21. November 2003

"St. Anger" ist seiner Zeit voraus!

Interview geführt von

"Das muss lokales Zeug sein. Taugt es was?" fragt uns Andy Cairns, als er uns zu Beginn des Interviews zwei Flaschen Tannenzäpfle reicht. "Es ist exzellent", bestätigen wir. "Gut, denn der ganze Kühlschrank ist voll damit". Gut gelaunt machen wir uns mit dem Bandchef von Therapy? im Backstagebereich der Stuttgarter Röhre an die Arbeit.

Ende Oktober habt ihr mit "Scopophobia" eure erste DVD auf den Markt gebracht. Wie kam es dazu?

Na ja, unser Label wollte ein Video zu einem der Songs von unserem neuen Album "High Anxiety" drehen, und wir beschlossen, einige Konzerte zu filmen. Dann stellten wir fest, dass die Aufnahme eines ganzen Auftritts auch nicht wesentlich teurer sein würde als nur ein kurzer Auszug. Am Ende hatten wir Material aus London, Dublin und Belfast und entschlossen uns, komplett das aus Belfast zu nehmen, da es einfach das beste Konzert war. Es war ein einmaliger Auftritt!

Bei der Tracklist des Konzerts fällt auf, dass sieben Lieder vom neuen Album stammen, fünf von "Troublegum" und jeweils nur ein, maximal zwei von den restlichen. "Troublegum" ist mittlerweile neun Jahre alt. Ist es tatsächlich euer Lieblingsalbum, oder spielt ihr die Stücke, weil es das ist, was die Zuschauer hören wollen?

Um ehrlich zu sein, steckte hinter der Auswahl kein besonderer Plan. Unser neuer Drummer Neil Cooper war erst zwei Wochen vor den Aufnahmen zum Album dazugestoßen, deshalb kannte er diese Stücke am besten. Für die kurze Tour im letzten Sommer, bei der auch der Konzertmitschnitt entstand, übten wir zuerst die bekannteren Sachen. Bei den Konzerten, die wir momentan geben, spielen wir ganz andere Lieder. Die Tracklist ist jetzt jeden Abend anders.

Elf eurer Videos habt ihr auch auf die DVD gepackt.

Ja, das war ein bisschen frustrierend. Eigentlich wollten wir eine Doppel-DVD herausbringen, auf der einen das Konzert, auf der anderen die Videos. Dann verlangte unser altes Label Universal dafür aber fast eine Million Pfund [etwa 1,5 Millionen €, d. Red.], und wir mussten das Ganze etwas herunter schrauben. Immerhin haben wir unsere vierzehn Bandjahre dokumentiert. Das wollten wir vor allem für die jüngeren Fans tun, denn wir haben festgestellt, dass sich bei uns das Iron Maiden-Syndrom ausgebreitet hat: Es gibt viele alte Fans, aber es sind auch viele neue hinzugekommen. Kids, die sechs oder sieben Jahre alt waren, als wir 1994 "Troublegum" heraus brachten. So können sie sehen, was wir früher so gespielt haben und wer dabei war.

Die meisten Videos stammen aus eurer Zeit mit einem Major-Vertrag, also bis 1998. Habt ihr mittlerweile keine Lust mehr drauf?

Wir haben in den letzten Jahren nicht mehr so viele Videos gedreht, weil wir das Geld lieber in etwas Sinnvolleres investieren, wie zum Beispiel ein paar Aufnahmetage mehr. Viele unserer Videos haben über 150.000 € gekostet, das zu "Diane" sogar fast 300.000. Das war verrückt und ist heutzutage viel zu viel Geld. Wenn man mit 15 bis 20.000 € ein anständiges Video drehen kann, dann macht es Sinn, aber eine hohe Summe auszugeben, und dann nicht auf MTV gespielt zu werden, weil die sagen, "Therapy?? Die gibt es doch schon seit zwölf Jahren. Vergiss es", - das wäre einfach eine Verschwendung.

Du scheinst dich viel mit Geld und Business zu beschäftigen.

