Festival-Kurator Detlef Diederichsen über die Dominanz des Westens im Pop und den didaktischen Anspruch der Berliner 'Wassermusik'.

Berlin (aba) - Andere Klänge aus anderen Sphären, aber immer Pop. Das Wassermusik-Festival im Berliner Haus der Kulturen der Welt will mit einem ausgewählten Programm aus Musik und Filmen seinem Publikum Künstler aus eher abgelegenen Weltgegenden näher bringen.

Für die diesjährige siebte Ausgabe des Festivals hat Kurator Detlef Diederichsen den Schwerpunkt auf die Pazifikregion gelegt und die unterschiedlichsten Künstler zusammengebracht, um nicht nur zu unterhalten, sondern auch klarzumachen: Popkultur wird nicht nur in Amerika und Europa gemacht, sondern ist ein weltweites Phänomen.

Diederichsen gründete in den 80ern in Hamburg die Band Die Zimmermänner, war später als Musikjournalist tätig und stellt in einer wöchentlichen Radiosendung Musik von allen Kontinenten vor. Im Restaurant des Haus der Kulturen der Welt, für das er seit 2006 verschiedenste Festivals und Ausstellungen auf die Beine stellt, sprach laut.de mit ihm über das aktuelle Programm und den Pazifik als 'globales Machtzentrum'.

Herr Diederichsen, Sie haben dem Programmheft ein Zitat von Barack Obama vorangestellt, in dem der Präsident der USA unter dem Schlagwort des Pazifikraumes als neuem 'globalen Machtzentrum' vor einiger Zeit eine neue Geopolitik für diese Weltregion ausgerufen hat. Bekommt solch ein Pop-Festival damit nicht eine politische Bedeutung übergestülpt, die vielleicht gar nicht gewollt ist?

D: Das ist nur halb ernst zu nehmen. Das Festival ist in erster Linie ein Sommer-Open-Air, bei dem wir grandiose Tage und Abende auf der Dachterrasse erleben wollen und die Leute hoffentlich tolle musikalische Erlebnisse haben werden und Entdeckungen machen. Wir wollen nicht allzu didaktisch werden. Das Obama-Zitat ist ein guter Aufhänger gewesen, damit es eine Klammer hat – auch um Beliebigkeit zu vermeiden. Dennoch ist ein kleines Zusatzangebot implementiert. Du kannst einfach nur ein Bierchen auf der Dachterrasse trinken und es dir wohl ergehen lassen. Aber derjenige, der fragt, wo bestimmte Dinge herkommen und wie sie einzuschätzen sind, dem bieten wir die Möglichkeit Überbau mitzunehmen. Sei es im Filmprogramm oder sei es, wenn am Wochenende darauf etwas ähnliches gespielt wird.

So etwas voranzustellen, ist doch auch eine Art Kniff, um die Relevanz dieses Kulturraumes für das Publikum herzustellen? Nach dem Motto: Wenn Barack Obama das sagt, dann müsst ihr jetzt aber mal herkommen und das auch kennenlernen.

D: Ja. Der Kniff ist eher so zu sehen: Wir definieren einen Raum, der kulturhistorisch gesehen keiner ist. Zu diesem Raum gehört ja auch die US-Pazifikküste, deren Kultur allerdings bestens repräsentiert und in Europa, in Berlin wohlbekannt ist. Musiker und Filme aus Los Angeles? Da muss ich niemanden mehr etwas Neues, Tolles, Unentdecktes vorstellen. Das stelle ich in einen Zusammenhang mit Sachen aus Thailand, Peru und Australien. Dadurch bekommt man vielleicht eine komplett neue Wahrnehmung, weil zusammengebracht wird, was sonst nicht zusammengebracht wird. Das alteingesessene Weltmusikpublikum wundert sich ja genauso, dass wir jemanden wie Robert Forster hier haben, der wiederum jenseits ihrer Wahrnehmung liegt. Die freuen sich über die lateinamerikanischen und asiatischen Bands, aber Gitarrenpop ist ihnen zu britisch. Das kann man dann unter dieser geopolitischen Klammer gut zusammenbringen.

Die Größe des Pazifikraumes ist schier überwältigend, dementsprechend auch das kulturelle Angebot, was man von dort hierher holen kann. Wie wählt man dann die dreißig bis vierzig Bands, Filmemacher und Diskussionsteilnehmer aus, die diesen Raum nun repräsentieren sollen?

