21. Juni 2019

"Das Radio kapituliert vor Spotify"

Interview geführt von

Mit "Alpaka" präsentierten die 257ers Anfang Mai ihr sechstes Album. Nachdem die früheren Label-Aushängeschilder Kollegah und Favorite ihre eigenen Plattformen gegründet haben, stehen die Essener mit ihrem anarchischen Stil nun für Selfmade Records an der Front.

Die drei Jahre Wartezeit seit ihrem letzten Album haben sich bemerkbar gemacht. Nach den Nummer-Eins-Alben "Boomshakkalakka" und "Mikrokosmos" sowie dem Platin-Erfolg "Holz", reicht es bei "Alpaka" nur für Platz 16 in den Album-Charts. Doch die 257ers wissen, dass ihre wahre Stärke ohnehin erst auf den Bühnen der Republik zur Geltung kommt. Ende des letzten Jahres bewiesen sie mit der "Auf Basis von Live"-Tour, dass sie auch ohne frisches Material die Hallen füllen.

Anfang Mai wärmten sie sich schon wieder für das laufende Kalenderjahr auf. Eine Woche nach Abschluss ihrer "Alpaka Warm Up Tour" stehen Shneezin und Mike für ein telefonisches Interview zur Verfügung. Auskunftsfreudig sprechen sie über ihren Willen, "richtige Songs" aufzunehmen, die schwindende Bedeutung des Radios, ihre Bewunderung für Alligatoah und Sido, ihre Abneigung gegenüber den Beginnern und Andreas Gabalier sowie Nacktauftritte, Bi-Neugierigkeit und die Belästigung von Prezident.

"Mikrokosmos" liegt mittlerweile drei Jahre zurück. Hat sich bei euch die Herangehensweise an die Musik verändert?

Mike: Nein, nicht so richtig, wir hängen halt weniger miteinander herum, aber dafür haben wir damals auch nicht mehr miteinander gearbeitet, sondern einfach mehr Scheiße gemacht. Die Herangehensweise hat sich nicht wirklich geändert.

Shneezin: Es ist immer noch das Gleiche: Text, Beat, Abgehen. Wir gucken einfach nur, worauf wir Bock haben: Lass uns mal die Musikrichtung machen, lass uns mal das behinderte Thema machen. Und dann einfach gib ihm.

Auffällig finde ich, dass ihr in den Songs kleine Botschaften unterbringt. Ihr gebt Seitenhiebe gegen Trump oder die AfD und greift Verteilungsfragen in "Gravitacion" auf. Wie wichtig sind euch mittlerweile solche Positionierungen?

Mike: Das ist schon immer wichtig gewesen, aber jetzt wo man ein bisschen älter ist, macht man sich darüber ein paar Gedanken mehr. Weil es ganz bewusst ein sehr poppiges Album ist, mussten wir auf irgendeine Art und Weise trotzdem unseren Charakter beibehalten. Wenn wir jetzt nicht ganz durchgeknallte Mucke machen, dann ist es so, dass wir gerne auch mal zum Ausdruck bringen, was uns im wahren Leben bewegt.

Und das sind dann die genannten Themen?

Mike: Ja, klar, momentan sind überall immer mehr Alleinherrscher unterwegs und die Leute scheinen das auch noch gut zu finden, egal in welchem Land auf der Welt. Die Länder, die das schon seit Jahren oder Jahrzehnten haben, finden das natürlich weniger gut und demonstrieren dagegen. Das sollte uns eigentlich ein Spiegel sein, aber der Mensch ist ja nicht allzu clever. Wir in Deutschland fangen jetzt auch an, in die falsche Richtung zu tendieren. Ganz viele rutschen immer weiter nach rechts. Wir wollen solche Leute nicht allzu gerne als Hörer haben.

Shneezin: Wir gehen aber jetzt nicht hin und sagen, wir müssen dagegen etwas sagen, sondern die Themen geben es manchmal her, dass einem dazu etwas einfällt. Bei "Gravitacion" hat sich das mit dem Wasser einfach ergeben. Wir haben den Song nicht gemacht, um diese Line zu verwenden, sondern wir haben die Line verwendet, weil das Thema mich dazu bewogen hat, das sagen zu wollen.

