30. Oktober 2008

"Wir haben einen Hang zum Größenwahn"

Interview geführt von

Felix Räuber, Sänger von Polarkreis 18, hat die Natur gegen sich. Seine Stimme muss sich dem Wind geschlagen geben, am anderen Ende der Leitung kommt nur ein Rauschen an. Also wirft sich Räuber in einen Hauseingang, jetzt kann er reden: über den Bombast des zweiten Albums "The Colour Of Snow", Falco und einen Feiertag der Einsamkeit.Eigentlich muss man nur die ersten 28 Sekunden der Single "Allein, Allein" hören, um die Gewissheit zu bekommen: Polarkreis 18 machen auf ihrem zweiten Album keine halben Sachen. Keine Kompromisse. Ein klassisches Orchester schiebt sich mit aller Macht nach vorne, dazu erheben tausend Kehlen ihre Stimme und singen die titelgebende Zeile: "Allein, allein". Wieder und wieder. Als kämen der Soundtrack von "Herr der Ringe" und eine lautstarke Montagsdemonstration kurz vor der Wende zusammen. Im dazugehörigen Video dreht ein Helikopter über einem norwegischen Fjord seine Runden, damit die sechs Bandmitglieder als lächerlich kleine Gestalten in der schroffen, übermächtigen Natur gefilmt werden können.

"Unser Leben ist im Moment total schnelllebig, wir kommen gar nicht zur Ruhe. Ich merke das vor allem daran, dass ich nachts nicht mehr richtig schlafen kann. Wir müssen da ganz schön viel aufarbeiten. "

Zum Beispiel, dass Polarkreis 18 seit der allseits gelobten Debüt-Veröffentlichung vor einem Jahr als deutsche Nachwuchshoffnung in aller Munde sind. Ein zweiter Aufguss alter Ideen kam für die Band laut Felix Räuber zu keiner Zeit in Frage:

"Unser erstes Album hatte zwar schon unsere Vorstellung von Pop, den Hang zur Theatralik und die Opulenz eingeatmet, war aber bei weitem nicht so klar und mutig ausformuliert wie 'The Colour Of Snow'. Wir haben aber immer noch Berührungsängste. Es gab Situationen, in denen wir überlegt haben, ob unser Sound nicht schon 'over the top' ist und zu sehr an der Schwelle zum Kitsch kratzt. "

Das deutsche Label der Band scheint sich der Gefahr bewusst gewesen zu sein, einer aufstrebenden Gruppe Anfang Zwanzigjähriger einen dicken Vorschuss fürs zweite Album zu gewähren. Jedenfalls wurde damit direkt das 70-köpfige Deutsche Filmorchester Babelsberg engagiert, das sonst nur für musikalische Schwergewichte wie Nena, die Söhne Mannheims und Udo Lindenberg musiziert.

"Ja, ich gebe zu: Wir haben einen gewissen Hang zu Größenwahn. Die Orchesteraufnahmen waren noch die teuerste und wahnwitzigste Aktion. Das ist ein Apparat, den man als Laie gar nicht kontrollieren kann. Deshalb haben wir uns professionelle Hilfe bei dem Dresdner Arrangeur Sven Helbig gesucht, der schon Partituren für die Pet Shop Boys oder Rammstein geschrieben hat. Wir haben unser Budget trotzdem bei weitem überschritten und mussten am Ende selbst draufzahlen."

"Queen - noch so eine größenwahnsinnige Band"

Noch vor den ersten Aufnahmen zogen sich Polarkreis 18 für sechs Wochen nach Calle zurück, ein kleines Kaff, 50 Kilometer südlich von Bremen, um Song-Ideen auszuarbeiten. Mit diesen ging es danach zu Produzent Mario Thaler nach Weilheim, wo schon Slut und The Notwist grandiose Alben aufnahmen.

"Der große Unterschied zur ersten Platte ist, dass wir nicht nach einem Sound gesucht haben, sondern nach Songs. Diese sollten möglichst bombastisch klingen. Wir haben dabei eine ähnlich Auffassung von Musik wie beispielsweise Queen - ebenfalls eine völlig größenwahnsinnige Band. Wir wollten Grenzen überwinden, den Kontext ruhig auch einmal sprengen.