D: Einige Sachen habe ich mir vor Ort angesehen: In China habe ich Nova Heart kennengelernt, in Koumbien die Meridian Brothers und Troker habe ich in Mexiko entdeckt. Robert Forster kenne ich ohnehin schon seit längerer Zeit, weil ich einmal in seiner Band gespielt habe. Matias Aguyo ist ein alter Bekannter des Festivals und das dritte Mal dabei. Manches ist uns auch von Informanten zugetragen worden. Wir haben sozusagen ein NSA, das weltweit aktiv allerdings auf Musikdateien spezialisiert ist. Es ist eine Mischung. Die eine Hälfte haben wir selber aufgespürt, die andere Hälfte kommt von Tippgebern und einige Bands und Musiker werden uns von Agenturen angeboten.

Sie haben einmal gesagt, dass selbst die Kuratoren heute Kuratoren benötigen würden, um sich einen Überblick über die schiere Masse der Musik, die durch das Internet quasi unbegrenzt verfügbar ist. Ist diese Auswahl also schwieriger geworden?

D: Es ist ja das Problem, dass es unbegrenzt ist. Wenn ich sage, ich möchte eine Gruppe aus Peru haben und die übers Internet suchen wollen würde, ohne dass ich etwas weiß, dann lande ich bei einigen hunderttausend Youtube-Links. Wenn ich mich da jeden Tag acht Stunden davor setze, kann ich vielleicht nach 14 Jahren sagen, welche Band die beste war. Was ich damit sagen will: Du bist angewiesen auf eine Mischung aus persönlichen Vorlieben und aus Hinweisen.

Da über das Internet heute Musik aus den entferntesten Regionen theoretisch für jeden ganz einfach zugänglich ist, kann man zu dem Schluss kommen, dass es Menschen, die eine Vorauswahl treffen – wie Musikredakteure, Festivalkuratoren und Radiomoderatoren, was sie ja auch sind – gar nicht mehr bräuchte ...

D: Doch eben gerade. Es wird mehr benötigt denn je. Diese Berufsgruppen haben ja auch in der Vergangenheit nicht Sachen verfügbar gemacht, sondern schon immer eine Auswahl getroffen. Ein bestimmter Radiomoderator wurde dann besonders beliebt und ein Star, wenn er die interessanteste Auswahl getroffen hat. Und nicht jemand, der meinungsschwach war, ein beliebiges Programm gemacht hat und sich von Plattenlabels Dinge diktieren ließ. Heute haben wir ein formatiertes Radio auf der einen Seite und auf der anderen Seite sehr viele Independent- und Netzaktivitäten. Auch da gibt es hunderttausende interessanter Stationen weltweit, die ich jetzt alle anpieksen könnte. Da ist es doch schön, wenn mir jemand spezielle Empfehlungen gibt. Das gilt im Prinzip für alles und für den Konsumenten, der sich nicht professionell damit beschäftigt, noch viel mehr. Er ist darauf angewiesen, dass ihm jemand diese Auswahlarbeit abnimmt.

Wird ihre Auswahl heute von, ich nenn sie jetzt mal 'Besserwissern', kritischer beäugt, weil die dann fragen, warum dies oder jenes gespielt wurde und nicht das andere, was sie eben über einen der hunderttausend Youtube-Links gefunden haben?

D: Ich habe zumindest nicht die Erfahrung gemacht, dass die Besserwisser selbstbewusster auftreten. Ich habe das auch immer gedacht, jetzt aber eher das Gefühl, dass sie es früher viel mehr getan haben und sie heute auch verunsicherter sind, weil sie selbst das Gefühl haben, vieles noch nicht mitbekommen zu haben, nicht hinterherkommen und es schwieriger wird, sich eine Meinung zu bilden. Wenn ich überall nur oberflächlich mal reinskippen kann, entwickeln sich nicht so tiefe Leidenschaften und gehen die Leute auch nicht auf die Barrikaden, wenn ich etwas weglasse und dafür etwas anderes mache. Es ist auch niemandem vorzuwerfen, wenn er mit Blick auf unser Programm sagt, da hätte man doch auch 20 andere Bands nehmen können. Da muss ich klar sagen: Hätte man! Man hätte das auch ganz anders machen können. Diese Bands und Künstler geben nicht das dezidierte, wahre und einzige Bild wieder, diesen Anspruch setzen wir uns selber gar nicht. Aber wir setzen uns den Anspruch, dass es ein Festival ist, bei dem wir hinter jeder einzelnen Band stehen können und sagen: Das ist nicht nur eine tolle Band, sondern sie passt auch zum Thema.

