Porträt

laut.de-Biographie

Swans

"Schwäne sind diese wunderschönen Tiere, die in Wahrheit vollkommen widerlich drauf sind. Hasserfüllte Kreaturen." So Michael Gira Amerikas große Indie-Ikone. Und genau diesen biologischen Aspekt schnappt er sich zur Konzeption und Erläuterung des Musikstils der Swans. Passender kann man es kaum ausdrücken. Seit 1982 lebt die Band diesen 'Keine Schönheit ohne Gefahr'-Gegensatz künstlerisch bis zum Exzess aus.

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Kontinuität findet sich weder in der Musik noch in der Besetzung der Band. Zwischen Klangarchitektur und Dekonstruktion plus gefühlten tausend Besetzungswechseln über drei Dekaden hinweg erobern sich die Schwäne ihren Platz in der Musikgeschichte. Um die Beständigkeit des Unbeständigen zu verstehen, ist ein herleitender Blick in Giras schillernde Biographie unerlässlich.

Bereits mit zwölf Jahren verfügt der 1954 in L.A. geborene Spross eines reichen Geschäftsmanns über ebenso einschlägige wie fundierte Drogenerfahrung. Hin- und hergezerrt zwischen den getrennt lebenden Eltern reißt der nach Freiheit gierende Junge mehrfach vom als kalt und einengend empfundenen Zuhause aus. Ins wilde Amsterdam und den gefährlichen Nahen Osten führt ihn der abenteuerliche Trip.

Aufgegriffen in Israel wegen Drogenhandels, verbringt der Teenager kurze Zeit im Erwachsenenknast, arbeitet hernach in einer Kupfermine und lebt bei einer persisch-jüdischen Emigrantenfamilie. Nur mit Mühe und der Hilfe Interpols kann ihn sein Vater finden und zur Rückkehr gen Kalifornien bewegen. Diesen prägenden Abschnitt verarbeitet der umtriebige Tausendsassa später u.A. in den Liedern "Lenas Song" und "My True Body".

Als Gira 1979 nach New York City zieht, erliegt er sofort dem brodelnden kreativen Sud der Lower Eastside. Musikalische Grenzgänger wie Suicide oder die kurzlebige gleichwohl einflussreiche No Wave Bewegung faszinieren und inspirieren gleichermaßen. Zur Entwicklung eigener Visionen gründet er die Swans. Hungrige Mitstreiter finden sich schnell pulsierenden im Big Apple der frühen 80er. Sogar Gira-Bewunderer Thurston Moore, Mastermind der Sonic Youth, ist für eine kleine Weile mit an Bord.

Zu Anfang klingen sie wie eine Art deformierte Joy Division-Variante, deren Postpunk sie durch Minimalismus, Bluesanleihen à la Howlin' Wolf und jazzige Instrumentierung erweitern. Hinzu tritt im Verlauf der ersten Alben ohrenbetäubender Krach und eine Art Zeitluben-Metal, der dem Hörer anno 1984 vorkommt wie Musik vom anderen Stern. Wer die Brachialität des Live-Berserkers nachempfinden möchte, dem sei besonders die frühe Glanztaten "Filth" und "Cop" ans pulsierende Herz gelegt.

Swans - The Beggar
Swans The Beggar
So optimistisch klang eine Swans-Platte noch nie.
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Gira, der gern Jean Genet oder den Marquis de Sade zitiert und für sich abwandelt, verstört Publikum und Kritiker auf der 'Höre es mit Schmerzen'-Ebene ähnlich intensiv wie zeitgleich die Neubauten am anderen Ende der Welt. Mit aggressiver Grundhaltung und expressiver Eruption bis hin zur Schlägerei provoziert er nicht selten das Einschreiten von Polizisten bei seinen Gigs.

Mit dem Eintritt von Sängerin und Performance-Künstlerin Jane Jarboe a.k.a. 'The Living Jarboe' hält das mantrische Element angedeuteter Chants Einzug im Kosmos der Swans. Auch akustische Instrumente verändern die Atmosphäre des Projekts nachhaltig. In London nehmen sie ihren 1987 erscheinenden Geniestreich "Children Of God" auf. Ein Meilenstein in der Geschichte von Alternative Music, der bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt hat.

Die 71-minütige Mischung aus hypnotisch getragener Transzendenz (etwa "You’re Not Real, Girl") und extrem heftigen Brachialklumpen wie "New Mind" schlägt das Indie-Publikum sofort in ihren Bann. "New Mind" mausert sich sogar zum Clubhit in Szenediskos und gilt bis heute als unverzichtbares Aushängeschild auf Swans-Konzerten.

Nach diesem durchschlagenden Erfolg gönnt man sich und den Fans etwas Entspannung mit den Single Hit der Joy Divison Hommage "Love Will Tear Us Apart". Der Song erscheint in diversen Versionen (akustisch wie elektrisch; gesungen von Gira und alternativ von Jarboe). Eine wundervoll ästhetische Komplettierung des Originals. Mehr Variation denn schnöde Coverversion und mit abstand ihr popkulturell erfolgreichster Track.