Ist es heute schwieriger, diese unbeschwerte Musik zu machen, die ihr jahrelang verfolgt habt?

Shneezin: Nein, es ist überhaupt nicht schwer. Wir sind gerade wieder auf dem Weg dahin. Wir haben jetzt einmal unseren Ausflug gemacht. Das fand ich viel schwieriger. Wir hatten einfach mal Bock, richtige Songs zu machen und auch mal zu zeigen, dass wir nicht nur die Pappnasen sind, die mit Fantasiewörtern um sich schmeißen und raptechnisch vollkommen ausflippen. Wir können auch Mucke machen. Aber da unsere Fans sich so lange den alten Stil gewünscht haben und unser erstes Album "Hokus Pokus" gerade zehn Jahre alt wird, haben wir gesagt, der Nachfolger "Abrakadabra" muss her. Wir sitzen jetzt gerade im Studio am nächsten behinderten Mutantenalbum.

In der heutigen Zeit sind kurze Wartezeiten elementar in der Musikvermarktung. Ihr habt drei Jahre gewartet und Platz 1 ist es auch nicht mehr geworden. Macht euch Selfmade Records Druck, damit ihr schneller vorankommt?

Mike: Gut, den Druck muss man jetzt nicht mehr machen. Wir haben die Zeit verstreichen lassen. Du kannst es ja nicht rückgängig machen. Wir haben uns jetzt einfach vorgenommen, den Zeitgeist mitzugehen und in Zukunft kontinuierlich Musik rauszubringen. Auch weil wir Lust darauf haben. Der Sound hat sich aber auch verändert. Es sind ja ganz andere Musikgeschmäcker momentan unterwegs. Da wollen wir gar nicht mitspielen. Nur Autotune, gleichbleibender Trap-Sound oder Afrobeats sind nicht unbedingt unser Ding. Deshalb bleiben wir lieber ein bisschen außen vor.

Shneezin: Die drei Jahre haben sich auf jeden Fall krass bemerkbar gemacht. Das merkst du immer erst, wenn es soweit ist. Dass wir uns nach drei Jahren das erste Mal wieder mit neuer Musik gemeldet haben, da haben wir gemerkt: Krass, wir werden gar nicht mehr gehört. Jetzt haben wir wenigstens wieder eine Aufgabe und müssen uns durchboxen. Wir haben durch die drei Jahre Abstinenz auf jeden Fall einen guten Dämpfer bekommen. Das pusht uns natürlich nur noch mehr, direkt weiterzumachen und den nächsten Scheiß rauszuhauen. Jetzt geht es back to the Roots.

Mike: Das macht uns glaube ich auch stärker. Wir haben uns immer gegenseitig gepusht. Wenn einer einen besseren Part hatte, wollte der andere auch einen raushauen. So fühlt sich das jetzt ein bisschen an. Nur ist bei jeder Strophe und jedem Song nun die Außenwelt der Gegner.

Rap hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend dem Schlager angenähert. Welchen Anteil schreibt ihr euch selbst an dieser Entwicklung zu?

Mike: Gar nicht, selbst wenn wir so einen Schlagerrap wie "Holz" gemacht haben, hieß es bei uns immer: 'Das können die ja gar nicht ernst meinen, ist ja totaler Quatsch.' Ist auch einfach Fakt. Die Leute, die das momentan auf die Schlagerebene bringen, weil sie immer wieder das Gleiche über ach so schöne Frauen singen, machen das bewusst, weil es beim Mainstream ankommt. Wir haben damals bei "Holz" extra einen Song gemacht, der bewusst dumm war, weil der Mainstream einfach nicht musikaffin ist. Die wollen sich berieseln lassen. Deshalb haben wir da noch nicht mal gereimt und irgendwas zusammen geklöppelt. Und das ist dann tatsächlich das Erfolgreichste, was wir je gemacht haben. Sollen mal andere "Cheri, Cheri Lady" machen, wir machen weiterhin abstrakte Vogelmusik.

Ihr würdet euch also nicht wie Olexesh für den nächsten Hit Vanessa Mai schnappen?