Na ja, wir haben einen Manager, aber du bleibst nur im Geschäft, wenn du höllisch aufpasst. Zu Beginn waren wir zum rechten Zeitpunkt am richtigen Fleck. Gitarrenmusik war gefragt, wir hatten einen Majorvertrag, unser Label pflegte enge Beziehungen zu MTV. Geld spielte da keine große Rolle. Wir waren aber nicht blauäugig und wussten schon damals, dass uns das große Geld weniger interessierte als die Möglichkeit, so lange wie nur vertretbar Musik zu machen. Deshalb hat jeder in der Band seine Aufgaben und ein Mitstimmrecht. Das war Mitte der Neunzigerjahre anders, da fiel ich bei Labels und Journalisten in die Rolle des zentralen Ansprechpartners. Das ging so weit, dass bei "Infernal Love" die anderen in vier Tagen ihre Studioaufnahmen fertig hatten und ich mich zwei Monate lang abmühen musste, um ohne Rückmeldung Gitarren und Gesang einzuspielen. Therapy? sind aber als Team entstanden. Als wir 1999 das Label wechselten, beschlossen wir, das Ganze auch so wieder aufzuziehen.

Du hast von Iron Maiden gesprochen. Erst vor zwei Wochen haben sie in der größten Halle Stuttgarts gespielt. Es war ausverkauft ...

Ich war früher kein großer Fan von ihnen, habe aber ein paar Platten und muss sagen, dass ich sie mittlerweile bewundere. Sie haben sich nie aufgelöst, immer an sich geglaubt, ihr Ding durchgezogen und lieben es immer noch, ihre Musik zu spielen. Das war besonders in den Neunzigerjahren und zu Beginn dieses Jahrtausends schwierig, da die Labels nicht mehr interessiert schienen, eine Band langfristig zu fördern, sondern eher auf Gewinn mit ein oder zwei Platten setzten, und anschließend war die Karriere abrupt zu Ende. Das war eine schlimme Zeit. Wenn ich nach Platten von meinen Lieblingsmusikern suche, so wie Thin Lizzy, Iggy Pop oder James Brown, finde ich in jedem größeren Laden stapelweise davon. Natürlich hatten sie auch Scheißalben, letztendlich hatten sie aber die Möglichkeit, ihre Karriere aufzubauen. Als der Grunge aufkam, hieß es plötzlich: Wir brauchen Platten, die sich anhören wie Nirvana. Bands, die gerade mal ein paar Monate zusammen waren, standen plötzlich im Rampenlicht und unter enormen Druck. Daran sind viele gescheitert, auch Leute, die wirklich was draufhatten.

Auf der Rückseite des DVD-Covers schreibst du "Fuck politics, let's rock". Trotzdem spielt Politik in euren Lieder eine Rolle. "Fuck Tony Blair", verkündest du zum Beispiel in Belfast, während du in "Not In My Name" aus eurem neuesten Album singst: "Mein Großvater war für euch Kanonenfutter. Wenn ich daran nur denke ... Lasst mich nicht schon wieder hängen. Was ihr tut, geschieht nicht in meinem Namen".

Ja, natürlich ist Politik mit im Spiel. Der Spruch auf der Rückseite bezog sich aber eher auf die Stimmung im Saal, in dem soziale oder religiöse Trennungen keine Rolle spielten. Therapy? startete als religiös gemischte Band, momentan bin ich sogar der einzige Protestant. Wenn du willst, ist genau das unser politisches Statement. Als wir anfingen, Musik zu machen, war uns, und auch anderen Bands aus Belfast, Politik eigentlich scheißegal. Natürlich beschäftigten wir uns damit, aber nicht in den Texten. Wenn sie musikalisch thematisiert wurde, fühlte es sich an wie ein Schlag in den Bauch. Klar, es gab Simple Minds mit "Belfast Child" oder die Cranberries mit "Zombie", die Leute in Nordirland aber dachten, "was wollen die denn, was soll die Scheiße?" Das war bei U2 und "Sunday Bloody Sunday" auch der Fall, selbst wenn Bono dahinter steckte, und das Thema tatsächlich mal verarbeitet werden musste. Trotzdem fühlten wir uns nicht gut dabei, dass unsere lokalen Angelegenheiten für einen weltweiten Hit herhalten mussten.

