laut.de-Kritik

Das Gerippe tanzt.

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Der CBGB-Club in New York gilt als Brutstätte des Punk in Amerika. Nicht nur spielten Bands wie die Ramones dort ihre ersten Konzerte, auch Urväter- und Mütter wie Patti Smith oder Iggy Pop, die zuvor den Grundstein für das Genre legten, frequentierten die Location in Manhattan. Der The Planets-Bandleader und Musikjournalist Blinky Philips bezeichnet einen Auftritt der britischen Band The Damned 1977 in jenem Club an der Ostküste als den singulären Moment, in dem der Punk in Amerika Fuß fasste. Nach seiner Schließung verfolgte der Club Henry Rollins sogar bis in seine Träume, wie er in einem Interview verriet. So scheint es nicht sonderlich verwunderlich, dass jenes verschwitzte Gewölbe auch der Ort war, an dem einem jugendlichen Gerald Caiafa eine folgenschwere Eingebung kam.

Nur wenige Monate vor dem Auftritt von The Damned heuerte ihn ein gewisser Glenn Danzig für seine Band The Misfits als Bassisten an. Doch Caiafa realisierte, dass der musikalische Weg, den die Band mit ihren ersten Gehversuchen einschlug, zu sehr dem ähnelte, von dem sie sich eigentlich zu distanzieren versuchten. "In New York, there were bands like Television, Talking Heads and a lot of artsy-fartsy shit that didn't have balls, everyone was strung out on heroin and that wasn't what I wanted to be", erzählt er in einer Retrospektive mit LouderSound. Was The Misfits brauchten, das wurde ihm klar, als er in den legendären Hallen des CGBG einem Ramones-Konzert beiwohnte, war ein Gitarrist.

Den fanden sie in Form von Franché Coma, einem Schulfreund Caifaras. Nachdem sie Ersatz für ihren ersten Schlagzeuger ranschafften, den sie aufgrund seines Alkoholproblems rausgeworfen hatten, stand ihrem Debüt im Grunde nichts mehr im Wege. Außer dem Fakt, dass sie nahezu bankrott waren und sich lediglich mit dem Geld, das Caifara in seinem Job als Aushilfe in der Maschinen-Fabrik seiner Eltern verdiente, über Wasser hielten. Das Schicksal findet manchmal jedoch Mittel und Wege zusammenzuführen, was zusammengehört, und so sorgte ein glücklicher Zufall dafür, dass das Quartett bald einen Weg in ein professionelles Musikstudio fand.

"Cough/Cool", die erste und einzige Single, die die Band zuvor veröffentlicht hatte, erschien bei Danzigs selbst gegründetem Label Blank Records. Zur gleichen Zeit plante das New Yorker Label Mercury Records eine Expansion und wollte ein Album der New Wave-Band Pere Ubu unter einem Sublabel mit dem gleichen Namen veröffentlichen. Als sie realisierten, dass Danzig den Namen bereits kurze Zeit zuvor patentiert hatte, boten sie der Band 20 Stunden Studiozeit im Austausch gegen den Namen an. Wo andere Bands diese Zeit für die Aufnahme ihrer ersten Single oder vielleicht einer EP genutzt hätten, zeigten sich The Misfits entschlossen, den 20 Stunden ihr 17-Song starkes Debütalbum zu verwirklichen. Allzu viel Zeit für mehrfache Takes oder Neujustierungen blieb ihnen dabei nicht, also probten sie das Material, bis ihnen die Finger bluteten und machten sich mitten in der Nacht auf den Weg ins Studio.

Das Ergebnis war ein Album, das den damals gerade erst geläufig werdenden Begriff des Punk ebenso sehr prägte, wie es von ihm definiert war. Da rafften sich vier von lausigen B-Movies besessenen Teenager aus New York zusammen und rotzten beim ersten Betreten eines Tonstudios ihre Identität so kompromisslos auf Vinyl, dass man fast 50 Jahre später noch darüber staunt. Wo das Songwriting anderer Bands zur Zeit politischer wurde und sich die melodischen Einflüsse zunehmend verringerten, blieben The Misfits dem Ansatz der Ramones treu und bekannten sich radikal zur Catchiness, aber eben auch ebenso radikal zum Grotesken und zum Außenseitertum. Geboren war der Horror-Punk.

Die vier Jungs kümmerten sich wenig darum, mit ihrer Musik auf soziale Missstände aufmerksam zu machen, oder gegen das System zu rebellieren, ihre Kerninhalte bezogen sie meist nicht aus den Gräueln der Realität, sondern aus den billigen Trash- und Horrorfilmen, die kurz vor Mitternacht über ihre heimischen Röhren flimmerten. Provokation lautete das oberste Gebot. Wenn er nicht gerade den Plot seiner liebsten Exploitationfilme nacherzählte, dann mimte Danzig selbst den besessenen Boogeyman. Obwohl er damit mehr als einmal den Bogen des guten Geschmacks überspannt, driften seine Texte zu keiner Zeit ins Peinliche oder Problematische ab.