Mike: Gut, bei Olexesh finde ich das noch nicht mal so schlimm, weil das ein lustiges Ding über den öffentlichen Raum ist. Das haben wir in unserem Spielraum ja auch mit Guildo Horn gemacht. Ich glaube, bei Vanessa Mai und Olexesh war das ein anderer Hintergrund. Da gibt es glaube ich Kandidaten, die es momentan zielgerichteter darauf abgesehen haben, irgendwelchen Wischi-Waschi-Sound zu machen, um die Hörer zu füttern und möglichst schnell reich zu werden.

Vor zwei Wochen wart ihr auf Radio-Reise, was mich etwas gewundert hat. Welche Bedeutung hat das Medium in Zeiten von Spotify überhaupt noch?

Shneezin: Es macht sich bemerkbar, dass es immer mehr an Bedeutung verliert. Die vom Radio versuchen natürlich mitzuziehen, indem sie immer mehr von den Sachen spielen, die vor drei Jahren niemals irgendein Radiosender gespielt hat. Als Cro damals um die Ecke kam und in der "Easy"-Line "Ich geb' einen Fick auf Frauen" sagte, hieß es: 'Boah, was hat der gesagt?' Jetzt spielen die Sender alles, weil sie natürlich auch um die Hörer kämpfen. Teilweise machen die immer noch coole Formate. Wir sind auch immer dicke mit den Radiosendern und finden auf unseren Radio-Reisen immer wieder Sender, die eine echt coole Playlist haben. Aber es wird zunehmend schwerer fürs Radio und zunehmend bedeutungsloser für die Künstler.

Mike: Ich denke auch, dass die ganz großen Radio-Sender, vor allem öffentlich-rechtliche spreche ich jetzt mal offiziell an, die größten Probleme haben werden, weil die von viel zu vielen Leuten betrieben werden, die gar nicht richtig in der Branche aktiv sind. Viele Köche verderben den Brei und da sagen viel zu viele Leute "nein", die eigentlich lieber nichts sagen sollten, um das Produkt nicht zu beschädigen. Aber Gott sei Dank gibt es immer noch gute Sender in ganz Deutschland verteilt, die versuchen, etwas dagegen zu machen.

Shneezin: Ein witziges Beispiel ist, dass wir vor dreieinhalb Jahren "Holz" herausgebracht haben. Alle Radio-Sender haben den Superhit rauf und runter gespielt. Und jetzt drei Jahre später hat sich die Musikszene krass verändert und wir bekommen von Radio-Sendern gesagt, dass ihnen unsere Single "Akk & Feel it" mit Captain Jack zu trashig sei.

Mike: Was mich am meisten stört, ist das Oberargument, dass es nicht bei Spotify gestreamt werde. Der Radiomarkt hat sich früher immer als Alleinherrscher und Übermacht dargestellt und jetzt beugen die sich sofort dem Konzern. Jetzt kann ich es gar nicht mehr ernst nehmen. Entweder man kennt jemanden, der dich da reinbringt wie in der Vetternwirtschaft, oder dein Label ist so groß, dass sie dich reindrücken. Wir sind bei einem Independent-Label und können auf dem legalen Weg nicht mehr als anfragen. Es macht mir ehrlich gesagt nach fünf, sechs Jahren persönlich keinen Spaß mehr. Ich gebe gerne mal ein Interview, aber ich mache nicht mehr Songs, die da irgendwem gefallen sollen.

Shneezin: Die trauen sich nichts mehr. Wenn du heutzutage keine Klicks hast, wirst du höchstwahrscheinlich nicht gespielt. Außer du hast Vitamin B wie Mike sagte. Lass uns lieber das spielen, was die Kids auf jeden Fall hören wollen und Millionen von Klicks auf Spotify hat. Aber einen neuen Song ausprobieren, den wir cool finden? Die machen einfach das, bei dem sie wissen, dass es irgendwie funktioniert.

