laut.de-Kritik

Ein Meilenstein aus der Jagdhütte.

Review von

Leland Sutton verzieht sich für einige Monate in einen Hühnerstall, um Lebenskrise und Liebeskummer zu verarbeiten. Letztlich gelingt ihm das vielleicht nicht komplett, aber immerhin entsteht währenddessen ein Album, das ihn in die oberste Riege der amerikanischen Folk-Szene aufsteigen lässt.

Kommt einem dieser Plot aus Nickolas Butlers Roman "Shotgun Lovesongs" nicht irgendwie bekannt vor? Nur, dass Leland Sutton eigentlich Justin Vernon heißt und der Hühnerstall eine Jagdhütte im verschneiten Wisconsin war? Dass Butler sich für sein Buch bei der Entstehungsgeschichte von Bon Iver's Debütalbum "For Emma, Forever Ago" bediente, mag zwar einerseits daran liegen, dass Autor und Vernon beide aus dem Provinznest Eau Claire stammen und dieselbe Highschool besuchten. Andererseits steht das auch symbolisch für die Strahlkraft, die die Erzählung des bärtigen Einsiedlers damals diesem Meilenstein der Herzschmerz-Musik verlieh.

Diese Mystik des Eremiten-Lebens wirkt zwar in 2020, geprägt von Quarantäne und Lockdowns, nicht ganz so verführerisch. Als das Album 2007 erschien, entwickelte es sich aber zu einem kleinen Lauffeuer. Erst bei MySpace (so lange ist das schon her), dann kamen die Lobhudeleien von Musikmagazinen wie Pitchfork und schließlich umwarben den Mitzwanziger mehrere Labels. Jagjaguwar bekam den Zuschlag und 4D brachte die Platte knapp ein Jahr nach Ursprungsrelease auch nach Europa. Die romantisierte Darstellung des Künstlers, der die Einsamkeit sucht, um sich ganz auf seine Musik zu konzentrieren und am Ende genau dadurch den Durchbruch schafft, motiviert aber sicher auch heute noch traurige Gitarren-Baden dazu, ihr Sozialleben im Namen der Kunst schleifen zu lassen.

Zurück zu den Anfängen: Vernon war schon während seiner Zeit an der University of Wisconsin-Eau Claire in mehrere Bandprojekte verstrickt, die allerdings nicht so recht abheben wollten. Die Truppe DeYarmond Edison, benannt nach seinen Zweitnamen, meinte es dann schon etwas ernster. Gemeinsam zogen die Mitglieder nach Raleigh, North Carolina, in der Hoffnung dort mehr Anklang zu finden. Diese Hoffnung wurde schnell dadurch zerschossen, dass Vernon in ein Tief fiel, das sich erst auf Selbstzweifel stützte, dann durch gesundheitliche Probleme verschlimmert wurde und schließlich in einer Online-Poker-Sucht gipfelte. Während alledem führten bandinterne Spannungen zum Ausschluss Vernons aus der nach ihm benannten Band.

Um diesen Negativtrend zu brechen, brach Vernon seine Zelte in Raleigh ab, beendete seine damalige Beziehung, schmiss sein Aufnahmeequipment in den Kofferraum und fuhr die fast 2000 km zurück nach Eau Claire. Unterschlupf fand er in der alten Jagdhütte seines Vaters, und hier nimmt die Origin-Story von Bon Iver Fahrt auf. Während Vernon in der Novemberkälte vor allem nichts tat beziehungsweise Fernsehen guckte und Bier trank, begann er auch mit der Aufarbeitung einer älteren Beziehung. Und nach mehreren Wochen Nichts kam die Inspiration und der Wille, doch auch wieder etwas zu schreiben. Intensive Songwriting-Tage begannen ineinander zu verschwimmen, durch die Verwendung seines Falsetts und dem Übereinanderlegen zahlreicher Gesangsspuren erschloss Vernon neue melancholische Klangwelten und kehrte schließlich im Februar 2007 mit den neun Songs, die das Album ausmachen, aus der Isolation zurück.

Legenden zufolge kämpfte der Barde in seiner Zeit dort mit einem Bär und verkaufte erlegtes Wild in der nächstgelegen Stadt, um seine Gitarre reparieren zu können. Es sind solche Geschichten, die dafür sorgen, dass das Album dieser Hauch des Mystischen umgibt, obwohl sich die Zeit für Vernon kaum so angefühlt hat, wie er gegenüber A.V. Club zugab: "Ja, ich bin in eine Hütte im Wald gefahren und habe ein Album gemacht. Es ist seltsam, darauf zurückzuschauen und das für magisch zu halten, weil es sich wie ein paar einsame Monate in der Kabine angefühlt hat, in denen ich den Laptop angeschlossen und rumgespielt habe."

