16. Mai 2017

"Wir haben schon immer polarisiert"

Interview geführt von

Das neue Linkin Park-Album dürfte die Fans wieder spalten. Die Band schlägt abermals ein neues Sound-Kapitel auf. Chester Bennington kann es kaum erwarten.

Die kalifornische Band hatte ja immer schon einen leichten Hang zur Pop-Freundlichkeit und vor allem zu Veränderung, aber was Linkin Park rund um das Frontman-Gespann Chester Bennington und Mike Shinoda dieses Jahr mit "One More Light" präsentieren, hat mit Rock jedenfalls kaum noch was zu tun.

Dass die ehemaligen Nu-Metaller damit nicht allen eine Freude machen werden, ist Chester Bennington durchaus bewusst, wie er beim Gespräch in Berlin gut gelaunt erzählt. Warum es Linkin Park ihre Fans auch künftig herausfordern wollen, erläutert Bennington im Interview ausführlich.

Chester, für euer neues Album habt ihr mit externen Songwritern zusammengearbeitet. Wie kam es dazu?

Die ersten fünf Alben haben wir immer alleine gemacht und alles innerhalb der Band gehalten. Wenn es bei uns Kollaborationen gab, dann nur bei Remixes und dergleichen. Bis wir "Rebellion" gemeinsam mit Daron von System Of A Down geschrieben haben. Das haben wir sehr genossen. Der Tour-Zyklus für "Hunting Party" ging in Europa zu Ende und danach hing Mike noch in London mit zwei Songschreibern ab, während wir nach Hause geflogen sind. Er war einfach neugierig auf den Prozess, Songs mit Menschen zu schreiben, die diese nicht live spielen. Was tun sie, wie tun sie es? Dadurch hat er sehr talentierte Leute kennengelernt.

Es macht großen Spaß, mit anderen Leuten in einem Raum zu sitzen und etwas zu kreieren. Bei Linkin Park haben wir ein sehr spezielles Muster, wie wir Dinge angehen, eine Art, in der wir uns eben wohl fühlen. Wenn du ein neues Element reinbringst, dann kommt etwas Aufregendes hinzu, das du so zuvor noch nicht gespürt hast. So kam unser Kollabo-Plan mit diesen großartigen Songschreibern zustande. Früher mussten wir manchmal 300 Demos unter Kontrolle bringen. Wir haben uns durch 40 bis 70 Demos gehört, jeder durfte Striche verteilen, bis wir 20 Songs mit vier Strichen hatten, was bedeutet, dass vier von sechs Bandmitgliedern diesen Song mögen. Ob Heavy-Rock-Demo, R&B, Hip Hop oder Breakbeat: Der Stil des Demos beeinflusst die Gesangsperformance und die Lyrics.

Nachdem wir das Demo ausgewählt haben, suchen wir eine Melodie, dann schreiben wir die Texte. So haben wir es auf jeder Platte gemacht. Dieses Mal saßen wir uns in einem Raum gegenüber und hatten gar nichts. Kein einziges Demo. Wir sprachen über Dinge, die in unseren Leben gerade so passieren und haben auf die Inspiration gewartet. Wie geht's dir, worüber willst du reden? Am Ende des Tages hatten wir Text, Melodie, Akkord-Folgen am Klavier, Akustikgitarren. Es war echt interessant. Wir haben einige tolle Melodien und Texte hinbekommen.

Magst du es, bei Null zu starten?

Ja, ich mag das. Ich arbeite am besten, wenn ich wirklich inspiriert bin. Wenn ich gerade etwas durchmache und es in meinem Kopf höre. Und das sind immer zuerst Textzeilen und Melodien. Während wir reden, steht Mike auf und spielt am Klavier, bis einer sagt "Oh, das ist dope, was war das, spiel's nochmal!" Dann summt jemand eine Melodie, ein anderer kommt mit einer Textidee und so weiter. Das war für uns eine wirklich schnelle Arbeitsweise. Am Ende eines jeden Tages hatten wir einen neuen Song.