Mike: Das hat uns die letzten paar Jahre auch ein bisschen gehemmt. Ich denke, das geht vielen Musikern so. Man versucht irgendwie unterbewusst mitzugehen, weil man Teil des Ganzen bleiben will. Ich glaube, dass wir uns als 257ers Gott sei Dank endgültig davon freigemacht haben. Es ist uns einfach scheißegal. Wir werden dafür bei den Festivals und den Shows immer wieder abreißen wie Sau. Ich habe auch noch nie jemanden gehört, der gesagt hat: 257ers-Musik höre ich gerne zu Hause. Das macht man einfach nicht.

Shneezin: Wer sich den Scheiß nüchtern reinzieht, dem ist nicht mehr zu helfen.

Ich habe es bisher nur nüchtern gehört.

Mike: Das geht ja auch, wenn man auf Rap steht. Aber es ist nicht die Musik, die man entspannt zu Hause hört. Das höre ich ja selbst nicht mal. Das hört man, wenn man gerade so ein bisschen was pumpen möchte oder wenn man schon mal gute Laune spreaden möchte für irgendein Ereignis danach. Es ist nicht die Musik, die man in Ruhe mit seinen Freunden laufen lässt.

Shneezin: Es ist keine Fahrstuhlmusik. Mittlerweile wird Trap zur Fahrstuhlmusik.

"Sido hat uns Props gegeben. Erstmal masturbiert und drei Tage die Hände nicht gewaschen."

In welchem Zusammenhang hört man sich überhaupt die KMN Gang an?

Shneezin: Ich finde auch von der KMN Gang immer wieder Songs geil. Da sprichst du witzigerweise eine der Gruppen an, von denen ich ein paar Songs wirklich nice finde. Aber da gibt es auch tausende andere, von denen ich mir wirklich keinen einzigen Song anhören kann, weil es überhaupt gar nicht mein Ding ist.

Nicht gut findet ihr offensichtlich dagegen die Beginner.

Mike: Die fanden wir mal wirklich, wirklich, wirklich gut. Es ist wie mit unseren alten Fans. Die Beginner haben sich nicht negativ verändert, die haben sich leider gar nicht verändert. Die machen immer noch ihren Haus-Maus-Rap. Und dafür sind die mir einfach eine Spur zu arrogant geworden. Die Geschichte dahinter ist, dass ich damals mit Jan Delay ein Foto machen wollte und er mir seinen Bodyguard vorgeschoben hat, der sagte: 'Jan ist heute privat hier.' Okaay, ich war ja nicht als Fan da, sondern als Künstler im Backstage-Bereich.

Shneezin: Man muss aber dazu sagen, dass wir den Beginnern an dem Tag die 1Live-Krone weggeschnappt haben. Wir waren in derselben Kategorie nominiert und sie haben die nicht bekommen.

Mike: Ja, vielleicht waren die ein bisschen sauer. Wir sind halt Menschen, die sich die Zeit nehmen. Selbst wenn wir irgendwo mit unseren Kindern und unseren Frauen essen sind, würden wir kurz ein Foto machen. Das ist gar kein Problem. Auch wenn man Jan Delay und einen Tacken größer als wir ist, sollte man nicht so arrogant sein. Dazu maße ich mir an zu behaupten, dass wir mittlerweile mit den Jungs auf einem Level sind. Nicht in Bezug auf den Bekanntheitsgrad, aber darauf, wo wir spielen. Dann kann man ruhig Vergleiche ziehen und ich finde, die haben sich musikalisch einfach nicht weiterentwickelt.

Wie erklärt ihr euch die Reaktionen auf "Advanced Chemistry"? Meine laut.de-Kollegin hat es völlig verrissen, aber dafür gab es Applaus im Neo Magazin Royale und den Kritikerpreis beim Echo.

Shneezin: Erstmal sind Geschmäcker Gott sei Dank verschieden und dann ist es wie gesagt ein Vitamin-B-Thema.

Mike: Gerade Jan Böhmermann ist bekannt dafür, dass er Oldschool-Rap bevorzugt und gegen diese vorherrschende Vibe-Musik ist, in der es nicht um den Text oder die Intelligenz des Künstlers geht. Ob die da hochgelobt werden, juckt im Endeffekt gar nicht so richtig. Die Resonanz sieht man nachher auf der Bühne und hört man bei den Gesprächen auf den Zeltplätzen der Festivals. Da kommt die wirkliche Resonanz und da ist es Wurst, ob irgendwelche Fernseh- und Radio-Sender Preise verleihen.

