Porträt

laut.de-Biographie

The Cinematic Orchestra

"Ich mag Musik, die sich mir erst nach mehrmaligen Hören erschließt!" Jason Swinscoes Faible für gehaltvolle Klänge spiegelt sich ebenso in seinen Hörvorlieben wie in seinen ausgefeilten Kompositionen. Mit epochalen Werken, die einer unsichtbaren Dramaturgie folgen, wirbeln er und sein Cinematic Orchestra gehörig Staub in verkrusteten Jazzkreisen auf.

The Cinematic Orchestra - To Believe
The Cinematic Orchestra To Believe
Der Soundtrack zur Sinnfrage: Was sollen wir glauben?
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Zusammen mit seinen nordischen Kollegen Nils Petter Molvaer und Bugge Wesseltoft gehört er zu den führenden Köpfen der andauernden Runderneuerung des Jazz.

"Jazz ist kreative Freiheit und kann alles bedeuten, solange es offen für Ideen ist", formuliert er sein Verständnis. 'Offen für Ideen' heißt für alle an dieser Revolution Beteiligten, sich moderner, computergestützter Produktionstechniken zu bedienen. Sampler und Sequenzer als Instrumente anzusehen, die, wie jedes 'herkömmliche' Instrument auch, erst unter den Fingern der Künstler ihre kreativen Potenziale entfalten, ist eine Sichtweise, die Björk schon Anfang der 90er in die aktuelle Musikgeschichtsschreibung einführte.

Im Fall Cinematic Orchestra entstehen daraus nicht einfach nur Songs oder schöne Lieder. Jason Swinscoe ist der Mann fürs Kopfkino. Mit Spielzeiten um die neun Minuten sind seine Werke auch nicht gerade fürs Radio produziert. Seine Melodien haben Zeit, um einen cineastischen Spannungsbogen zu entwickeln, dessen Handlung sich vorbildlich steigert. Zeit, um Höhepunkte musikalisch vor- und nachzubereiten. Zeit, um den Gesang oder das Hauptthema erst dann einsetzen zu lassen, wenn Formatkompositionen schon den Schlussakkord spielen.

Seit seiner ersten Veröffentlichung hat sich jedoch Einiges geändert. War "Motion" noch vom Mastermind-Gedanken à la De Phazz geprägt, ist "Every Day" das Werk einer homogenen Formation. "Ich benutze die Mitglieder der Band nicht mehr als Sessionmusiker. Sie sind entscheidend für die Entstehung der einzelnen Songs". Sie sind ihm zudem treue Weggefährten auf den zahlreicher werden Gigs, die ihn unter anderem zum Drum Rhythm Festival nach Holland, zum Belfort Festival nach Frankreich und dem Jazzfestival nach Montreux führten.

Im Alter von acht Jahren (er kommt 1972 zur Welt) beginnt Jason Swinscoe, Gitarre zu spielen. "Not any classical guitar, not any fiddle-de-dee John Waters schtick", sondern das, was ein "Mann" in diesem Alter wirklich lernen will: grooven, braten, headbangen, und ein Star zu sein.

1990, während er im walisischen Cardiff Fine Arts - sprich Kunst, Fotografie und Bildhauerei - studiert, gründet er seine erste Band Crabladder. Sie löst sich jedoch kurze Zeit später wieder auf, weil Jason seinen Hang zu Samplern dort nicht genügend einbringen kann. Nach Abschluss des Studiums konzentriert er sich aufs DJing und hat endlich genug Zeit fürs "Fiddeln an seinem Sampler".

Von 1994 bis 1995 arbeitet Swinscoe als DJ für den Londoner Radio-Piratensender Heart FM. Nebenher nehmen die Filme in seinem Kopf und damit seine musikalischen Vorstellungen konkretere Formen an. Er sucht einen Weg, um die Vibes aus den 60er und 70er Blütejahren des Modern Jazz mit der Atmosphäre von Filmsoundtracks und den Innovationen der Sample-Kultur zu verbinden.

1997 kommt er der Lösung einen großen Schritt näher. Er verschickt musikalische Skizzen, Piano-Loops, Bass-Lines oder Melodiebruchstücke an befreundete Musiker und lädt sie anschließend ins Studio ein. Dort wird ordentlich gejammt, während Jason alles mitschneidet. Wieder zu Hause, sortiert und ordnet er seine Beute, nimmt sie auseinander und setzt die Stücke wieder neu zusammen, bastelt und frickelt sich die Soundscapes für seinen Plot zurecht.

Nebenher entwickelt er zusammen mit anderen DJs im Londoner Loop ein neues Club-Konzept. Während auf einer Leinwand ein Film gezeigt wird, 'erfinden' die DJs live dazu einen Soundtrack. Textauszüge aus dem Original sind dabei ebenso erlaubt, wie 'echte' Gastmusiker erwünscht.

1999 wird das Jahr des Coming Outs. Das Cinematic Orchestra präsentiert auf der Verleihungsfeier des Director's Guild Lifetime Achievement Awards mit ungeheurem Erfolg eine Hommage an Kultregisseur Stanley Kubrick ("Uhrwerk Orange", "Einer flog übers Kuckucksnest" ... ). Im selben Jahr erscheint ihr Debütalbum "Motion" und ruft begeisterte Reaktionen in und außerhalb Englands hervor.

