laut.de-Kritik

Helle Momente aus einer düsteren Zeit.

Review von

Krebs ist ein Arschloch. Während Jeremy Bolm, Sänger von Touché Amoré, auf der Bühne steht und sich die Seele aus dem Leib schreit, stirbt seine Mutter. Ein Jahr vorher war bei ihr Stufe vier dieser elendigen Krankheit diagnostiziert worden: Überlebenschancen gleich null. Sie habe noch drei bis zwölf Monate sagten die Ärzte und sollten letztendlich Recht behalten.

Die Tatsache, dass man in einer Plattenkritik so offen darüber schreiben kann, ist Jeremy selber zu verdanken. "Ich öffne mich eigentlich nicht so sehr den Menschen im echten Leben", sagt er. "Aber wenn ich Songs schreibe, will ich so offen und ehrlich wie möglich sein."

"Stage Four" ist deshalb ganz seiner Mutter, ihrem Tod und ihrem Leben gewidmet: Der Titel, eine Anspielung auf ihre Krankheit, das Cover, eine Collage ihrer Haustür und die Texte, Jeremys Art mit Trauer, Wut und Unverständnis klar zu kommen. Ganz am Ende des Albums hört man sogar noch ihre Stimme, als sie zum letzten Mal auf seine Mailbox spricht. Es ist nicht einfach dieses Album zu hören, wenn man sich voll darauf einlässt. Es ist dermaßen persönlich und verletzlich, dass man sich manchmal ertappt fühlt, als ob diese Texte eigentlich gar nicht für einen selber bestimmt wären, sondern nur für Jeremys Tagebuch.

"You died at 69 with a body full of cancer / I asked your god how could you but never heard an answer / No one saw it coming, the diagnosis of stage four / The bravest woman I know that survived it once before" singt Jeremy zum Beispiel in "Displacement". Jeremys Mutter scheint eine gläubige Frau gewesen zu sein und er selber hadert damit unaufhörlich. "Ich möchte daran glauben, dass es einen Himmel gibt, denn den hätte sie verdient", sagt Jeremy über diesen Song. In "Palm Dreams" schreibt er über eine Frage, die er seiner Mutter nie gestellt hat, nämlich warum sie nach Kalifornien zog. Das mag nichtig erscheinen, macht aber deutlich, was für Dinge einen beschäftigen, wenn man einen geliebten Menschen verliert und wie intim dieses Album wirklich ist.

Noch beim letzten Album dachte man, es geht aufwärts bei Touché Amoré, Jeremy selber sprach davon wie gut es ihm gehe, die Platte klang vergleichsweise optimistisch. "Stage Four" ist wieder dunklerer, was hauptsächlich an Jeremys Texten liegt. Denn die Musik selber bewahrt sich viele helle Momente in ihren Harmonien und Melodien. So klingt "Stage Four" nicht nach dem düster traurigen Album, dass man erwarten könnte.

Musikalisch bleibt sich die Band treu und damit großartig. Diese Ideenvielfalt, Kreativität und Spielfreude findet man in dem Genre nicht besonders oft. Ihr Posthardcore irgendwo zwischen Indie, Punk und Math klingt auf "Stage Four" aber noch einen Tick zielstrebiger und nicht mehr so rastlos. Der auffälligste Unterschied ist schlicht die Länge der Songs. Gerade mal zwei sind kürzer als zwei Minuten, die meisten knacken locker die drei Minutenmarke. Aber auch auf dieser Länge gehen den Jungs die Ideen lange nicht aus, sie lassen sich eben mehr Zeit sie zu entfalten und betrachten ihre Riffs und Rhythmen von unterschiedlichen Seiten.

Ein gutes Beispiel dafür ist der letzte Track "Skyscraper". Mit Unterstützung von einer sphärisch klingenden Julien Baker, bauen Touché Amoré ein riesiges, sich stetig wiederholendes Soundgebäude auf. Anfangs noch leicht und filigran, türmt sich eine Spur auf die nächste, bis nur noch eine dichte Mauer aus Drums, verzerrten Gitarren und fusseligem Bass übrig bleibt und leise ausfadet. "Water Damage" ist ein ähnliches Ungetüm. Mit Akustik-Gitarren im Rücken spricht Jeremy mehr als dass er schreit. Dann bricht es aus ihm heraus, seine Band stimmt verzerrt mit ein und hebt den Song hoch empor.