Ihr wurdet noch nie vom Neo Magazin Royale angefragt?

Mike: Nein, tatsächlich nicht, vielleicht hat er Angst. Das könnte ich mir vorstellen. Wie bei Stefan Raab, der sich auch immer mit forschen Gästen schwer getan hat, dann immer direkt ein bisschen grantig wurde und versucht hat, sie wortkarg zu machen.

Christoph Maria Herbst hat damals bei seinem ersten Auftritt bei TV total Raab so verunsichert, dass der angefangen hat, ihm Ohrfeigen zu geben.

Mike: Ja, als Samy und Afrob damals da waren, hat er Hip-Hop zwei-, dreimal so verarscht, dass die beiden schon richtig angepisst waren. Da war eine Stimmung in der Luft. Wenn das Studio nicht so hermetisch abgeriegelt wäre, wären Regenwolken über die beiden hereingekommen. Aber gut, es ist heute wie damals so, dass die Mainstream-Medien meinen, wenn Hip-Hop größer wird, müssen sie den Fuß mit in die Tür stellen. Die Orsons haben ja gerade in einem Song beschrieben, wie sie beim Bundesvision Song Contest mit Cro mitgemacht haben, was für sie der peinlichste Moment ihrer Karriere war. Das kann ich gut nachvollziehen.

Für "HRNSHN" habt ihr damals mit Alligatoah "Über alle Berge" aufgenommen und seinen bevorstehenden Durchbruch prophezeit. Die Beginner dissen ihn dagegen auf ihrem Album.

Mike: Stimmt, das habe ich voll vergessen. Das ist mit einer der heftigsten Punkte. Wie kann ein Denyo über einen Alligatoah Witze machen? Das ist unfassbar! Denyo rappt und schreibt 1:1 genauso wie die Kindertexte meines vierzehn Monate alten Sohnes. Und Alligatoah schreibt so unfassbar kryptische Texte und ist so intelligent. Halt dein Maul! Wie kann man sowas machen? "Und ich hör' Biggie in meinem Benz." The Notorious B.I.G.? Schlimmste Line ever.

2012 meintet ihr, Alligatoah hätte den größten Hype und das größte Potenzial für eine Karriere. Wie bewertet ihr seine Entwicklung?

Shneezin: Der hat auf jeden Fall unfassbare Songs gemacht. Klar, Alligatoahs Mucke ist natürlich keine leichte Kost. Er spielt trotzdem krasse Tourneen mit einer unfassbaren Bühnenpräsenz, einem geilen Bild und heftigen Songs, die live auch super gut funktionieren. Der ist total musikalisch. Was wir zu dem Zeitpunkt vorhergesagt haben, ist natürlich alles aufgegangen. Aber gegen das, was momentan in Deutschland an erfolgreicher Musik vorherrschend ist, stinken alle ein bisschen ab. Da knicken bei allen die Plattenverkäufe ein bisschen ein, die sich nicht dem Mainstream fügen. Aber ich finde es geil, dass sich Alligatoah dem genau wie wir trotzdem nicht fügt.

Mike: Alligatoah holt genau die Hörer ab, die man hat, wenn man intelligente Musik macht. Bei seinen Konzerten denke ich immer, vor fünf, sechs Jahren haben seine Fans das erste Harry-Potter-Buch gekauft und das sofort innerhalb von drei Stunden durchgelesen, weil die einfach voll intelligent sind und Input haben wollen. Alligatoah hat immer die Fahne hochgehalten und seinen Film gefahren. Für mich ist er einer der talentiertesten Allround-Künstler Deutschlands.

Als ich mir nochmal angesehen habe, was ihr in den letzten Jahren veröffentlicht und mit wem ihr zusammengearbeitet habt, habe ich mich über Andreas Gabalier gewundert, den ihr 2016 auf seinem "MTV Unplugged" unterstützt habt.

Shneezin: Ja, wir uns auch! Wir hatten eine Anfrage für "MTV Unplugged". Da können wir mit der Band spielen, also lass uns da hinfahren.