Doch die Transformation der Entenvögel ist längst nicht an ihrem Ende angelangt. Für das eindrucksvolle 1989er Werk "The Burning World" schnappt 'der wahnsinnige Amerikaner' sich kurzerhand Avant-Guru Bill Laswell als Mitproduzenten und kreativen Widerpart. Das Ergebnis ist auf seine Art nicht weniger beeindruckend als das "Kinder Gottes"-Album. Eingängigere Melodien und für Michael Rolfe Gira nahezu zarter Folk gehen eine filigrane Verbindung mit BLs Worldmusic-Ideen ein. Türkische wie indische Elemente integrieren sich unerwartet stimmig. Für Novizen, die es nicht ganz so zerstört mögen definitiv das perfekte Einstiegsalbum.

Nach weiteren hochklassigen Alben auf dem von Michael Gira seit 1990 betriebenen Label Young God Records und einer zwischenzeitlichen wieder etwas deutlicheren Hinwendung zu rockig-noisigem Endzeitblues, legt der überlastete Freigeist die Swans kurzerhand auf Eis. Zahlreiche Nebenprojekte erscheinen ihm zum damaligen Zeitpunkt fruchtbarer. Mit der eigens gegründeten illustren Combo Angels Of Light führt er zwischen 1999 und 2007 die mit der Mutterband begonnene Auslotung nahtlos fort. Sogar Freak Folkie Devendra Banhart schaut als Gast gern vorbei. Jedem Swans-Freund seien die allesamt großartigen sieben Platten besonders empfohlen.

2010 verkündet Gira auf seiner Website: "SWANS ARE NOT DEAD"! Es folgt ein neues Studiowerk und diverse Live-Aktivitäten. Der große Comeback-Wurf gelingt indes medial wie auf Fanseite erst 2012 mit dem majestätisch beeindruckenden Monolithen "The Seer". Erstmals vereinigen sich die beiden harten und zarten Seelen in der Brust des Komponisten zur totalen Einheit.

Mit den besten Zutaten beider Strömungen plus Backing Vocals von Muse Jarboe reiht sich die Doppel-LP nahtlos in die Riege von "Children Of God" und "Burning World" ein. Entsprechend selbstbewusst nennt MG die Scheibe "Eine Kulmination aller bisheriger Swans-Alben, deren Entstehung 30 Jahre brauchte."

Mit dem selben Selbstbewusstsein gehen die Swans auch an den Nachfolger "To Be Kind" heran, der zwei Jahre später erscheint und von Gipfel zu Gipfel eilt, ohne dass Talsohlen existieren. Mit "The Glowing Man" findet das zweite Bandkapitel, das mit dem Wiederaufleben des Projekts 2010 begann, 2016 ein grandioses, schweres und ausuferndes Ende. Der großartige Restart gelingt den Swans 2019 mit "Leaving Meaning" in neuer Besetzung mit namhaften Gästen wie Anna von Hausswolff oder Jeremy Barnes (Neutral Milk Hotel, Beirut). Allerdings findet Michael Gira mit dem Projekt während der Corona-Zeit kaum die Möglichkeit, die Platte live zu spielen.

So hat er laut eigener Aussage "nach" einer "bodenlosen Grube des Wartens, Wartens, Wartens und einer seltsamen Orientierungslosigkeit, die mit dieser abrupten, aber nicht enden wollenden Situation einherging", beschlossen, "Songs für ein neues Swans-Werk zu schreiben" und "alles andere" hinter sich zu lassen, "immer in dem Bewusstsein, dass es" seine "letzten sein könnten". Danach hat er mit langjährigen "Freunden" wie Kristof Hahn oder Larry Mullins sowie Gast-Musikern wie Ben Frost die Tracks in "Berlin" aufgenommen. Das Ergebnis erscheint 2023 in Form von "The Beggar", einem Doppelalbum, auf dem die Musik der Swans trotz aller dunklen Momente so optimistisch klingt wie noch nie.

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Swans - The Beggar: Album-Cover
  • Leserwertung: 5 Punkt
  • Redaktionswertung: 5 Punkte

2023 The Beggar

Kritik von Toni Hennig

So optimistisch klang eine Swans-Platte noch nie. (0 Kommentare)

Fotogalerien

Berlin, Admiralspalast, 2023 Ein Konzert wie in Trance: die US-Experimentalrocker live in der Hauptstadt.

Ein Konzert wie in Trance: die US-Experimentalrocker live in der Hauptstadt., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Ein Konzert wie in Trance: die US-Experimentalrocker live in der Hauptstadt., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Ein Konzert wie in Trance: die US-Experimentalrocker live in der Hauptstadt., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Ein Konzert wie in Trance: die US-Experimentalrocker live in der Hauptstadt., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta)

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