4. März 2005

"MTV und VIVA spielen doch überhaupt keine Musik mehr"

Interview geführt von

Ortstermin in München. Das Warner-Büro in der bayerischen Hauptstadt liegt ziemlich unprätentiös zwischen Animierbars und seltsamen Läden. Den Kopf tief in den Mantel gezogen, klingle ich. Nicht etwa, um der bitteren Kälte zu entgehen, sondern eher, damit ich nicht mit dem Schuppen daneben in Verbindung gebracht werde. "Men Only" prangt da. Nichts wie weg! Rin inne gute Stube und ... was ist das denn? Sämtliche Wände der Warner-Außenstelle sind mit goldenen oder Platin-Schallplatten bzw. CDs gepflastert. Kaum ein Quadratzentimeter, den nicht eine Auszeichnung von Phil Collins, Peter Maffay oder den Scorpions ziert.

Und hier soll ich mit Steven Wilson über die neue Porcupine Tree-Platte palavern? Nun ja, wenn der sich durch die gülden blitzenden Vorgaben seiner Label-Kollegen nicht unter Druck setzen lässt, von mir aus. Mit zehnminütiger Verspätung erscheint ein vom Mittagessen satter, äußerst sympathischer und allem Anschein nach in sich ruhender Wilson, um gut gelaunt ein Schwätzchen zu halten.

Steven, du hast in einem Interview im Zuge der Promotion zu eurem letzten Album gemeint, dass "In Absentia" für Porcupine Tree-Verhältnisse ein sehr hartes Album sei. Was musst du dann erst über "Deadwing" sagen?

(lacht) Nun, es ist eben noch ein wenig härter. Nein, das ist einfach die logische Weiterentwicklung unseres Sounds. Schon "In Absentia" war ja eine sehr songorientierte Platte. Die psychedelischen Sounds und die Flächen von unseren früheren Alben waren da schon nicht mehr vertreten. Die Schwerpunkte haben sich einfach in Richtung einer Musik entwickelt, die mehr "in your face" geht.

Hast du nicht Angst, einige alte Fans zu vergraulen? Manch einem war schon "In Absentia" zu hart, die konnten damit nicht viel anfangen.

Nicht wirklich. Es ist doch immer so, dass man mit jeder Platte Fans verliert. Die können den eingeschlagenen Weg nicht nachvollziehen. Aber so lief das in der Porcupine Tree-Geschichte ja ständig. Wir haben alte Hörer verloren, konnten uns aber immer neue Hörerschichten erschließen. Wenn du dich als Künstler entwickeln und ausdrücken möchtest, darfst du darauf nicht zu viel Rücksicht nehmen.

Ihr habt ja mit eurem letzten Album bei Warner unterschrieben. Wie wirkt sich das auf eure Arbeit aus?

Auf die Arbeit selbst gar nicht. Wir sind jetzt aber zum ersten Mal in der glücklichen Situation, Promotion in einem größeren Rahmen zur Verfügung gestellt zu bekommen.

Ich frage auch deshalb, weil die Geduld vieler Majors nach ein, zwei Alben, die sich nicht so gut verkaufen, ausgereizt ist. Habt ihr nicht Angst, wieder ohne Deal dazustehen, wenn "Deadwing" nicht die Erwartungen der Firma erfüllt?

Eigentlich nicht. Es ist schön, die Power eines großen Konzerns im Rücken zu wissen. Die Intention hinter dem Vertrag mit Porcupine Tree seitens Warner war aber auch nicht unbedingt die, mit der Band Plattenverkaufs-Rekorde zu brechen. Wie zum Beispiel (zeigt hinter mich auf eine goldene Phil Collins-Scheibe) der da. Wir sind in der tollen Situation, dass wir auf der einen Seite bei einer große Firma sind, die aber andererseits auch hinter der Band und ihrer Musik steht. Die, mit denen ich zu tun habe, hängen sich echt rein und sind Fans der Band und ihrer Musik. Besser kann man es eigentlich nicht haben.