Mike: Das ist dieser komische Typ mit dem Akkordeon und der Lederhose, der Rock'n'Roll-Schlager macht. Wir kannten den gar nicht und meinten: 'Ey, das klingt ja perfekt!'

Shneezin: Lass uns das auf jeden Fall machen mit dem Schlagertyp. Dann waren wir da im Backstage und bei den Proben. Alle waren da ein bisschen komisch. Mike und ich hatten die weißen 'Refugees Welcome'-Anzüge von Deichkind an, die wir auch auf der Bühne tragen wollten. Dann kam auf einmal jemand zu uns und meinte, wir dürfen die nicht tragen, weil Andreas das nicht wolle. Was, Alter?! Und dann ist uns langsam klar geworden, was das für Leute sind. Und dann war auch noch Xavier Naidoo als Gast da. Was geht hier ab, Alter?!

Mike: Wir haben ernsthaft im Backstage angefangen, zu googlen. Wir waren hart, hart, hart blauäugig. Gott sei Dank waren da noch ein paar Leute, mit denen man normal reden konnte. Gregor Meyle war mit uns Backstage. Als wir dann gegooglet haben, fanden wir auch noch dieses Cover, auf dem er wie ein Hakenkreuz aussieht. Der Vertrag ist unterschrieben und unser Manager saß neben uns und sagte: 'Ey, ihr könnt hier jetzt nicht abhauen. Das geht einfach nicht mehr.' Dann habe ich ernsthaft Gregor Meyle darauf angesprochen: 'Wie denkst du denn darüber? Ich habe das gerade mal gelesen und fühle mich jetzt gerade arg unwohl.' Das ist halt einfach die Musikbranche, mit der wir eigentlich nichts zu tun haben wollen. Er hat mir dann gut zugeredet, dass das alles ein bisschen voneinander zu trennen sei. So haben wir unser Ding dann einfach durchgezogen. Das ist ja auch eine lustige Erfahrung. Die Band war cool, wir hatten vorher noch nie mit einer Live-Band gespielt. Alles war irgendwie cool, bis auf den Künstler. Wir haben uns danach auch in jeglichen Formaten, nur zu gerne auch im österreichischen Radio und Fernsehen, darüber ausgelassen wie doof wir sind und wie doof er ist. Damit haben wir glaube ich, unsere Seele wieder reingewaschen. Wir wussten es einfach nicht.

Wieso warnt euch vom Label oder vom Management denn keiner?

Shneezin: Keine Ahnung, die Kontroverse um Andreas Gabalier ging auch erst später los. Wir sind die 257ers, wir sind halt einfach irgendwelche Johnnys, die dann sagen: 'Ey, Live-Band, cool, lass machen.' Wir denken nicht viel, wir machen halt einfach. Damit muss man vielleicht zwischendurch auch mal auf die Nase fallen.

Mike: Was heißt "auf die Nase fallen"? Wir haben es einfach gemacht und jeder weiß von uns, dass wir garantiert nichts mit Rechtsradikalismus oder überhaupt mit politischen Gedanken zu tun haben. Wir haben es einfach mitgenommen, es war lustig und witzigerweise war es auch noch der erfolgreichste Song, weil Rapper ja immer ziehen.

"Vielleicht sind Shneezins Eier der Grund, dass Prezident momentan so einen komischen Turn schiebt."

Lasst uns noch über euren Freiheitsbegriff sprechen. Als Curse vor einigen Jahren sein Album "Freiheit" nannte, meinte Maxim von K.I.Z., wenn er "wirklich frei wäre, dann hätte er sein Album" nicht "Freiheit", sondern "Tomatensalat" genannt. Denn nur das beweist ultimative Freiheit." Ihr kommt dieser Vorstellung mit Titeln wie "Holz" und "Alpaka" ja recht nahe. Wie definiert ihr Freiheit?

Mike: Auf "Tomatensalat" sind wir nur noch nicht gekommen, sonst wäre es das nächste Album.