2000 tourt die Band ausgiebig auf Europas Festivalbühnen und stellt dabei ihre cineastischen Visionen einem großen Publikum vor. Sie erhalten den Auftrag, für das Porto Film-Festival in Portugal die Vorführung des russischen Filmklassikers "The Man With The Movie Camera" (Dziga Vertov, 1920) live umzusetzen. Die Performance wird ein riesiger Erfolg und mit minutenlangen Standing Ovations geehrt. Aus diesem Material entstehen die Tracks "The Man With The Movie Camera" und "Evolution", die zwei Jahre später auf "Every Day" erscheinen, seinem mit über 100.000 verkauften Einheiten bis dato erfolgreichsten Tonträger.

Neben diesen Aktivitäten findet Jason noch genügend Zeit für ein Nebenprojekt namens Neptune (zusammen mit DJ Food) und zahlreiche Remixe (unter anderem für Faze Action, Kenji Eno, Nils Petter Molvaer und DJ Krust), die sein langjähriger Labelpartner Ninja Tune auf einem separaten Album ("Remixes 1998-2000") veröffentlicht.

Aus der "Man With The Movie Camera"-Performance wird 2003 ein Album. Ninja Tune lizensiert kurzerhand den Film komplett, und Swinscoes Soundtrack erscheint nicht nur auf CD, sondern, samt Originalfilm und Extras, als DVD.

"Nach all den intensiven Zeiten hatte ich eine Art Burnout. Die Mühlen der Musikindustrie mit all ihren vorgegebenen Zutaten wie Partys, Interviews, Trends et cetera brachten mich an einen Punkt, an dem ich mich fragte, warum ich eigentlich Musik schrieb, was es für mich bedeutete."

Swinscoe gönnt sich eine zirka zweijährige Orientierungspause in Paris und pendelt anschließend zwischen New York und seiner französischen Wahlheimat hin und her. "Paris ist wunderbar, wenn du eine Auszeit vom Musikbusiness brauchst, um Zeit zu finden, wieder in dich hineinzuhören und festzustellen, was du als Nächstes machen möchtest. Es gibt nicht wirklich viel kreativen musikalischen Input dort, was gut ist, um sich auf die Weiterentwicklung der eigenen Vision zu konzentrieren. Alles ist einen Tick langsamer, und wenn man dann nach New York kommt, wechselt alles in deinem Kopf von Beschaulichkeit und Stille zu Chaos, was gut für den eigenen Antrieb ist. Manchmal braucht man diese Gegensätze, um musikalisch weiterzugehen."

Musikalisch findet sein Weitergehen 2007 mit "Ma Fleur" seinen Ausdruck. "Für mich war es eine natürliche Weiterentwicklung und eine große Herausforderung zugleich, mehr songorientiert zu arbeiten, also eigentlich wieder ganz von vorne anzufangen, anstatt am Computer mit 128 Audiospuren 'nur' orchestrale Musik und einen Dancebeat übereinander zu schichten. Das wurde mir zu kompliziert, und es fühlt sich gut an, zur Schlichtheit der Kombination von Gitarre, Stimme und Piano zurückzukehren."

Im selben Jahr erfüllt sich für das Cinematic Orchestra ein Traum. Gemeinsam mit dem 24-köpfigen Heritage Orchestra lässt Swinscoe die ehrwürdige Londoner Royal Albert Hall erzittern. Obwohl es die Gastsängerinnen Heidi Vogel und Louise Rhodes (Lamb) nicht leicht haben, die stimmgewaltige Original-Sängerin Fontella Bass zu ersetzen, läuft zum Glück das Aufnahmegerät mit. 2008 findet das mitreißende Konzert den Weg in die Plattenläden.

Danach veröffentlicht das Cinematic Orchestra zwar noch Musik für eine Naturdokumentation ("The Crimson Wing: Mystery Of The Flamingos") und für avantgardistische Kurzfilme ("In Motion"), aber bis "To Believe", dem nächsten Studioalbum, ziehen noch viele weitere Jahre ins Land. Dafür gewinnt Swinscoe wieder einmal Dominic Smith als Produzenten. Außerdem greift er zusammen mit altbekannten Weggefährten wie Roots Manuva und Heidi Vogel den Minimalismus von "Ma Fleur" auf, kehrt aber an einigen Stellen wieder zu der Experimentierfreude seiner Anfangstage zurück. Dabei setzt sich die Musik über jegliche Trends hinweg, ohne aus der Zeit gefallen zu wirken. Man weiß, was man an Swinscoe und seinem Orchestra hat.

Alben

The Cinematic Orchestra - To Believe: Album-Cover
  • Leserwertung: 5 Punkt
  • Redaktionswertung: 4 Punkte

2019 To Believe

Kritik von Toni Hennig

Der Soundtrack zur Sinnfrage: Was sollen wir glauben? (0 Kommentare)

The Cinematic Orchestra - Ma Fleur: Album-Cover
  • Leserwertung: Punkt
  • Redaktionswertung: 3 Punkte

2007 Ma Fleur

Kritik von Kai Kopp

Songorientierte Ambient-Tracks mit Kopfkinoanspruch. (0 Kommentare)

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