Im vergangenen Jahr spielte das Festivalthema 'Süd-Süd' ja auch auf die Dominanz des Nordens über den Süden an. Denken Sie, es gibt eine Art Pop-Kolonialismus, also eine extreme Dominanz der amerikanisch-europäischen Popkultur mit all ihren dazugehörigen Mechanismen?

D: Ja, die Strukturen sind natürlich da. Die weltweite Musikindustrie hatte immer ihren Sitz in London, New York und ein wenig noch in Paris. In London und Paris wurde fünf Jahrzehnte lang bestimmt, was an afrikanischer Musik produziert wird und unter welchen Bedingungen. Auch wenn sich die Umstände – nicht zuletzt wegen des Internets – teilweise geändert haben, bekommt man so eine Struktur nicht so schnell raus. Es ist immer noch so: 99 Prozent der globalen Popstars sind Amerikaner oder Engländer. Da gibt es mal ein paar Ausnahmen, aber auf jede Ausnahme kommen auch wieder dutzende Bestätigungen der Regel. Es gibt in Japan und Korea Megastars, die auch im asiatischen Raum Stadien füllen, hier aber überhaupt nicht angekommen sind. In Afrika, jedenfalls im subsaharischen Afrika minus Südafrika, hat sich so etwas wie eine Popstruktur und Musikindustrie sowieso nie etabliert. Das hat seine guten Seiten, weil man jetzt nicht mit alten Strukturen kämpfen muss und auf die jetzige Situation der weltweiten Industrie schon eingestellt war: Nämlich, dass sich mit dem Verkauf von Tonträgern und Musikrechten nicht mehr viel Geld verdienen lässt. Aber auch dort ist es so: Wenn irgendwelche US-Popstars gnädigerweise dort auf Tour gehen, ist die Hölle los. Das kann kein lokaler Künstler erreichen.

Warum ist es denn so schwierig, Popmusik von anderen Kontinenten wie Lateinamerika, Asien und auch Afrika ins Bewusstsein des europäischen Musikkonsumenten zu bringen?

D: Ich weiß es nicht. Einerseits funktioniert das bei einigen ganz leicht, da staunt man manchmal. Andererseits muss man die Leute teilweise wirklich nehmen und schütteln, bis sie einmal auf etwas aufmerksam werden. Ich wundere mich auch immer über die Musikmagazine hierzulande: Da bringt Spex eine wunderbare Geschichte über Kuduro und Angola auf vielen Seiten. Wenn ich mir dann aber die Tonträger anhöre, ist vielleicht mal der ein oder andere Song von dort dabei, aber größtenteils ist es das gängige anglo-europäische Angebot. Diesen Kurs verstehe ich nicht. Vielleicht sind das aber auch nur Leute, die von der Vielzahl überwältigt sind und nicht genau wissen, wie sie das auswählen sollen. Oder sie wählen von vornherein gar nicht so gezielt aus, sondern sehen einfach: Dieser Autor bietet dies an, der andere jenes, der von der Plattenfirma ruft ständig an und nervt deswegen, und die Band war letztes Mal in unserem Kritiker-Poll auf Platz drei, das müssen wir also auch machen. Und Rumms hat man wieder ein Heft voll. Ob das aber die interessantesten Sachen waren und ob da nicht tolle Themen wie die Meridian-Brothers hinten runterfallen, ist dann am Ende des Tages bei so einer Heftproduktion auch egal. Da wird ein pragmatischer Weg gewählt: Der Text ist schon da, da muss ich fürs nächste Mal nur noch einen neuen bestellen.

Ihr letzter eigener Artikel in der Spex handelte von dem südafrikanischen Musiker Jonti und auch durch ihre Radiosendungen gelten sie als ein Entdecker in Popsphären, die an den verschiedensten Enden der Welt stattfinden. Mal so herum gefragt: Was langweilt Sie an der amerikanisch-europäischen Popmusik?