Shneezin: Musikalisch gesehen definieren wir Freiheit so, das zu tun, was wir wollen. So wie wir jetzt einfach wieder den geilen, alten Scheiß machen, den wir früher schon gemacht haben. Und umgekehrt, dass wir gesagt haben, wir machen jetzt richtige Musik mit Melodien. Wir hatten übelst Bock darauf, Song-Songs zu machen und keinen 257ers-Quatsch, den keiner ernst genommen hat. Ich finde es ganz geil, dass wir niemals in eine Schublade gepresst wurden oder uns haben pressen lassen. Wir können immer machen, was wir wollen. Das bedeutet mich auf jeden Fall Freiheit.

Mike: Wir haben Gott sei Dank auch die Hörer. Du hast ja selbst gesagt, für die Eins habe es mit unseren Pop-Nummern jetzt nicht gereicht. Das ist vollkommen legitim. Ich glaube, wir haben einfach auch keine nachtragenden Hörer. Für das nächste Album haben wir schon wieder so geile Features wie Finch Asozial, Alligatoah und wir sind mit Sido am connecten. Wir haben viele geile Nummern im Köcher, weil wir auch endlich wieder die Musik machen wollen, die wir selbst feiern. Das heißt nicht, dass wir die neuen Songs nicht gut finden, die wir gemacht haben. Die feiern wir genauso, aber auf eine andere Art. Die höre ich dann auch gerne mit meiner Mutter und meiner Familie.

Mit Sido kämt ihr sicher auch gut klar.

Shneezin: Ja, voll, ich bin Sekte-Fan der ersten Stunde. Ich habe die alten Tapes alle durchgepumpt. Deswegen ist es eine Ehre, Sido am Start zu haben. Und dann hat er uns auch noch gefragt! Ich brauchte erstmal zwei, drei Stunden Schnappatmung, um wieder klar zu kommen, dass Sido uns bei Instagram geschrieben hat, ob wir Bock haben, einen Song mit ihm zu machen.

Mike: Wir haben ihn leider noch nicht persönlich treffen dürfen. Es ist ein bisschen schwieriger, mit ihm zu schreiben, weil er wahrscheinlich tausende Nachrichten am Tag kriegt. Ich persönlich als Kiffer kann es nachvollziehen, dass man keinen Bock hat, immer da drauf zu gucken. Von Vincent Stein, einem von Sidos Produzenten, habe ich mir sagen lassen, dass nur er und ich die Menschen in seinem Leben sind, die so viel rauchen. Deswegen kann ich ganz gut nachvollziehen, dass es schwieriger ist, zu connecten. Aber einfach super geil, dass er das gemacht.

Shneezin: Sido hat uns tatsächlich schon vor Jahren Probs gegeben. Als damals Favorites Album "Christoph Alex" rauskam, hat Sido Track-by-Track bei Twitter alle Songs durchgehört und immer Statements gegeben. Da hat er uns auf "'Ne Pille" das erste Mal gehört und gesagt: 'Wer sind die denn? Krasses Feature auf dem Favorite-Album. Nice Rapper, die finde ich übelst krass.' Sauber, Sido hat uns Props gegeben. Erstmal masturbiert und drei Tage die Hände nicht gewaschen.

Nochmal kurz zurück zur Freiheit. Eine besondere Form der körperlichen Freiheit scheint dir, Shneezin, wichtig zu sein. 2014 hast du dich beim Webvideopreis öffentlichkeitswirksam ausgezogen. Lebst du damit deine exhibitionistische Ader aus oder steckt mehr dahinter?

Shneezin: Nein, dahinter steckt keine Aussage. Ich war einfach besoffen und dachte: Zeig mal Pimmel. Warum nicht? Ich lackiere mir die Fingernägel, lasse mir lange oder kurze Haare wachsen, wann ich Lust habe. Ich trage orange, ich trage pink mit rot.

Mike: Er ist definitiv bi-neugierig.