Gleichzeitig sollten die Songs einfach und klar strukturiert sein. Nicht ohne Grund endet das Album mit der Zeile 'It's not easy – simplicity'. Wenn ich das singe, ist nichts mehr da, außer dem puren, rohen Gesang. Die komplette Band und das Orchester sind weggeknippst. Das ist unsere Vorstellung von Popmusik - auch wenn viele sagen, dass sei 'too much'."

Tatsächlich handelt es sich bei "The Colour Of Snow" um überbordende, einnehmende und sauber produzierte Popmusik, die kaum noch einer E-Gitarre bedarf. Wo bleibt da die geerdete Band hinter Polarkreis 18?

"Wir verstehen uns weniger als Band, als vielmehr eine Art Architekten, die versuchen, jedem Song ein klares Bild zuzuordnen und dieses textlich wie klanglich auszudrücken. Wir beziehen unsere Einflüsse auch weniger aus der Popmusik, sondern aus anderen künstlerischen Bereichen wie Architektur und Literatur.

Das Gebäude des Dresdner Hygiene-Museums ist für mich eine größere Inspiration als beispielsweise die Musik von Sigur Ros, mit denen man uns häufig vergleicht. Jede Kunstepoche hat eine Grundcharakteristik, die sich auch auf Musik anwenden lässt."

Wenn Felix Räuber schon damit anfängt: Welche literarische Epoche hat dann Einfluss auf Polarkreis 18 gehabt?

"Ich finde erstaunlich, was die Romantiker (etwa 1780-1810, Anm. d. Red.) zu ihrer Zeit geschaffen haben. Eine von Grund auf romantische Herangehensweise ist auch mit unserer Band verbunden. Das liegt daran, dass wir in der Provinz im Dresdner Elbtal zu Hause sind. Wir haben nie in einer Großstadt gelebt. Wenn wir morgens das Fenster aufmachen, kommt uns kein urbaner Lärm entgegen, sondern Vogelgezwitscher. Das beeinflusst unsere Musik, darum sind wir auf der Suche nach Harmonien."

"Komm, wir schreiben eine Hymne an die Einsamkeit"

Außerdem haben Polarkreis 18 die deutsche Sprache für sich entdeckt, die "The Colour Of Snow" textlich zu einem zweisprachigen Zwittergebilde macht. Kommt einem das nicht irgendwoher bekannt vor ...?

"Den Gedanken, in zwei Sprachen zu singen, haben wir uns von einem Künstler aus Österreich abgeschaut, den man eigentlich kennen müsste: Falco - ein entsetzlich verkannter Künstler, der wegen seines Größenwahns immer belächelt wurde. Man muss sich nur mal 'Jeanny' anhören. Ich habe mich beim Schreiben der Texte gefragt, warum ich eigentlich eine Fremdsprache benutze.

In der Muttersprache lassen sich Emotionen doch viel direkter vermitteln. Zeitweise hatten wir sogar den Plan, das ganze Album auf deutsch umzuschreiben. Wir haben dann aber festgestellt, dass es dann nicht mehr Polarkreis 18 wäre. Der Name stand immer für etwas Mystifizierendes. Etwas, dass man nicht komplett greifen kann. Also haben wir deutsche Passagen, die in ihrer Aussage für sich standen, einfach stehen gelassen."

Sinnbildlich für die Kunstsprache von Polarkreis 18 steht die Single "Allein, Allein", deren 1500-köpfiger Chorus am zehnten Band-Geburtstag in Dresden aufgenommen wurde. Felix Räuber erklärt die Idee zu dem Song:

"Kann es einen Feiertag der Einsamkeit geben? Tausende Menschen gehen auf die Straßen und feiern gemeinsam, dass jeder für sich einsam ist. Einsamkeit ist eine Eigenschaft, die alle Menschen miteinander verbindet. Wir haben daraus eine Hymne an die Einsamkeit gemacht, die aber alle Menschen mitsingen können. Nicht umsonst haben Hymnen die Funktion, Zusammengehörigkeit zu erzeugen. Nach solchen existenzialistischen Gefühlen haben wir gesucht."

Sagt Felix Räuber und verabschiedet sich höflich. Ein drittes Album plane man bereits, ließ er in einem Nebensatz noch wissen. Dieses soll noch ein ganzes Stück größer und opulenter klingen. Und vielleicht ist bis dahin die Raumfahrt so weit fortgeschritten, dass man ein ordentliches Musikvideo auf dem Mond drehen kann.

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LAUT.DE-PORTRÄT Polarkreis 18

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