D: Gar nichts. Aber gerade wenn es um die Dominanz von englischsprachiger Musik geht, habe ich mich schon immer gefragt: "Is that all there is?" Zum ersten Mal bestätigt wurde ich, als ich brasilianische Musik heftiger entdeckt und gedacht habe: Okay, es ist nicht "all there is", es gibt andere Dinge, die ganz anders funktionieren, nicht auf Englisch sind und die sich auch nicht immer an den gleichen Vorbildern orientieren, sondern einen eigenen Kosmos haben. Ich habe aber gleichzeitig nichts gegen tolle Musik aus England oder den USA, im Gegenteil. Das ist aber kein Grund, jeden mittelmäßigen 47. Aufguss von den Beatles und den Smiths zu hypen und so zu tun, als ob es das noch nie gegeben hätte. Dieses Indie-Pop Universum – vier Jungs mit origeinellen Frisuren und Gitarren – ist nun wirklich das Gähnste vom Gähnen und etwas, was ich mir bestimmt nicht ohne Not anhören werde. Es geht aber, auch in den hiesigen Medien, immer noch hauptsächlich darum, dass noch einmal eine solche Band kommt, die soundso ist und ganz toll. Wird natürlich im nächsten Jahr schon wieder vergessen oder verrissen. Das habe ich mir viele Jahre angeschaut, nun bitte nicht mehr.

Aus Konsumentensicht ist das vielleicht verständlich, weil man eine gewisse Gewöhnung an klassische Popschulen hat und sich dann freut, eine Band zu finden, die "so ähnlich" wie The Beatles oder The Smiths klingt. Gibt es dieses nostalgische Musikempfinden bei Ihnen nicht auch?

D: Eher umgekehrt. Ich habe immer versucht, herauszufinden, wo bestimmte Dinge herkommen und ob die nicht viel besser sind. Ich erinnere mich noch als Singer/Songwriter und die Hippie-Musik immer weiter in Richtung Country driftete, hab ich mir richtigen Hardcore-Country angehört. Denn will ich mir Hippies anhören, die wie Merle Haggard klingen? Will ich dann nicht lieber Merle Haggard selbst hören? So funktioniert das bei mir. Wenn es andererseits Leute gibt, die Stile toll weiterentwickeln und neu erfinden: Wunderbar! Die Geschichte auf neue Beine stellen, das finde ich noch interessanter.

Dabei geht es ja oft um Referenzen und Bezüge, die man mitbekommt und von denen man ausgeht. Ähnlich ist es ja in der Kritik und im Darüber Reden: Diese Band nimmt Anleihen von dort und zitiert das und das, so lautet ja oft der Wortlaut in Artikeln. Ist das auch auf der journalistischen Ebene ein wichtiges Mittel oder schreibt man das nur, wenn einem sonst nix einfällt?

D: Ich habe immer so versucht über Musik zu schreiben, wie ich über Musik rede, wenn ich einem Freund erzähle, was für eine geile Platte ich gerade gehört habe, sie ihm aber nicht vorspielen kann. Also muss ich ihm erzählen: Stell dir mal vor, der und der und dieser und jener machen das und das. Solche Vergleiche verwendet man dann natürlich, weil einem nichts anderes einfällt. Wenn man nur Sprache zur Verfügung hat, ist das aber legitim. Daneben gibt es ja noch etwas, was unter den Künstlern eine große Rolle spielt: Sie bauen bestimmte Bezüge auch mit Lust und Wonne ein, mal absichtlich, mal unabsichtlich. Dies herauszufinden und einzuordnen und wiederum einen Kontext herzustellen, ist auch Aufgabe des aufmerksamen und im Idealfall auch kenntnisreicheren Kritikers. Der Kritiker sollte ja kenntnisreicher sein als das Normalpublikum und auf Dinge hinweisen, damit es dann sagen kann: Ach so!

Mit Detlef Diederichsen sprach laut.de-Mitarbeiter Andreas Bachmann

7 Kommentare

  • Vor 10 Jahren

    @Morpho (« Aber Hauptsache das Smudo-Interview kann man immer noch nicht kommentieren. Da sieht man mal, wie Rainer auf den Interessen der gesamten Community rumtrampelt. »):
    Schon wieder geil auf das rumgetrolle, wa? ;)

  • Vor 10 Jahren

    "Das ist aber kein Grund, jeden mittelmäßigen 47. Aufguss von den Beatles und den Smiths zu hypen und so zu tun, als ob es das noch nie gegeben hätte. Dieses Indie-Pop Universum - vier Jungs mit origeinellen Frisuren und Gitarren - ist nun wirklich das Gähnste vom Gähnen und etwas, was ich mir bestimmt nicht ohne Not anhören werde." Irgendiwe spricht mir dieser Mann mit allem, was er sagt, aus der Seele.

  • Vor 10 Jahren

    @Interzone (« @Morpho (« Aber Hauptsache das Smudo-Interview kann man immer noch nicht kommentieren. Da sieht man mal, wie Rainer auf den Interessen der gesamten Community rumtrampelt. »):
    Schon wieder geil auf das rumgetrolle, wa? ;) »):

    Sommerloch eben. :(