Selbst wenn er im unwiderstehlichen Chorus von "Last Caress" die Worte "I got something to say / I raped your mother today" singt, denkt man kein zweites Mal über die Gravitas dieser Worte nach. Während andere Bands besonders im Metal ähnliche Inhalte bemüht mit möglichst viel Edge verkaufen wollen, klingen sie aus dem Munde eines Glenn Danzig gleichermaßen organisch wie harmlos. Der Mann tönt wie ein psychopathischer Elvis, der dir, ehe er dir die Lichter ausknipst, die eingängigsten Melodien ins Ohr setzt, die du in deinem Leben je zu hören bekamst, zu denen dein Gerippe noch tanzt, lange nachdem die Trauergemeinde deine Beerdigung verlassen hat.

Dabei ist es letzten Endes auch vollkommen egal, ob er dabei darüber singt, dass er ein Baby getötet und deine Mutter vergewaltigt hat, oder sich vergewissert, dass du auch ja weißt , wer denn in "Return Of The Fly" die Hauptrolle spielt (Vincent Price!): Wie die Filme, derer sie sich bedienen, so stellt auch die Musik der Misfits den Spaß an erster Stelle. Hinter den Texten, so geschmacklos sie bisweilen sein mögen, steckt keine niederträchtige Absicht. Sie erfüllen einen ähnlichen Zweck wie die Ghouls und Goblins aus der Glotze: Sie wollen eine Reaktion erzeugen, und sorgen tatsächlich dafür, dass man aufhorcht, wenn man das erste Mal über sie stolpert, ohne einen allzu sauren Geschmack auf der Zunge zu hinterlassen.

Neben zahlreichen offensichtlich-plakativen und platten Momenten finden sich auf "Static Age" jedoch auch wahre Juwelen der Groteske, deren Bildlichkeit weitaus mehr unter die Haut geht, als durchschaubares Rumgegröle über tote Babies. "Hold on, I think I have to puke / There's a spot in the corner where I always go / I like to feed the flies that I know", singt Danzig beispielsweise auf "TV Casualty". Ein weiteres unschönes Bild beschwört er auf "Some Kinda Hate", wo er attestiert: "The maggots in the iron lung won't copulate". Zeilen, deren süßlichen Gestank man förmlich riechen kann.

In den Büros amerikanischer Musiklabels nahm man all das Ende der 70er jedoch nicht ganz so locker. Egal ob in den Staaten oder in Großbritannien, keines der Dutzende Labels, denen die Band das Album vorlegte, wollte etwas damit zu tun haben. Die Texte dürften bei dieser Entscheidung durchaus ein Faktor gewesen sein. Und auch wenn The Misfits einen Großteil des Materials von "Static Age" im Laufe der Jahre auf anderen Alben oder EPs veröffentlichten, so fand das originale Album erst 1997 seinen Weg zurück auf den Tisch eines Label-Executives.

Zwanzig Jahre nachdem der Band die Veröffentlichung ihres Debüts verwehrt wurde, stolperte Franché Coma in seinem Apartment über eine Kassette, die die Originalaufnahmen ihrer ersten Songs enthielt. Zusammen mit den restlichen Mitgliedern, zu denen zu dieser Zeit Danzig nicht mehr dazu gehörte, entschied er, das Album in seiner Urfassung nachträglich zu veröffentlichen. Es sei schlichtweg zu brillant, um es den Leuten vorzuenthalten. Recht hat er, denn auch wenn viele der Songs auf anderen Veröffentlichungen das Licht der Welt erblickten, so gelang es keinem Release, die rohe Energie und den dreckigen Sound einzufangen, der diesen originalen Aufnahmen innewohnt.

Wie für ein Punk-Album zu dieser Zeit üblich, steckt hinter den Songs von "Static Age" keine
handwerkliche Meisterleistung, einzig Jerry Onlys Bass-Spiel hebt sich aufgrund seiner Verspieltheit und der Präsenz im Mix ein wenig von der restlichen Instrumentierung ab. Dennoch lassen sich gefühlt alle Akkorde dieser LP an einer Hand abzählen, es ist schlichtweg die Symbiose aus Danzigs einzigartigen Timbre und einem unheimlichen Gespür für simple, aber großartige Kompositionen, die nahezu jeden Song auf diesem Album zu einem zeitlosen, genre-übergreifenden Hit machen.