Was "Not In My Name" betrifft, ist es eher generell gegen den Krieg und besonders gegen den Krieg im Irak. Mir ging es nicht so sehr um die Gefallenen, als um die Hinterbliebenen. Mein Großvater fiel im Zweiten Weltkrieg, ein Großonkel auch, die meisten in meiner Schule hatten jemand in ihrer Familie, der im Krieg gestorben war. Um meine Großmutter hat sich von staatlicher Seite her aber niemand gekümmert. Sie hat vom Staat keinen Penny gekriegt. Das finde ich schlimm.

Lebst du noch in Nordirland?

Nein, ich habe sechs Jahre in Dublin gelebt und bin dann nach England gezogen, weil meine Frau von dort kommt. Jetzt lebe ich mit ihr und unserem Sohn in Cambridge. Aber ich vermisse Nordirland sehr. Ich bin in Ballyclare, nördlich von Belfast, aufgewachsen. Ich war letztens zur Beerdigung meiner Oma dort, zum ersten Mal seit zwei Jahren. Als ich zur Hauptstraße kam, stellte ich fest, dass es viele Geschäfte gar nicht mehr gab, und sie mit Holzplatten verbarrikadiert waren. Mein Vater erzählte mir, dass es einfach kein Geld und kaum noch Arbeit gibt. Es ist eine Schande.

Hast du noch Hoffnungen, dass sich die Lage jemals verbessern wird?

Na ja, ich fühle mich nach wie vor als Nordire. Nordire zu sein ist etwas Besonderes, es ist eine eigene Kultur, unabhängig von der irischen oder der britischen. Sie hat auch nichts mit Politik zu tun, dieses Gefühl haben Katholiken und Protestanten gemeinsam. Vielleicht könnte ein stärkeres Bewusstsein dieser Identität die Spannungen überwinden. Meine persönlichen Erfahrungen stimmen mich aber nicht so optimistisch. Große politische Probleme gab es in Ballyclare kaum, und es gibt ja auch den Friedensprozess. Meine Eltern haben mir aber erzählt, dass es in ihrem Wohnblock in den letzten zwei Jahren zweimal zu Drogenrazzien kam. Zu meinen Zeiten konnte man zwar Hasch finden, wenn man jemanden an der Uni kannte, es gab aber weder Koks noch Speed noch Heroin. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Drogen, aber was passiert ist, ist dass die Leute, die an dem Konflikt verdient haben, nun auf Drogen als Geldquelle umgestiegen sind. Ich kann es nicht glauben, dass es jetzt in einem Kaff wie Ballyclare Ecstasy-Händler gibt.

Eure Website www.therapyquestionmark.com ist eine der vollständigsten Bandseiten im Netz. Ihr verzichtet auf flashige Animationen oder schrille Farben, dafür gibt es viele Inhalte. Du hast eine neunseitige Biografie geschrieben, es gibt aktualisierte Tourtagebücher, in der Discografie sind nicht nur alle Lieder mit Texten aufgelistet, es gibt auch Hörproben. Macht ihr sie selber?

Nein, das macht Rennie, ein holländischer Fan von uns. Wir trafen uns eines Tages, und er meinte, er wolle sich um unsere Website kümmern. Wir hatten zwar schon eine, unser Label kümmerte sich darum, aber sie war ziemlich einfach gestrickt, während seine Fanseite richtig toll war. Wir baten also unser Label, Promomaterial zur Verfügung zu stellen, und so fing es an. Mittlerweile planen wir einen neuen Onlineshop und eine CD mit vier Liedern, die nur Mitgliedern zur Verfügung steht.

