laut.de-Kritik

Dauer-Adlib-Sendung auf Beats zwischen Endzeit und Nintendo.

Review von

Playboi Carti gehörte schon zum Trap-Adel, da hatte er noch nicht einmal ein Mixtape auf dem Kerbholz. Mit ein paar heißen Singles in der Hinterhand verschob er ein offizielles Projekt immer wieder, galt schon als so etwas wie Atlantas Jay Electronica, da schlug 2017 "Magnolia" ein. Und während das nachgeschobene Debüt "Playboi Carti" eher ein Kind von Eile zu sein schien, findet das A$AP Mob-Ehrenmitglied auf "Die Lit" nun endlich den einen Vibe, der seinen Superstar-Status rechtfertigt. Über eine Stunde lang bildet er gemeinsam mit Pi'erre Bourne ein Manifest für Minimalismus in der Trapmusik ab. 

Es ist die atonale Qualität, die Disharmonie der Soundfragmente, die alle so schrill und radikal gegeneinander spielen, durch die dem Rhythmus eine besondere Rolle zufällt. Die zerstörten Samples, die Chiptunes und die psychedelischen Synthesizer lassen zwar Melodieläufe und Tune erkennen, trotzdem verkommt jede Tonalität im chaotischen Mixdown von Pi'erre zu einem reinen perkussiven Element. Ganz im Kern dessen stehen Cartis Vocal-Fragmente, mehr Dauer-Adlib-Sendung als kohärente Rapparts, um ebenfalls in den marodierenden Bounce der Tracks einzufallen. 

Keine Ahnung, was der da die meiste Zeit von sich gibt. Auf dem Chief Keef-assistierten "Mileage" sagt er so etwas wie "Miley Cyrus, catching bodies, uh" - wobei es schwer zu sagen ist, wo die Adlibs anfangen oder aufhören. Cartis stärkstes Charakteristikum ist seine Abwesenheit, seine Ignoranz und das anarchische Wesen, mit dem er sich im Beat treiben lässt. Ein kohärenter Flow bleibt nicht aus handwerklichem Unvermögen aus, sondern würde das Soundbild schlicht nicht bereichern. Komplett apathisch croont, schreit oder murmelt der Playboi Satzfragmente in den Rhythmus und beweist damit eine gewisse Midas-Qualität, immer genau die minimale Dosis zu finden, um seinen Stick funktionieren zu lassen. 

Dass "Die Lit" so hervorragend aufgeht, liegt auch daran, dass Pi'erre Bourne die Synthese zwischen Cartis Nicht-Rap-Ansatz endgültig mit der perfekten instrumentalen Strategie unterfüttert hat. Schon immer schrill und hypnotisch, passen sich hier nun aber auch Songwriting und Struktur perfekt dem kurweiligen Stil an. Zum Beispiel fächern auf "Lean4Real" die langsam aufziehenden Witch House-Synthesizer die Soundkulisse in Cartis Vocals bis zur Trance auf, bevor Skepta mit einem weitaus kohärenteren und energiereicheren Verse einschreitet. 

Kommt daraufhin die abwesende, fast zombie-hafte Hook zurück, fühlt sich der minimale Groove um so unwiderstehlicher an. Aber auch schnellebige Tracks, die auf vielen anderen Mixtape liebloser Filler wären, geraten hier wie sinnvoll umgesetzte und konzeptuelle Vignetten aus Atlantas Partykellern. "Home (KOD)" wird zum Beispiel von einem so kurzen und repetitiven Sample getragen, dass die digitale Nostalgie des kurzen Melodie-Schnipsel sich bis in eine betäubende Intensität steigert, bevor der Song ohne große Schnörkel ausfadet. 

Generell kommt in der Soundästhetik immer wieder das Gefühl auf, man höre gerade einen verglitchten, etwas übersteuerten Golden Sun-Soundtrack. Die Dualität von digitalem und analogen Sound entsteht dreckigen und rohen Natur von Pi'erres Sampler, weit entfernt noch von der Megalomanie und den choralen Samples des Chicago Drills, aber genauso entfremdet vom matten Hochglanz eines Metro Boomins oder Southsides. 

Diese Charakteristik trägt auch die höchsten Höhen des Albums. Zum Beispiel das Lil Uzi Vert-unterstützte "Shoota", das mit dem prägnanten Autocrooning von Uzi einen atmosphärischen Einstieg zur Rampe aufbaut, bevor unisono einschlagende Bässe und Carti-Vocals eine der tanzbarsten Schredder-Trap-Eskalationen des Jahres entladen. Auf "Choppa Won't Miss" rekrutiert der Playboi Young Thug, um einen Song zu schmieden, der ein wenig wie ein Balladen-Reprise von "Magnolia" klingt. Kein Witz, die eklektischen Synth-Horns ähneln in Textur und Appeal dem Leitinstrument auf Cartis größtem Hit, aber mit etwas sanfteren und zurückhaltenderen Vocals und Grooves entwickelt der Track unter der chaotischen Vocal-Synergie seiner Protagonisten eine fast bedrückende Energie. 

Das Highlight dürfte jedoch "FlatBed Freestyle" sein. Die melancholische Synth-Line klingt ein bisschen nach Pokemon Rot, als hätte Carti gerade in einer Seitenstraße von Orania City den Traum vom Pokemon-Champion gegen Xanax-Pillen eingetauscht. Der Track selbst kommt dabei mit so wenig Bombast und so wenig Präsenz aus, dass er den minimalistischen Appeal von "Die Lit" ziemlich perfekt zusammenfasst. Wie viel Pop, wie viel Ohrwurm, wie viel Äshtetik kann man mit wie wenig Rap, wie wenig offensichtlicher Struktur und wie wenig Ordnung schaffen?

Die Antwort ist: Eine ganze Menge. In einem Jahr, in dem viele Alben von nennenswerten Trap-Artists trotz Hitsongs und Charakter eher im Mittelmaß versinken und sich darauf verlassen, mit dem selben Rezept das selbe Ergebnis zu erzielen, bieten Carti und Pi'erre eine interessante Alternative an. Denn während "Die Lit" offensichtlich ebenfalls davon lebt, radikal und nahezu primitiv auf derselben Grundformel zu beharren, finden sie doch in der Umsetzung selbst für die überraschend lange Spieldauer genug Klänge, genug Adlibs, genug Stimmungen und die richtigen Gäste, so dass kein Song langwierig ausfällt. Das Ergebnis ist ein psychedelisches, hypnotisches und nahezu betäubendes Projekt, das emblematisch für die besten Seiten von Atlanta in der zweiten Hälfte der 2010er steht. 

Trackliste

  1. 1. Long Time
  2. 2. R.I.P.
  3. 3. Lean 4 Real (feat. Skepta)
  4. 4. Old Money
  5. 5. Love Hurts (feat. Travis Scott)
  6. 6. Shoota (feat. Lil Uzi Vert)
  7. 7. Right Now (feat. Pi'erre Bourne)
  8. 8. Poke It Out (feat. Nicki Minaj)
  9. 9. Home (KOD)
  10. 10. Fell In Luv (feat. Bryson Tiller)
  11. 11. Foreign
  12. 12. Pull Up
  13. 13. Mileage (feat. Chief Keef)
  14. 14. FlatBed Freestyle
  15. 15. No Time (feat. Gunna)
  16. 16. Middle Of The Summer (feat. Red Coldhearted)
  17. 17. Choppa Won't Miss (feat. Young Thug)
  18. 18. R.I.P. Fredo (Notice Me) (feat. Young Nudy)
  19. 19. Top

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