Und im Gegensatz zu früher, wo wir in Deutschland nicht einmal einen richtig funktionierenden Vertrieb hatten, haben sich auch die Verkaufszahlen für unsere Platten enorm verbessert. Wenn wir früher ein paar hundert absetzen konnten, bewegt sich das jetzt im Bereich von 15.000 und das ist doch ein gutes Zeichen. Wer weiß, was kommt. Wenn es nicht hinhaut, werden wir unsere Platten eben wieder über einen Independent heraus bringen. Mir ist da nicht bange.

In Deutschland erscheint "Lazarus" als erste Single. Der Song ist eher eine konventionelle Ballade, spiegelt das Album aber nicht wirklich wider. Warum also ausgerechnet dieser Song? Weil er das größte kommerzielle Potential hat?

Vielleicht. Aber so wichtig ist das ja auch nicht. Es kommt halt eine Single vorab heraus und macht eventuell einige Leute neugierig auf das Album.

Ist ein Video dafür geplant?

Das habe ich die Label-Leute auch gefragt. Das macht aber immer weniger Sinn. Wenn du dir MTV oder Viva anschaust, dann spielen die dort ja überhaupt keine Musik mehr. Das Video als Promotion-Instrument wird also immer unwichtiger. Wenn du dann noch bedenkst, was der Dreh eines Clips an Geld kostet, und das fertige Produkt dann gar nicht gespielt wird, überlegst du es dir zweimal. Auf den ehemaligen Musiksendern senden sie ja sowieso nur noch Reality-Shows und Werbung. Wenn du Glück hast, läuft dein Video irgendwann nachts um drei und zehn Leute schauen zu.

"God is in my fingers god is in my head" heißt es auf einem Track des neuen Albums. Ein Anfall von Größenwahn?

Das stammt aus "Halo" und ist einer der Songs, den ich im Laufe der Jahre geschrieben habe, und der sich um die organisierte Form der Religion dreht. Ich bin kein großer Fan organisierter Religion. In diesem speziellen Fall spricht der Text aus der Perspektive eines Menschen, der sehr selbstgerecht ist, was seine Religiösität angeht. Die Art von Zeitgenosse, die einem erzählen wollen, dass ihr Leben besser sei aufgrund ihres Glaubens, der eine Art der Überlegenheit begründet, die du selbst nicht besitzt. Einer meiner früheren Freunde konvertierte zu den wiedergeborenen Christen. Es ist sehr schwer, mit diesen Leuten eine Freundschaft aufrecht zu erhalten, nachdem sie in diese "andere Welt" übergetreten sind. Sie fangen an, dich zu bevormunden, denn sie glauben etwas zu besitzen, das du nicht hast: Glaube, Wissen ...

Die absolute Antwort auf alles?

Ja, genau das. Ich fand das immer beleidigend, aber das ist mir mit einem Freund passiert, und hat dann dann "Halo" inspiriert. Wenn ich mit ihm zu tun hatte, trat er so auf, als würde er einen Heiligenschein auf seinem Kopf spazieren tragen. Er gab mir das Gefühl, dass ich mich nicht mehr auf demselben Niveau befinde wie er. Er war von dieser Überzeugung so sehr durchdrungen.

"Halo" ist ein ziemlich starker Song auf der Platte. Welcher gefällt dir eigentlich am besten?

Ich mag "Halo", aber jetzt, nachdem ich gerade mit dem Album fertig bin und ich mir schon seit Monaten die Lieder anhöre, fällt es mir schwer, wirklich objektiv zu sein. Als die Arbeiten abgeschlossen waren, hatte ich keine Ahnung, ob das jetzt gut, mittelmäßig oder schlecht ist. Versteh mich nicht falsch, ich bin sehr stolz auf das Album, aber mir fällt es nicht leicht, Abstand zu gewinnen und die Emotionen darin zu beurteilen. Wenn ich es jetzt höre, dann eher von einem technischen Standpunkt aus. Ist die Produktion in Ordnung, was ist mit dem Mastering? Befindet sich alles im Einklang? Ich bin sehr stolz auf die Songs. Man muss bedenken, dass noch viel mehr Material entstanden ist, das es nicht aufs Album geschafft hat. Die neun Tracks sind die Quintessenz dessen, was wir als Band ausgewählt haben. Ich finde schon, dass es starke Stücke sind.