"Wir waren nie eine Band, die gemeinsam abhängt und jammt"

Wart ihr immer alle gemeinsam im selben Raum?

Nein, das passiert ganz selten, dass die ganze Band anwesend ist. Die häufigste Kombination während des Schreibens besteht aus Mike, Brad, den Kollaborateuren und mir. Mike und Brad übernehmen im Studio meistens die Schwerstarbeit. Sobald wir die Tracks dann aufbauen, kommt die ganze Band ins Spiel: "Wir haben 40 Songs. Jetzt brauchen wir echte Drums." Wir waren einfach nie die Band, die gemeinsam abhängt und Songs jammt.

Nicht so wie die Red Hot Chili Peppers beispielsweise.

Sogar bei den Stone Temple Pilots war stets die ganze Band im Raum: Dean, Robert, Eric und ich. Dean begann irgendwas zu spielen, ich sang etwas dazu und dann jammten wir auf das Ganze. Das ist bei Linkin Park nicht so. Nicht einmal annähernd.

Hast du die Arbeitsweise bei STP genossen?

Es hat Spaß gemacht, aber STP sind halt keine sechs Leute. Wenn Eric mal nicht da war, waren das nur ich und zwei der besten Songschreiber aller Zeiten. Das kann ich aber auch behaupten, wenn ich mit Brad und Mike im selben Raum bin. Wieder ich mit zwei der besten Songwriter aller Zeiten.

Auf eurer ersten Single "Heavy" habt ihr ja Kiiara als Gastsängerin dabei, eigentlich eine ziemlich ungewöhnliche Zusammenarbeit.

Bei "Heavy" arbeiteten wir gemeinsam mit Julia Michaels und Justin Tranter. Die haben riesige Songs geschrieben, sind beide immens talentiert. Julia hat auch eine großartige Stimme. Zunächst sang sie die erste Zeile und ich fand das scheißcool. Beim Schreiben ging es immer hin und her, eine Zeile ich, dann wieder sie. Wir fanden, dass sie den Song mit uns singen sollte. Zu dieser Zeit fühlte sie sich in dieser Rolle aber nicht wohl und wollte eher hinter dem Vorhang arbeiten. So entstand die Idee, dass für den Song ein weiblicher Gesangspart gut wäre. Wir haben unseren Freund Zane Lowe eingeladen, sich die Stücke anzuhören. Wir genießen nicht nur seine Gesellschaft, er hat auch ein richtig gutes Ohr für Musik. Wir sagten ihm, dass dies die Richtung ist, in die wir gehen wollen und fragten ihn nach seiner Meinung.

Er liebte die Musik und erzählte uns von diesem Mädchen, Kiiara. Wir kannten ihren Song "Gold" und Zane meinte, sie sei gerade dabei richtig groß rauszukommen – und dass sie ein Linkin-Park-Fan ist. Wir fanden sie cool, sie kam ins Studio und Boom! Sie sang wie ein Engel. Es war toll, Zeit mit ihr zu verbringen und ihr ein paar Tipps zu geben. Julias und Kiiaras Vocals sind sehr unterschiedlich, aber sie haben beide etwas Spezielles an sich.

Lass es mich mal vorsichtig formulieren. Wir wissen ja alle, dass sich Linkin Park nicht gerne zu lange mit einem Sound aufhalten ...

(lacht) Ja, das haben wir schon etabliert.

Über euren neuen Sound waren dann aber doch viele sehr, sehr überrascht. Egal ob man es jetzt eine Abkehr nennen möchte, eine Weiterentwicklung oder einfach eine neue Idee, die ihr verfolgt habt – verstehst du es, dass viele Fans nicht wirklich wissen, wie sie das neue Material jetzt einordnen sollen?