Die Melodien, die Jeremy mit seinem Geschrei eben nicht in die Musik bringt, übernehmen erneut die beiden Gitarren. "New Halloween" oder "Posing Holy" zum Beispiel klingen wunderbar vielschichtig, wenn Nick Steinhardt und Clayton Stevens zweistimmige Linien klimpern und dabei Jeremys Stimme unterstützen. Man könnte fast seine Texte in genau diesen Melodien mitsingen. Der verzerrte Bass und das vertrackte Schlagzeug hingegen prügeln meist wie wild auf Saiten und Trommeln und sorgen dafür, dass hinter dem Post noch ein Hardcore stehen darf, wenn man Touché Amoré in ein Genre packen möchte.

In den meisten Songs gibt es mittlerweile traditionelle Songstrukturen, sprich Chorus, Vers und diverse Zwischenteile. Da sind solch knackigen Songs wie "Displacement", "Softer Spoken" oder "Eight Seconds", die genau darauf verzichtet, schon Exoten und erinnern angenehm an die ersten Touché Amoré Alben. Apropos Exoten: In "Benediction" und "Palm Dreams" singt Jeremy das erste Mal richtig. Das klingt natürlich überhaupt nicht nach Profisänger, aber es passt ins Konzept eines sehr offenen und selbstbewussten Albums.

Aus großem Leid wächst große Kunst, sagt man. Wenn es nicht so verdammt zynisch klingen würde, könnte man das auch zu diesem Album sagen. Aber "Stage Four" ist nicht deshalb so ein fantastisches Album geworden, weil Jeremy seine Trauer verarbeitet, sondern, weil diese Band hervorragend zusammenpasst, weil sie ihre Kreativität bündeln und daraus eingängige, druckvolle und zutiefst bewegende Songs schreiben.

Trackliste

  1. 1. Flowers and You
  2. 2. New Halloween
  3. 3. Rapture
  4. 4. Displacement
  5. 5. Benediction
  6. 6. Eight Seconds
  7. 7. Palm Dreams
  8. 8. Softer Spoken
  9. 9. Posing Holy
  10. 10. Water Damage
  11. 11. Skyscraper

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4 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    das dieser jammerlappendreck auch nicht totzukriegen ist.

  • Vor 7 Jahren

    Die haben in Sachen Variation, Abwechslung und Melodiösität ihr Spektrum aber sehr gut erweitert. Vor allem ab der zweiten Hälfte gewinnt das Album an Tiefgang. Bei mir wird es noch öfters laufen. Einfach mal Scheuklappen ablegen.

  • Vor 7 Jahren

    Ist den anderen Post-Hardcorebands von "The Wave" immer noch meilenweit voraus (mit Ausnahme vllt. von Make do and mend, die in ihrer an Hot Water Music angelehnten Spielart allerdings da eh deutlich aus dem Raster fallen). Klasse Album, egal ob die Songstrukturen konventioneller werden.

  • Vor 7 Jahren

    Da brechen Touché Amoré im Einheitsbrei des Hardecore mit den endlos gleichen Formeln und werden doch immer wieder auf hirnlos sowie hintergrundlose Klischees reduziert. Dankbar war es noch nie der depressive Schreihals mit Krachkomplex zu sein. Zeit, Interesse und Empathie würden Gerüchte lüften das eben gerade diese Art von Musik andere Facetten zu bieten hat. Sicher läd das neue Werk ein Haufen Schmerz und Leid auf dem Hörer ab aber dies geschah selten so innovativ. Touché Amoré geben der schweren Kost oft luftige Momente und bauen sanfte Melodien ein. Druckvoll, tröstend und niemals banal geht es Jeremy bei den Screamogesang an. Die Texte sind schockierend offen und biedern sich nicht an. Die Drumms schlagen Haken und geben eine wunderbare Dynamik zu den cleveren Gitarrenakkorden. Plattitüden oder Künstliches gibt es wie Sand am Meer aber Touché Amoré zeigen mir wie menschlich und liebevoll Musik auch noch geht. 5/5 mit großen Ambition zum Album des Jahres!