Kann man davon ausgehen, dass die Stücke, die es nicht auf das Album geschafft haben, separat erscheinen?

Zwei davon werden auf der Single sein, eventuell noch zwei auf einer anderen Single. Weitere werde ich vielleicht über das Internet als Download zur Verfügung stellen und irgendwann wird es das auch als Album oder Box-Set zu kaufen geben.

Du hast den Re-Release von "Up The Downstairs" geplant ...

Ja, das kommt im Mai, ist aber mehr als nur eine Wiederveröffentlichung. Wir haben das Album eigentlich nochmals komplett neu aufgenommen. Es war das zweite Album im Porcupine Tree-Katalog und entstand damals, als die Band eigentlich nur aus meiner Person bestand. Das Equipment war billig, ich benutzte Drum-Machines und Drum-Samples. Deswegen ist es für mich immer noch schwer, das Album zu hören, denn da stand immer dieser "Wenn ich doch nur"-Gedanke dahinter. Wenn ich doch nur eine Band hätte, wenn ich doch nur ein richtiges Schlagzeug oder Equipment hätte. Als die Überlegungen anstanden, den Back-Katalog neu aufzulegen, wollte ich "Up The Downstairs" als letztes machen, weil ich es neu einspielen wollte. Jetzt ist es fertig, mit richtigem Schlagzeug, einigen neu eingespielten Gitarren-Parts, neuem Mix und Mastering. Das Ganze klingt jetzt um einiges voller, mehr ...

Nach der Band von heute?

Ja und nein. Es hat immer noch die Atmosphäre von damals ,aber die Produktion entspricht dem Porcupine Tree-Standard von heute.

Ich frage deshalb, weil du deinen Fans wahrscheinlich einen riesen Gefallen tust. Die alten Scheiben sind ja zum Teil nicht mehr erhältlich, was die Preise auf Plattenbörsen oder bei Ebay (Wilson stöhnt auf) in unverschämte Höhen treibt.

Ja. Ich hasse es, dass manche Leute bei Ebay daraus Profit schlagen wollen, weil die Scheiben nicht mehr erhältlich sind. Das einzige Problem, das es dabei gibt, ist der Faktor Zeit. Wir haben es geschafft, einige der alten Platten mit Extra-Songs und dem ganzen Zeug wieder zu veröffentlichen. "Up The Downstairs" ist die letzte der ganz alten Platten. Die nächsten, die an die Reihe kommen, sind "Stupid Dream" und "Lightbulb Sun". Diese Scheiben werden nicht mehr gepresst. Als wir bei Warner unterschrieben haben, haben sie auch die Rechte an den alten Alben mit der Absicht erworben, sie wieder auf den Markt zu bringen. Dadurch, dass wir mit "In Absentia" und jetzt "Deadwing" so beschäftigt waren, hatten wir einfach keine Zeit. Das Nächste was also ansteht, wenn wir die Touren zu "Deadwing" hinter uns gebracht haben, ist das Remastern von "Stupid Dream" und "Lightbulb Sun". Eventuell gibt es auch Surround Sound-Mixe davon, hoffentlich schon Ende des Jahres.

Im Internet gibt es ja einige Fanseiten, die von sehr engagierten Leuten betrieben werden. Das hat etwas von Guerilla-Promotion. Große Pressekampagnen für die Band gab es ja bislang noch nicht. Welchen Wert hat das für dich?

Wir hatten teilweise eine ziemlich seltsame Beziehung zu den Fans. Das ganze Internet-Ding fing an, lange bevor ich das überhaupt zur Kenntnis genommen habe oder wir selbst eine offizielle Seite hatten. Die Band fand in den Medien ja kaum statt, und so teilten die Fans gegenseitig ihre Begeisterung für die Musik von Porcupine Tree, was ich fantastisch finde. Es gibt polnische, libanesische oder israelische Websites. Das passt sehr gut zu der Entwicklung der Band und half uns dabei, ohne die Unterstützung der Musikindustrie zu überleben. Wir kommunizieren über das Internet nicht sehr intensiv mit unseren Fans. Wir haben das früher gemacht, über Foren und News-Seiten, haben das aber eingestellt.