Was auch wichtig ist: Wir sind mittlerweile vor allem eine Liveband, und über die Seite nehmen Leute aus verschiedenen Ländern Kontakt auf, um sich auf unseren Konzerten zu treffen. Das finde ich toll. Es ist natürlich nicht so ausgeprägt wie bei Turbonegro. In Oslo habe ich neulich mit Happy Tom geredet und er sagte mir, dass weltweit 40.000 Menschen in der Turbojugend organisiert sind. Das ist unglaublich: ein Fanclub mit 40.000 Leuten. Und alle sind dort wegen der Musik!

Mit Turbonegro habt ihr im letzten Sommer ja auch bei Southside/Hurricane gespielt. Ihr musstet um drei Uhr nachmittags in der prallen Sonne bei 35 Grad im Schatten auftreten ...

Ja, das waren trotzdem coole Auftritte. Aber zwei Tage davor haben wir bei einem Festival in der Schweiz gespielt. Es war verdammt heiß und die Bühne hatte stundenlang in der Sonne gestanden. Ich weiß noch, dass ich mir fast die Finger an den Saiten verbrannt habe. Die Instrumente waren wegen der Hitze ständig verstimmt. Nach hunderten Festivalauftritten war es das erste Mal, dass uns so was passierte. Na ja, wie es so schön heißt: Rock'n'Roll!

Bei eurem Auftritt in Belfast spielt ihr den Anfang von "Master Of Puppets" von Metallica. Hast du dir ihr neues Album angehört? Auf eurer Webseite schreibst du ja, ein Fan der ersten Metallica zu sein.

Es ist vor allem Michael McCarrick, unser anderer Gitarrist, der auf Metallica steht. Ich habe mir "St. Anger" nicht gekauft, aber Michael hatte sie dabei, als wir im Studio die DVD gemixt haben, und ich muss sagen: Ich mag die Platte sehr, auf jeden Fall mehr als "Load" und "Reload". Ich denke, dass die Leute in zwei Jahren sagen werden, "diese Platte war ihrer Zeit voraus". OK, es sind nicht die Metallica der alten Schule, aber Bands entwickeln sich eben weiter. "St. Anger" erinnert mich an das, was Killing Joke vor einigen Jahren versucht haben zu machen. Interessanterweise haben Metallica Killing Joke gecovert, so ist der Eindruck gar nicht so abwegig.

Die Biografie auf eurer Webseite endet mit der Hoffnung, das Jahr 2003 auf der Bühne und im Studio zu verbringen. Das mit den Liveauftritten hat geklappt. Wie sieht es mit dem Studio aus?

Im Studio waren wir nur, um die DVD zu mixen. Wir haben aber schon neues Material geschrieben und werden es nächstes Jahr aufnehmen. Im Januar sind wir in Griechenland, Türkei, Spanien und auch Russland, glaube ich. Unser Label hat uns gefragt, anschließend nach Amerika zu gehen. Wenn wir rübergehen, dauert es wohl bis zum Sommer, bis wir Zeit fürs Studio haben. Ansonsten starten die Aufnahmen Ende Februar.

In den letzten Jahren habt ihr mit Labels und dem Abgang von zwei Schlagzeugern eine Menge Ärger gehabt. Jetzt scheint alles wieder im Lot zu sein. Um das Interview etwas blumig zu beenden: Wandert ihr nun auf einem goldgepflasterten Weg in eine rosige Zukunft?

Ich weiß nicht, wie die Zukunft aussieht, aber es hat mir seit Jahren nicht mehr so viel Spaß gemacht, in dieser Band zu spielen. Unser neuer Schlagzeuger Neil Cooper war sogar ein großes Vorbild für Fyfe Ewing, unseren ersten Drummer. Wir kannten uns schon lange, irgendwie hört sich die Band mit ihm auch wieder nach Therapy? an. Momentan bin ich sehr glücklich. Egal was passiert: Es macht uns Spaß, gemeinsam aufzutreten und wir freuen uns schon drauf, unsere neuen Lieder aufzunehmen.

Das Interview führten Giuliano Benassi und Paul Scott.

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