So polarisierend wie der Sprung vom letzten Album zu "One More Light" dürfte bislang nichts bei uns gewesen sein. "Minutes To Midnight" war für die Leute aber ein noch größerer Schock, denke ich. Einfach weil "Hybrid Theory" und "Meteora" einen so ähnlichen Sound hatten, fast wie Volume 1 und 2. Bei "Minutes To Midnight" wollten wir einen organischeren, raueren Klang. Wir wussten, dass es entweder großartig wird oder ein verficktes Desaster. Aber wir müssen immer die Musik machen, auf die wir gerade Lust haben. Wir können nicht sagen "Okay, das mochten die Leute, also machen wir es wieder genau so." Anders gesagt: Ich mag Käsekuchen. Aber ich mag nicht jedes Mal Käsekuchen essen, wenn ich Nahrung zu mir nehme. Ich mag es, aber ich möchte was anderes ausprobieren. Und so funktionieren wir.

"The Hunting Party" war die härteste Platte, die wir je gemacht haben, richtig? Rock in your fucking face. Gesangstechnisch sind wir da ähnlich vorgegangen wie bei "Minutes To Midnight", nicht viele Gesangsdopplungen, einfach intensiv. Und dann kommen wir mit so etwas wie "Heavy" an den Start und die Leute denken sich "Whoa, verrückt, ihr wart doch vor einer Minute noch hier und jetzt seid ihr nicht mal mehr im selben Solarsystem sondern in einer anderen Galaxie." Für uns ist es einfach wichtig, sicher zu stellen, dass die Songs großartig sind, dass da ein hohes Qualitätslevel in Sachen Musikalität, Produktion und Lyrics ist. Und wenn sich der Staub erstmal von diesem unerwarteten Schlag gesetzt hat, kannst du es dann dafür schätzen, was es ist und nicht für das, wie du es dir eben vorgestellt hast.

Hast du dir schon jemals ein Glas genommen und gedacht, da ist Cola drin? Und dann hast du einen Schluck genommen und bist drauf gekommen, das ist der Eistee von jemand anderem? Dein Gehirn erwartet etwas anderes und du spuckst es aus, weil deine Geschmacksknospen Cola erwarten. Nun, ich mag Cola und Eistee. Aber wenn ich Cola erwarte und Eistee kriege, schmeckt's mir nicht. Aber wenn ich mir dessen bewusst bin und umdenke, dann schmeckt mir beides. Und so geht es manchen Fans mit unserer Musik. Ich mag es, in einer Band zu sein, bei der es sich anfühlt, als wäre ich immer wieder in einer neuen Band. Und das macht auch Sinn. Wir hießen früher aus gutem Grund Hybrid Theory. Wir wollten nicht nach Metal Island fahren und dort den Rest unseres Lebens verbringen.

Ich respektiere unsere Fans und ich bin dankbar, dass sie immer mit uns mitgekommen sind. Bei jedem neuen Album gewinnen Fans dazu und wir verlieren Fans. Als "Hybrid Theory" rauskam, wurde die Platte nicht so hoch gelobt wie heute. Wir sind mit Bands getourt, die über uns sagten, dass sie uns verdammt noch mal hassen. Ich werde jetzt nicht sagen, wer das war, aber für die Metal-Welt waren wir zu sehr Pop, für Pop zu sehr Metal, für die Rock-Welt waren wir zu Alternative und für Alternative zu sehr Hip Hop. Wir wollten uns einfach nur treu bleiben und nicht so sein, wie man es von uns erwartet.

"Und dann spielten wir plötzlich bei den Grammys mit Paul McCartney"

"Hybrid Theory" hatte aber schon einen großen Einfluss auf die damalige Musikszene, es brachte schließlich den Pop-Appeal in den New Metal.

Ich weiß nicht, ob ich das so sagen würde. Wenn jemand die Platte damals nicht mochte, dann mochte er sie eben nicht, es gibt kein richtig oder falsch. Wenn sie jemand liebte, galt das ebenso. Ich glaube, bei jedem Album haben wir Songs, mit denen sich Leute identifizieren können. Manche sagen "Vorher mochte ich Linkin Park nicht, jetzt schon" und andersrum. Wir haben immer schon polarisiert. Ich finde das gut, denn wie auch immer jemand zu uns steht, man redet über uns. Unsere Musik ruft eine emotionale Antwort hervor.

