laut.de-Kritik

Durchwachsene Compilation für eine Ausnahmekünstlerin.

Review von

Annette Humpe wird 60! Kaum zu glauben. Wirkt sie doch seit jeher künstlerisch alterslos. Dennoch hat sie sich in den letzten dreißig Jahren unaufdringlich und fast unmerklich zur weiblichen Eminenz, zur Meryl Streep des deutschen Rock/Pop entwickelt.

Zum runden Geburtstag erscheint nun diese Best Of-Compilation. Doch Humpe wäre nicht Humpe, wenn sie nicht auch hier mit einem originellen Konzept aufwarten würde. CD 1 enthält eine Auswahl ihrer berühmter Kompositionen. Die zweite Scheibe bringt Annettes Hits in der Interpretation derzeitig angesagter Musiker und/oder Weggefährten zu Gehör.

Die aufgezeigte Bandbreite der deutschen Ausnahmekomponistin ist dabei textlich wie musikalisch enorm. Heftige und wichtige deutsche Postpunk-Klopper wie Ideals "Blaue Augen" oder das vor selbstzerstörerisch kalt gekachelter New Wave Energie geradezu berstende "Erschiessen" stehen ganz selbstverständlich neben Banalitäten wie "Sex In Der Wüste" oder den Knuffelsongs des extrem erfolgreichen Ich & Ich Projektes. Eine Vielseitigkeit, die man – egal ob man das eine oder andere Extrem bevorzugt – neidlos anerkennen muss.

Natürlich dürfen die Überhits der Grande Dame de Pop nicht fehlen. Es gibt folgerichtig "Codo" von DÖF, das seinerzeit Schwesterlein Inga sang. Letztere steuert mit ihrer 2Raumwohnung auch eine ultraglatt renovierte Clubrock-Version von "Berlin" bei. Die Frage nach der alten Energie erübrigt sich dabei im Ansatz. Die unvermeidliche Prinzenrolle "Du Musst Ein Schwein Sein" ist ebenso mit von der Partie wie das gelungene und Udo Lindenberg aufs Hemd getackerten "Ein Herz Kann Man Nicht Reparieren" oder "Stark Wie Zwei".

Spannender sind da schon die Humpe bzw. Humpe und Humpe Solosachen, die heutzutage zu Unrecht ein wenig in Vergessenheit geraten sind. "Ich Küsse Ihren Mann" oder "Geschrieen Im Schlaf" und "Yama Ha" ist noch immer perfekt inszenierte charmante Minimal-Popmusik, die alle Epigonen locker in die Schranken weist. Warum mit "Careless Love" jedoch ausgerechnet der auf internationalem Niveau perfekt produzierte Übersong der Humpe Sisters fehlt, ist nicht nachvollziehbar.

Ohnehin bleibt die biografisch wichtige und auf künstlerischer Ebene zutiefst fruchtbare Produzentenseite der umtriebigen Wahlberlinerin leider komplett außen vor. Das ist sehr schade. So fehlen zum Beispiel Rio Reiser und Heiner Pudelko.

An das Format der letztgenannten Ausnahmekünstler reichen die gratulierenden Interpreten auf Disc 2 ohnehin mehrheitlich nicht annährend heran. Für stilistische Vielfalt ist gleichwohl gesorgt. Entsprechend bunt gestaltet sich der Genrestrauß. Selig machen bei den "Blauen Augen" einen grundsoliden Job. Mehr als ein, zweimal pro Leben braucht man das trotzdem nicht. "Klee" agieren degradierend beim Ideal Klassiker "Monotonie". So richtig schlimm wird es aber erst mit der fleischgewordenen Gothic-Nivellierung Unheilig. Die gute Nachricht: Der Graf gibt ausnahmsweise mal nicht den von aller Eigenständigkeit befreiten Till Lindemann für Arme. Die Schlechte: Diesmal muss es eine bedeutungsschwanger pathetische Witt-Kopie sein. Und Boss Hoss stellen erneut unter Beweis, dass der knallchargierende Country-Cash-Witz auch beim 100. Erzählen einfach nicht origineller wird. Das hat die gute Annette nicht verdient; ihre Songs erst recht nicht!

Die mit Abstand interessantesten und sehr überzeugenden Variationen bieten schlussendlich Adel Tawil und Casper. Der Ich & Ich Sänger ringt dem klinischen Wavetrack "Feuerzeug" tatsächlich eine ungeahnte Prise Soul ab und glänzt ebenso bei "Eiszeit". Hip Hopper Casper dagegen erobert "Erschiessen" regelrecht. Ein rotzig fetter Punkfetzen in OHL/Der Fluch Manier statt der erwarteten Rap Einlage. Superb!

So bekommt man am Ende eine durchwachsene Compilation. Möchte man hier das Gesamtwerk Humpes beurteilen, dürfte es nur Höchstwertung als Oscar für das Lebenswerk geben. Dieser Sampler hingegen kann nur als Appetithappen fungieren; als Wegweiser für nach Entdeckung dürstende Alben der gebürtigen Hagenerin. Die starken qualitativen Schwankungen der Fremdinterpretationen ergeben einen nicht unbeträchtlichen Wermutstropfen. Doch allein für Tawils und Caspers Beiträge lohnt sich die Anschaffung allemal auch für langjährige Fans.

Trackliste

CD 1

  1. 1. Ich Atme Ein, Ich Atme Aus
  2. 2. Berlin
  3. 3. Geschrien Im Schlaf
  4. 4. Die Liebe Findet Mich Schon
  5. 5. Ich Küsse Ihren Mann
  6. 6. Eiszeit
  7. 7. Schütze Mich
  8. 8. Monotonie
  9. 9. Ich Lass Mich Geh'n
  10. 10. Wo Die Liebe Hinfällt
  11. 11. Blaue Augen
  12. 12. Yama-Ha
  13. 13. Nur Jemand Den Ich Kannte
  14. 14. Erschiessen
  15. 15. Die Lebenden Und Die Toten
  16. 16. Macht Nichts
  17. 17. Danke

CD 2

  1. 1. Die Lebenden Und Die Toten (Unheilig)
  2. 2. Berlin 2011 (2raumwohnung)
  3. 3. Blaue Augen (Selig)
  4. 4. Eiszeit Adel (Tawil)
  5. 5. Sex In Der Wüste ((A.N.N.E.T.T.E) Peter und der Ulf)
  6. 6. Erschiessen (Casper)
  7. 7. Monotonie (Klee)
  8. 8. Holy Johnny (The BossHoss)
  9. 9. Feuerzeug (Adel Tawil)
  10. 10. Schütze Mich (Udo Lindenberg)
  11. 11. Küssen Verboten (Die Prinzen)
  12. 12. Ein Herz Kann Man Nicht Reparieren
  13. 13. So Soll Es Bleiben I
  14. 14. Codo
  15. 15. Vom Selben Stern
  16. 16. Du Musst Ein Schwein Sein
  17. 17. Careless Love
  18. 18. Du Erinnerst Mich An Liebe
  19. 19. Stark Wie Zwei

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