Shneezin: Bi-Neugierigkeit könnte in mir schlummern. Ich mache einfach, worauf ich Bock habe. Ich habe schon immer einen harten Fick gegeben, was andere von mir gedacht haben, wenn ich irgendwem meinen Pimmel gezeigt habe. Ich finde es gut, dass dann auch wieder Leute kommen und sagen: 'Ey, nice, dass du das einfach machst und nicht darüber nachdenkst, was für eine dumme Scheiße du da gerade gebaut hast.' Dann hat man da zwar mal diesen Moment, wenn am nächsten Tag das Label anruft und sagt: 'Alter, die Bild-Zeitung schreibt über dich. Willst du mich verarschen? Das war das Dümmste, was du jemals gemacht hast.' Zwei Stunden später ruft das Label wieder an: 'Ey, letzte Video-Single hat gerade innerhalb von zwei Stunden durch die Aktion 500.000 Klicks mehr gekriegt. Mach weiter so!'

Mike: Als sein bester Freund würde ich sagen, er hat definitiv keine exhibitionistische Ader, sondern steht einfach morgens auf und denkt: 'The Show must go on.' Er überlegt, was er anzieht, wie er auffällt. Am liebsten würde er sich den ganzen Tag ein Megaphon an den Kopf schnallen, damit jeder sein Scheiß-Gelaber hören kann. Nach eineinhalb Stunden kommt dann ein Lacher und er freut sich den Arsch ab. Und es hat sich für ihn angefühlt wie eine Minute.

Shneezin: Ja, genau so, das ist ein Kunstprojekt, was sich durch mein ganzes Leben zieht. Nach mir selbst bin ich der witzigste Typ, den ich kenne.

Mike: Und nach ihm, also ist er der drittwitzigste nach ihm und ihm.

Mit der Geschichte vom Webvideopreis im Hinterkopf habe ich letztes Jahr mehrere Prezident-Interviews gelesen. Der sprach im Zusammenhang mit seinem kontroversen Album "Du hast mich schon verstanden" auch über die Metoo-Bewegung, die er als Kollektivpsychose bezeichnete, die Erfahrungen miteinbezieht, denen er traumatische Folgen abspricht. Er erwähnte eine Begegnung mit dir, bei der er dich auf deine Rastas ansprach und du als Antwort versucht hättest, deine Hoden an ihm zu reiben.

Mike: Wer erzählt das?

Shneezin: Prezident, das ist ein Untergrund-Rapper, der einen richtigen Fick auf seine Musik und seine Texte gibt. Ich könnte mir vorstellen, dass es beim 'Mile of Style' in Aurich war.

Mike: Vielleicht sind Shneezins Eier der Grund, dass er momentan so einen komischen Turn schiebt. Kann ja sein.

Shneezin: Aber wie du siehst schlummert das in mir. Ich mache das nicht nur für die Öffentlichkeit, ich mache das auch in einem Privatgespräch mit Prezident. Da reibe ich auch mal gerne meine Eier an ihm. Zumindest versuche ich es. Der eine lässt es zu, der andere nicht. Wer ist nicht zulässt, ist homophob.

Hast du keine Angst, dass dir solche Aktionen irgendwann auf die Füße fallen?

Mike: Auf die Nüsse fallen? [kichern]

Shneezin: Ne, so lang sind meine Eier noch nicht, dass sie mir auf die Füße fallen. Quatsch, ich habe mir natürlich gewisse Grenzen gesetzt. Erstmal machen ist die Devise, danach über die Konsequenzen nachdenken.

Wenn einer das also nicht will, soll er dir einfach Bescheid sagen?

Mike: Wenn irgendeiner von denen von Shneezins Eiern schwanger geworden ist, soll er sich melden.

Shneezin: Aber ich bin auch jederzeit bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen. Das ist kein Problem.

Mike: Er zieht dann aus Europa weg. Das sind die Konsequenzen, die er zieht.

Shneezin: Wenn ich deswegen Deutschland verlassen muss, dann verlasse ich Deutschland auch.

OK, damit bin ich durch. Möchtet ihr noch etwas ergänzen?

Shneezin: Ne, ich will nichts ergänzen. Wir haben mit meinen Hoden schon einen guten Abschluss gefunden.

Mike: Ich würde gerne noch etwas beifügen. An alle, die wir namentlich genannten haben, hauptsächlich die, die wir in ein schlechtes Licht gerückt haben: Bitte tut uns nicht weh, wir sind totale Oberlappen. Wir haben keinen Bock auf Schlägereien. Lasst uns das mit Tracks austragen. Disst uns!

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