Eigentlich hat dieses Album den ganzen Trubel um die Entstehung gar nicht nötig, aber trotzdem ist es einfach eine Geschichte, die man gerne erzählt. Und zusätzlich übersetzt sich dieses übergeordnete Thema von Einsamkeit und Schmerz und letztlich Überwindung derselben auch perfekt in die Musik und diese Wechselwirkung von Drumherum und Ergebnis besticht ganz besonders. Das unkonventionelle Songwriting, das es einem häufig erschwert, klare Strukturen zu erkennen, evoziert die Gedankenspiralen, die einen in Sinnkrisen plagen, die ebenfalls keinen klaren Linien folgen. Häufig wirkt Vernon damit zwar in seinen Gedanken gefangen, gleichzeitig aber musikalisch befreit, etwa in "Creature Fear", einem der optimistischeren Titel der Platte. Die schlendernden Strophen kippen abrupt in den nach vorne schiebenden Refrain, während Vernon sich an einer Beziehung den Kopf zerbricht: "I was teased by your blouse / Spit out by your mouth". Dabei ist die Musik erstaunlicherweise oft klarer darin, Emotionen zu vermitteln, als der Text.

In "Lump Sum" etwa bleiben die Lyrics so vage wie möglich, wenn Vernon singt: "Fit it all, fit it in the doldrums / Or so the story goes / Color the era / Film it as historical, ah". Auch wenn das unpräzise und teils antiquiert klingt, spiegelt es eben auch die innere Verworrenheit wieder, in der der Musiker sich befunden haben muss. Schon der Opener "Flume" macht aber klar, dass es nicht nur Geschichte und Songwriting sind, die sich gegenseitig ergänzen, sondern auch die Produktion und der Sound. "For Emma, Forever Ago" steht mit seiner LoFi-Ästhetik, in der Zimmerrauschen und Instrumentenklappern Teil des Klangs sind, in einer Linie mit den frühen Platten von Elliott Smith.

Während die Songs bei Smith aber für sich sprechen, haucht das Wissen um den Aufnahmeort jedem Knarzen in "For Emma, Forever Ago" eine eigene Bedeutung ein. Zu Beginn von dem sich fantastisch aufbauenden "Blindsided" beispielsweise, das erst nur auf minimalistisches Gitarrenspiel und sanftes Drumming setzt, sich dann aber immer mehr öffnet. Der Climax in der Mitte des Stückes gehört zu den schönsten Parts der Platte. Hier heißt es: "Would you really rush out for me now?" Direkt im Anschluss scheint der Song wegzubrechen, fängt sich dann aber doch wieder. Die Hütte wirkt dadurch wie ein Charakter, der eine Rolle innerhalb des Albums einnimmt und ohne den es doch etwas weniger bedeutend wirken würde.

"For Emma" ist der charmante Abgesang auf die Ex: "Go find another lover / To bring a..., to string along! / With all your lies / You're still very lovable" und trumpft mit Jubel-Bläsern auf, die die Stimmung des Abschlusses und Neuanfangs untermalen. Das Gegenstück dazu ist wohl Vernons bekanntester Titel: "Skinny Love". Der Song, der einen selbst dann in ein kleines Tief stürzen kann, wenn man emotional eigentlich bestens situiert ist. "Come on, skinny love, just last the year", jault Vernon zu Beginn, noch nicht bereit die richtigen Konsequenzen zu ziehen, kurze Zeit später fällt er dann in den eindringlichen Refrain: "And I told you to be patient / And I told you to be fine / And I told you to be balanced / And I told you to be kind". Hierfür verlässt er das Falsett, singt druckvoller, mehrmals droht seine Stimme zu brechen. Dazu zwei Gitarren, die nicht ganz tight zueinander spielen. Genau dieses Raue gibt dem Stück seine Wucht.

Selbst wenn er im fantastischen, zurückgelehnten Closer "re:stacks" proklamiert: "This is not the sound of a new man or crispy realization / It's the sound of the unlocking and the lift away" wirkt hier einiges neu, erfrischend. Von diesem Album aus startete Vernon eine ziemlich einzigartige Karriere, entwickelte sich immer mehr zum Elektro-Tüftler, arbeitete mit Kanye West und sang 2020 gemeinsam mit Taylor Swift auf "Exile". Auch wenn es sich damals für Vernon nicht so angefühlt haben mag, war der Winter in der Jagdhütte rückblickend kein schlechter. Der Name des schnell zur Band gereiften Projektes ist dann auch eine Abwandlung des französischen "Bon Hiver", zu deutsch etwa "Guter Winter".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Flume
  2. 2. Lump Sum
  3. 3. Skinny Love
  4. 4. The Wolves (Act I & II)
  5. 5. Blindsided
  6. 6. Creature Fear
  7. 7. Team
  8. 8. For Emma
  9. 9. re:stacks

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