laut.de-Kritik

Seattle, Grunge, Ticketmaster, Roskilde, George Bush: Eine Reise von "Ten" bis Twenty".

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Eddie Vedder verließ die Premiere des Films "Twenty" mit gemischten Gefühlen. Es sei "angsteinflößend" gewesen, so der Sänger, vor Augen geführt zu bekommen, wie die eigene Gruppe vor 20 Jahren praktisch über Nacht aus ihrem Feierabend-Musikerstatus herausgerissen und der MTV-Welt als kommende Rock-Superstars serviert wurde.

Vielleicht meinte er aber auch Liveauftritte wie den auf dem holländischen Pinkpop 1992, die verdeutlichen, welch agiler bis lebensmüder Frontmann der heutige Ukulelenspieler einmal gewesen ist. Nicht nur, dass seine noch vorhandene Matte zu Zeiten von "Alive" in erhabener Metal-Rotation kreiste, auch die akrobatischen Open Air-Stunts an himmelhohen Stahltraversen spielen klar in der Iggy Pop-Liga.

Es fügt sich dem Selbstverständnis und der seit Jahren praktizierten Philosophie von Pearl Jam, dass mit Cameron Crowe ("Singles", "Almost Famous") ein enger Freund der Band mit der Sisyphosaufgabe betraut wurde, aus 1.200 Stunden Rohmaterial eine abendfüllende Dokumentation zu kreieren. Das Vertrauen zahlte sich aus: Der enge Freund, der 1990 als Rolling Stone-Redakteur nach Seattle zog und bald zahlreiche Musiker der Szene kennenlernte, brach weder unter der emotionalen Nähe zum Sujet zusammen, noch verhedderte er sich in Details.

Mit der nötigen Hingabe, die das Verhältnis der Band Pearl Jam zu ihren Fans seit 1991 auszeichnet, erzählt Crowe chronologisch und beginnt mit den Ursprüngen der Band in den Formationen Green River und Mother Love Bone sowie dem tragischen Tod des MLB-Sängers Andy Wood.

Vor allem Chris Cornell entpuppt sich hier als unverzichtbarer Zeitzeuge der frühen Jahre, etwa wenn er ausführt, warum für das Zusammengehörigkeitsgefühl der zahlreichen Seattle-Bands nicht Kurt Cobains Drogentod, sondern bereits jener von Wood im Jahr 1990 "das Ende der Unschuld" bedeutete. Auch Cornells Anteil an der Integration des "new kids" Eddie Vedder nach dessen Ankunft aus San Diego in der nordamerikanischen Hafenstadt wird feinfühlig herausgearbeitet.

Besonders viel Zeit investiert Crowe konsequenterweise in die Entstehungsgeschichte des Klassikers "Ten". Blieb Vedder aufgrund seiner Rolle als "Zugereister" im Anfangsteil des Films lange abwesend, setzt ihn Crowe nun als maßgeblichen Grund für den Erfolg der Band in Szene und veranschaulicht anhand seiner Person die schizophrenen Auswirkungen eines neuen Lebens auf dem Silbertablett, das tagtäglich dem zügellosen Appetit der Massenmedien ausgeliefert ist.

In einer Szene des Films erzählt Vedder von seiner Vereinbarung mit Kurt Cobain, niemals etwas mit dem Time Magazine zusammen zu machen, der "Zeitschrift unserer Eltern, die beim Friseur rumliegt". Kurze Zeit später schaffte es Vedder auch ohne eigenes Zutun aufs Cover.

In solchen Momenten erahnt man die selbstzerstörerische Wucht, mit denen ungeplante Ereignisse wie ein Medienhype der Grunge-Größenordnung einen Menschen treffen können. Vielsagend auch eine Sequenz, in der der misanthropische Ex-Surfer Vedder 1992 kurz nach einer 40.000er Festivalshow davon redet, dass er am liebsten in kleinen Clubs spielen und mit dem Bus von Stadt zu Stadt fahren würde.

Worte, wie man sie original aus dem Munde von Cobain kennt. Vedders panische Angst vor der Kommerzialisierung der eigenen Musik begleitete die Band jahrelang und findet in "Twenty" den Gipfel in der Rekonstruktion des Ereignisses, als ein weiblicher Vedder-Anhänger mit 80 km/h in die erst kurz zuvor errichtete Mauer seines Anwesens raste.

Spätestens ab diesem Moment zwang der Sänger die Band zu einer noch radikaleren Abkehr von öffentlichen Pflichten und leistete damit vermutlich nicht nur einen Beitrag zur Vermeidung einer desaströsen Talfahrt à la Cobain, sondern injizierte Pearl Jam damit das Serum der Unverwundbarkeit.

Crowe belässt es glücklicherweise nicht dabei, anhand der Hits den Einfluss der Band auf die Popkultur darzulegen, sondern interessiert sich besonders für das Innenleben der Gruppe, die persönlichen Biographien ihrer Mitglieder und das daraus resultierende (politische) Engagement des Kollektivs.

Der Grundsatzstreit mit dem US-Ticketmonopolisten Ticketmaster darf hier genau so wenig fehlen (bizarr: Stone Gossard und Jeff Ament in einer Kongressanhörung zum Thema) wie Vedders abschätziges Statement nach der 1996er Grammyehrung für "Spin The Black Circle": "Diese Auszeichnung bedeutet mir nichts."

Es sollte ab dann auch nicht mehr viele Gelegenheiten für Vedder geben, sich über Welthits oder Selbstinszenierungen der Industrie zu beschweren. Abseits der Charts pflegten die Musiker in den Folgejahren die freundschaftliche Bande ihrer Ursprünge, rückten wieder enger zusammen und lernten gleichzeitig, mit den verändernden Songwriting-Machtverhältnissen um den neuen Chef Vedder umzugehen.

Aus dieser gewonnenen Stärke heraus überlebte die Gruppe ihren Karrieretiefpunkt 2000, als neun Menschen beim Pearl Jam-Auftritt in Roskilde zu Tode getrampelt wurden und verlieh ihrer Wut und dem Frust über die US-Administration von George W. Bush öffentlich Ausdruck.

Nach dem Genuss von "Twenty" erscheint der Gedanke einer bevorstehenden Trennung dieser harmonieseligen, mit Gemütsruhe agierenden Rock-Institution jedenfalls mehr als unwahrscheinlich. Es wäre ihnen zu wünschen: Schließlich haben sie nachweislich genug Klippen umschifft, als noch an irgend einer zu zerschellen.

Trackliste

  1. 1. Pearl Jam Twenty Documentary
  2. 2. Extra Features
  3. 3. Mike McCready writing "Faithfull"
  4. 4. Jeff Ament in Montana
  5. 5. Stone Gossard Seattle Driving Tour
  6. 6. Boom Gaspar joins the band
  7. 7. Eddie Vedder House Tour
  8. 8. Matt Cameron writing "The Fixer"
  9. 9. No Anything
  10. 10. Come Back

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