Mir fällt auch auf, dass Leute mit der Zeit ihre Meinung ändern. Wenn du mit Erwartungen über etwas in die Sache gehst und etwas anderes bekommst, bist du irritiert. Mir geht es so mit Filmen. Wenn ich mir von einem Film etwas bestimmtes erwarte und etwas anderes bekomme, gehe ich eher unentschlossen aus dem Kino. Sieben Jahre später aber schau ich mir den selben Film nochmal an und er gefällt mir plötzlich. Weil ich jetzt weiß, was er ist. Ich kann die Geschichte und den Humor besser verstehen. Ich denke, vor diese Herausforderung stellen wir unsere Fans. Ich verstehe es, wenn jemand den Song "War" mag und will, dass wir immer nur diesen Song machen. Und dann veröffentlichen wir "Heavy" und diese Person wird eher stöhnen.

Einen bleibenden Eindruck hat auch euer Kollabo-Album "Collision Course" mit Jay Z gemacht. An was erinnerst du dich bei dieser Zusammenarbeit am meisten?

Ein ganzes Album mit Linkin Park und Jay Z, ein Special im Roxy mit Fans von Linkin Park und Jay Z, ein Auftritt bei den Grammys mit Paul McCartney: Das hätte man nicht erfinden können. MTV fand's cool, was Danger Mouse damals mit dem Black Album von Jay Z und dem White Album der Beatles gemacht hatte. Das hätte ein einstündiges Special werden sollen, auch mit Green Day und No Doubt. Als Jay Z anrief sagten wir Fuck Yeah. Mike war sofort im Studio und sagte: "Lasst uns alle unsere Singles nehmen, Jays größte Songs und unsere, wir vergleichen die Beats per Minute, um zu sehen, welche Songs zusammen passen." Das Interessante: Die Songs, die das selbe Tempo hatten, waren auch in den selben Tonarten und benutzten ähnliche Akkordfolgen. Es war so, als wäre es füreinander bestimmt. Jay Z fand die Idee mit dem Special toll und wir haben sie auch MTV erzählt. Mike war hin und weg. Er wollte es so gut werden lassen, dass es niemand mehr wiederholen kann. Nicht einmal wir. Er wollte das beste Ding aller Zeiten machen. Das ist normalerweise nicht seine Art, er ist sonst eher ein bescheidener Kerl.

Wir wollten bei der Live-Sache Fans dabei haben, die sowohl Jays als auch unsere Stücke kennen. Also haben wir in beiden Fanlagern Blindtests gemacht. "Wer ist dein Lieblingskünstler außer Jay Z?" - wer Linkin Park sagte, kam auf die Liste – und umgekehrt. So fanden wir 400 Leute, die unabhängig voneinander sowohl uns als auch ihn als ihre Lieblingskünstler angaben. Das sollte in einem legendären Club stattfinden, dem Roxy – extrem klein. Dann entschieden wir uns für "Numb/Encore" als erste Single, das ging total auf. Auch die nächsten Singles funktionierten super. Niemand hätte das erwartet. Es war in allen Belangen eine total neue Erfahrung. Und es war auch eine Menge Arbeit, unser Label und Jays Label dazu zu bringen, die Formalitäten und finanziellen Angelegenheiten zu regeln. Wer kriegt was? Wir wollten einfach alles teilen, wen kümmert's? Die Fans verdienen es, den Scheiß zu haben. Wir haben es veröffentlicht und zehn Millionen Alben oder so verkauft, eine irre Zahl. Es war ein Riesenerfolg, wir waren sogar für einen Grammy nominiert. Wie zum Teufel konnte das passieren? Und weil die Inspiration dafür das Danger-Mouse-Ding war, haben wir mal bei Paul McCartney angerufen. Völlig irre, aber McCartney sagte ja. Und dann spielen wir plötzlich bei den Grammys mit Paul McCartney. Wenn ich als Musiker nur das gemacht hätte: Ich wäre glücklich. Es ist verrückt.

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