Manchmal ist es besser, etwas Distanz zu wahren, denn die Fans mögen es gar nicht so sehr, wenn man alles erklärt und eventuelle Missverständnisse aufklärt. Sie lieben es, über gewisse Dinge zu spekulieren. Wenn du dann als Künstler einschreitest und sagst "Nein, da liegst du falsch", stört das eher. Ich gebe den Fanzines aber nach wie vor Interviews und unterstütze unsere Anhänger, denn wir sind ja auf sie angewiesen. Die Beziehung Künstler-Fan ist aber schon seltsam. Sie wissen alles über dich, aber du hast überhaupt keine Ahnung, wer sie sind. Man denkt schon manchmal, dass sie vielleicht zu viel über einen Bescheid wissen, deshalb ist es auch schwer, ein Gleichgewicht zu finden.

Es gibt Einige, die euch sehr verehren. Für die seid ihr ja die Größten. Wie kommt man mit so einer Verehrung zurecht?

Meistens ist es toll, Anhänger zu haben, die so leidenschaftlich sind und für die Porcupine Tree oder mein Schaffen anscheinend sehr wichtig ist. Mit einigen, die sich schon seit Jahren engagieren, stehe ich in Email-Kontakt. Die meisten sind sehr sensibel und respektieren deine Privatsphäre, und erwarten zum Beispiel nicht, dass man sofort antwortet. Es gibt da aber eine ganz kleine Minderheit, die Probleme macht. Diese Leute stürzen sich auf jede Kleinigkeit, um zu beweisen, was für ein aufgeblasenes Arschloch man doch sei oder dass man seine Fans wie Scheiße behandeln und nicht wertschätzen würde. Das ist wirklich nur eine kleine Gruppe, die aber unverhältnismäßig viel Krach schlägt.

Wir hatten ja sogar ein Forum auf unserer offiziellen Seite, in dem Interessierte Fragen an die Band richten konnten. Das haben wir jetzt geschlossen, da ungefähr fünf User ständig nur das Negative gesucht haben. Du musst dir das mal vorstellen. Wir haben angekündigt, dass sich der US-Release verschiebt. Das führte zu der Diskussion, wie böse doch Plattenfirmen sind und dass Porcupine Tree sich an die Major-Labels verkauft hätten. Dieser ganze lächerliche Mist eben. Da diese Fünf aber über 50 Prozent der Posts verfassten, machte das dann den Eindruck, als ob alle unsere Fans ständig nur mosern würden. Wir hatten einfach die Nase voll davon. "Geht woanders hin, macht das auf einer anderen Webseite", und so haben wir das Forum geschlossen. Die Fans, mit denen ich mich bei den Shows unterhalte, sind aber wunderbar und mit denen habe ich ein sehr gutes Verhältnis.

Ihr kommt im April auf Deutschland-Tour. Geplant sind momentan nur sechs Shows. Wird es mehr geben. Und habt ihr Pläne, auf Festivals aufzutreten?

Pläne gibt es. Das Problem dabei ist, dass wir nur bei wenigen Festivals ins Line-up passen. Wir haben gerade mit einem Agenten geredet und da kam genau dieses Thema auf den Tisch. Über den Sommer spielen wir hoffentlich auf ein, zwei Festivals. Aber selbst wenn das nicht hinhauen sollte, kommen wir im Herbst wieder nach Deutschland. Dann wird es hoffentlich noch eine Single oder EP geben, die wir vorher veröffentlichen.

Ehe ich noch weitere, psychologisch wertvolle Fragen stellen kann, winkt der freundliche Mann von der Plattenfirma. Es sei an der Zeit, jetzt zum Schluss zu kommen. Schade eigentlich, denn mit einem wie Wilson würde man gerne mal bei ein paar Bierchen über dies und das philosophieren.

Das Interview führte Alexander Cordas.

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