Egal ob "Angelfuck", "Bullet", "Some Kinda Hate", oder natürlich die über allem stehenden "Last Caress" und "Hybrid Moments": Keine Band der 70er schüttelte so mühelos eine infektiöse Melodie nach der nächsten aus dem Ärmel wie die Misfits, und keine Tracklist ihrer kurzen und chaotischen Diskographie legt davon ein so beeindruckendes Zeugnis ab wie die von "Static Age".

Nicht zuletzt, weil man an diesem Album kein einziges Gramm Fett findet. Die Songs sind kurz, aber nutzen jede Millisekunde ihrer Laufzeit, um sie so voll mit musikalischem Crack zu packen, dass man gar nicht anders kann, als abhängig zu werden. Bereits das erste Riff, das auf "Static Age" die LP eröffnet, drückt volle Kanne aufs Gaspedal, und Danzig nimmt den Fuß nicht wieder runter, bis auch der letzte Zombie die Beine zu seinen Worten bewegt. Selbst abseits der offensichtlichen Ohrwürmer finden sich mit "Come Back" oder "Theme For A Jackal" atmosphärische Slow-Burner, die noch mehr als der Rest der LP Danzigs Einflüsse aus Rockabilly und Rock'n'Roll in den Vordergrund drängen und in der sich neu definierenden formenden Punk-Palette der 70er ein absolutes Unikum darstellen.

"We couldn't understand how nobody got it back then", sagt Caiafra aka Jerry Only rückblickend. Und angesichts der Unwiderstehlichkeit von "Static Age" ist es tatsächlich schwer nachzuvollziehen, wieso kein einziges der Labels, die dieses Album hörten, dem sirenenhaften Sog von Songs wie "Attitude" oder "Some Kinda Hate" verfiel. Ist er doch stark genug, um noch bis heute in den Setlists von Metallica oder Guns N'Roses nachzuhallen.

Der Aufruhr, für die das Album zur Zeit seiner Entstehung sicherlich gesorgt hätte, blieb den Misfits verwehrt, zum Legendenstatus verhalf ihnen ihr tatsächliches Debüt "Walk Among Us" wenige Jahre später dennoch. Rückblickend begann die Karriere der Misfits offiziell zwar erst 1980 und endete, fragt man die Fans, bereits vier Jahre später, als Glenn Danzig die Band verließ. Den Grundstein für eine der prägendsten Karrieren des Punk legten sie jedoch bereits in jener stürmischen Nacht 1977, als "Static Age" in einer rückblickend fast rituellen Zeremonie das Licht der Welt erblickte, um prompt wieder weggesperrt zu werden.

Noch war die Welt nicht bereit für das Monster, das die vier Jungs aus der Finsternis hervorlockten, heutzutage beäugt man es fast schon mit nostalgischer Verträumtheit. Wie die Filme und Comics, die es inspirierten, so ist auch "Static Age" nicht perfekt, aber den schieren Unterhaltungswert den es bietet, den findet man in dieser Form nahezu nirgendswo anders.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Static Age
  2. 2. TV Casualty
  3. 3. Some Kinda Hate
  4. 4. Last Caress
  5. 5. Return Of The Fly
  6. 6. Hybrid Moments
  7. 7. We Are 138
  8. 8. Teenagers From Mars
  9. 9. Come Back
  10. 10. Angelfuck
  11. 11. Hollywood Babylon
  12. 12. Attitude
  13. 13. Bullet
  14. 14. Theme For A Jackal
  15. 15. She
  16. 16. Spinal Remains
  17. 17. In The Doorway

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2 Kommentare

  • Vor einem Jahr

    Gerade weil das Ding in Gänze erst 1997 veröffentlicht wurde, wäre aus popkulturell-musikhistorischer Perspektive Walk Among Us der bessere Misfits-Meilenstein.

    Ganz davon abgesehen, dass es das bessere Songmaterial als der Erstling hat.

  • Vor einem Jahr

    "Walk Among Us" wurde ja schon kürzlich in BEST OF 1982 entsprechend gewürdigt (wobei es eigentlich in 1981 gehört hätte): https://www.laut.de/News/Best-of-1982-40-J…

    Beide Alben sind klasse und ich würde sagen es hängt manchmal etwas von der Tagesstimmung ab, welchem man hier den Vorzug gibt. "Static Age" gefällt mir allerdings besser, finde ich interessanter, weil es stilistisch vielfältiger ist und noch nicht so stark in Richtung Horror geht. Meine Favoriten: "In the Doorway", "Hybrid Moments" (wird allerdings etwas zu oft gecovert) und "Some Kinda Hate".

    Und da es musikhistorisch auch vor "Walk Among Us" aufgenommen wurde und als eigentliches Debüt vorgesehen war, steht es hier völlig zu Recht.