Aus dieser Zeit stammt wohl auch seine Vorliebe für allerlei schräge Soundexperimente, die schon damals gerne mit dem griffigen Label Industrial versehen wurden.

Ob Throbbing Gristle oder Whitehouse, Miller spürt seit Jahren längst vergessenen oder vergriffenen Perlen der Noise-Revolution in den Archiven nach und macht sie nach und nach wieder verfügbar. "Methodology - The Attic Tapes" steht ebenfalls in dieser Tradition und nimmt den Zuhörer mit in das Sheffield der 70er Jahre, wo Cabaret Voltaire mit Soundexperimenten begannen, die sich später als wegweisend herausstellen sollten.

Tief ist Miller hinab gestiegen in die Archive und hat reichlich alte Bänder ans Tageslicht gefördert, die den Platz von nicht weniger als drei CDs einnehmen. Damit ist die Frühphase von Cabaret Voltaire, bevor diese 1979 von Rough Trade unter Vertrag genommen wurden, zum ersten Mal umfassend dokumentiert. Vier Jahre lang, von 1974 bis 1978 schnibbelten Richard H. Kirk, Stephen Mallinder und Chris Watson in einem modrigen Keller an Tonbändern herum, klebten sie zu neuen Loops zusammen und überlagerten verschiedene Soundquellen, so dass sie sich zu ausgewachsenen Musikcollagen verbanden, wie einst schon bei Pierre Schaefer und Pierre Henry, den visionären Pionieren der Musique Concrète im Frankreich der 60er Jahre. Auf dieses Grundgerüst aus dröhnenden Noisesounds und kuriosen Samples packten Cabaret Voltaire allerlei improvisierte Instrumentalparts drauf, die sich unheilschwanger aus den Boxen wälzen.

Gerade die ersten beiden CDs, die die Jahre '74-'76 abdecken, bestechen durch ihre teilweise sehr rohe, ungezügelte Energie, die sich in Titeln wie "Fascist Police State" oder "Counter Reaction" schon andeutet. Aber auch bereits auf diesen frühen Aufnahmen unterstreichen Cabaret Voltaire ihren Hang zu minimalistischen Soundkonstruktionen, die sich auch nicht scheuen, ab und an erste vorsichtige Schritte in Richtung Dancefloor zu tun. "Capsules" zum Beispiel bezieht einen Großteil seiner Faszination aus der monotonen Bassline, die den Track vorsichtig anschiebt.

Dabei klingen die Klangcollagen noch sehr organisch, selbst wenn Instrumente wie Gitarre oder Klarinette mit verfremdenden Effekten belegt werden. Die Musik hat noch etwas Handgemachtes. Allerdings deutet sich auch die Entwicklung hin zu kälteren, überwiegend synthetischen, fast möchte man sagen unpersönlichen Sounds schon auf den ersten Aufnahmen an. "Makes Your Mouth Go Funny" mag zur Illustration dieser Entwicklung dienen.

Zur vollen Entfaltung ihres eigenen Stils kommen Cabaret Voltaire mit den Aufnahmen auf CD 3. Tracks wie "No Escape" oder die spätere Hitsingle "Nag Nag Nag", die jüngst auch in Remixen von Akufen sowie Tiga und Zyntherius auf Mute wieder erschienen ist, deuten ein grundlegend neues Musikverständnis an. Die Songs gewinnen an Struktur, die experimentelle Improvisation verliert an Einfluss, Cabaret Voltaire entdecken den Groove als tragendes Element ihrer Stücke. Damit sind die Zutaten beisammen, die Cabaret Voltaire Anfang der 80er Jahre zu einer der erfolgreichsten Indie-Bands aufsteigen ließ.

Der Leidenschaft für den Groove blieb Cabaret Voltaire-Mastermind Richard H. Kirk auch nach der Auflösung des Trios treu: in den späten 80ern kreierte er unter dem Pseudonym Sweet Exorcist den neuen 'Sound of Sheffield' maßgeblich mit, den Warp Records dann erfolgreich in die ganze Welt exportierte. "Methodology - The Attic Tapes" kommt das lobenswerte Verdienst zu, den Wurzeln dieser Entwicklung nach zu spüren und sie endlich einer interessierten Hörergemeinde zugänglich zu machen.

Trackliste

  1. 1. Exhaust
  2. 2. Synthi AKS Piece 1
  3. 3. Synthi AKS Piece 2
  4. 4. Jet Passing Over
  5. 5. Sad Synth
  6. 6. Treated Guitar
  7. 7. Treated Clarinet
  8. 8. Treated Drum Machine
  9. 9. The Possibility Of A Bum Trip
  10. 10. Space Patrol
  11. 11. Jack Stereo Unit
  12. 12. Magnet
  13. 13. Counter Reaction
  14. 14. Capsules Version
  15. 15. Makes Your Mouth Go Funny
  16. 16. Dream Sequence Number 3 (Short Version)
  17. 17. Reverse Piece One
  18. 18. Stolen From Spectra
  19. 19. She's Back (Part 1)
  20. 20. Jive
  21. 21. The Single
  22. 22. Speed Kills
  23. 23. Fascist Police State
  1. 1. Synthi AKS Piece 3
  2. 2. Data Processing Instructions
  3. 3. Fuse Mountain
  4. 4. Calling Moscow
  5. 5. Dream Sequence Number 2
  6. 6. The Attic Tapes
  7. 7. Treated Speech
  8. 8. Dream Sequence 3 (Long Version)
  9. 9. Henderson Reverse Piece 2
  10. 10. Bedtime Stories
  11. 11. Loves In Vein
  12. 12. Do The Mussolini (Headkick) They Kill Him Dub
  13. 13. She's Back Part 2
  1. 1. It's Not Music
  2. 2. Slo Change
  3. 3. Original Voice Of America
  4. 4. Heaven & Hell
  5. 5. Do The Mussolini (Headkick)
  6. 6. Here She Comes Now
  7. 7. Capsules
  8. 8. Oh Roger
  9. 9. Havoc
  10. 10. Talkover
  11. 11. No Escape
  12. 12. Photophobia
  13. 13. The Set Up
  14. 14. A Minute Is A Life Time
  15. 15. Baader Meinhof
  16. 16. Nag Nag Nag
  17. 17. It's About Now

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Cabaret Voltaire

Schon die beachtliche Dauer ihrer Karriere, die in den frühen 70ern, noch vor den Geburtswehen der Punk-Bewegung ihren Anfang nimmt und sich bis ins …

Noch keine Kommentare