laut.de-Kritik

Die Tiger von Winnenden bringen alle Hippies um.

Review von

Welcher echte Punkfan kennt sie nicht; die legendär subversiven "Schlachtrufe BRD"-Sampler aus der Kreidezeit? Eine Stammgastband auf diesen durch die konservativen Medien oft und gern skandalisierten Reihe war Normahl. Wer auf solche Meriten zurückblicken kann, der darf sich auch gern selbst augenzwinkernd als angeblich dienstälteste Punkband der Republik feiern. "Jongr" soll nun dem geneigten Hörer einen Streifzug durch mehr als drei Jahrzehnte Bandgeschichte liefern und fungiert gleichzeitig als Soundtrack für einen selbst gedrehten Spielfilm über den Urknall der Bewegung.

Was als Vorhaben ambitioniert und verheißungsvoll klingt, tönt in der Umsetzung jedoch nicht immer überzeugend. Neu eingespielte Klassiker, diverse Cover und ein paar frische Songs. Gute Mischung, sollte man meinen. Warum also fühlt sich der Lauscher beim Genuss der Platte in Teilen seltsam unbeteiligt? Ganz einfach: Die Jungs aus Winnenden konzentrieren die Auswahl der Tracks all zu sehr auf Fremdmaterial und - gemessen am historischen Anspruch – harmlosen Bierpunk, garniert mit Staub beschichteten Pubertätsprovokationen.

Das hat früher gut funktioniert. Normahl selbst waren nie die ätzend pointierten Sozial-Sezierer wie etwa Abwärts; nie die elegant kryptischen Dichter wie EA 80 oder Razzia und erst recht keine Bravo-kompatiblen Entertainer wie Ärzte oder Hosen. Dafür fehlt ihnen einfach das Bono-Gen eines Campino. Normahl sind seit jeher der Mörteleimer des Punk. Sie waren und sind die Rache der Provinz an den sich selbst mitunter sehr ernst nehmenden Agit- und Politpunx. Normahl-Kutten waren ein wichtiges und notwendiges Bollwerk der ländlichen 80er Jugend gegen faschistoid angehauchtes Spießertum. Denn sie wussten stets: Das Land besteht nicht aus Berlin und Hamburg. Deutschland? Das ist der alltägliche Überlebenskampf in den Landstrichen.

Nur, wer das weiß, versteht Lieder wie "Geisterstadt", "Verarschung Total" oder "AVC" mit Zeilen wie "Ich bring die ganzen Hippies um" nicht als komplett hirnrissige Feindbild-Missverständnisse frustrierter Teenager. Befremdlich bleibt es gleichwohl. Musikalisch sind diese ganz frühen Songs nach 30 Jahren ebenfalls nicht gerade saftig. Sie bleiben Fingerübungen von 17-Jährigen, die noch mit den Instrumenten kämpfen. Dokumentarisch wertvoll? Sicherlich aus historischer Sicht; aber deshalb noch lange nicht einladend zum Hören.

Dem gegenüber stehen andererseits ein paar tolle Hymnen. "Darum bleib ich Punk" lockt mit entwickelter musikalischer Identität und der zeitlosen Weisheit "Es gibt viel zu viele Menschen, die halten es für Glück, wenn sie 365 Tage am Stück jeden Schlag von ihrem Herrn akzeptieren. (…)Und darum bleib ich Punk, denn ich weiß ganz genau, dass ein richtiger Mann im Stiefel stirbt oder in den Armen einer Frau". Mit dem seiner Zeit kleinen Szenehit "Geh wie ein Tiger" gelingt den Mannen um Bandchef Lars Besa sogar ein mehr als hervorragender Stadionrocksong, der gebührend und mit leichtem Pathospinsel Individualismus und das ganz eigen Maskuline zelebriert. In einer gerechten Welt stünde dieses Lied gleichberechtigt erfolgreich neben großen ewigen Hits a la "Hier kommt Alex" und Co.

Doch wer nur hat die Truppe auf die Idee gebracht, so viele Cover auf den Silberling zu packen? Die Pistols Visitenkarte "Holidays in the Sun" ähnelt dem Original mit Matlock Arrangement und Lydon-Phrasierung bis aufs Zwillingshaar. Doch seit wann ist sklavische Reproduktion Sinn eines Covers? Die Hommage an King Elvis gelingt deutlich besser. Sie sind eben echte Rock'n'Roller. Indes: Normahl lernt der Neuling so leider auch nicht kennen. "Claudia" von den Lennons funktioniert als überraschender Gossenporno-Gag genau einmal. Und die wirklich toll groovende "Große Chance" entpuppt sich – trotz der Normahl eigenen Lyrics – letzten Endes musikalisch als alter Cars-Klopper "Just What I Needed".

Uns sonst? Ok, ein knuffiges Instrumental als Score-Mucke namens "Pink Tiger". Das klingt ein wenig, als wenn Jeff Beck unter der Anleitung von James Last einen Vangelis Song spielen würde. Krude, aber mit Suchtpotential. Die furchtbare Hinwendung zum schon immer Neurodermitis erzeugenden Funpunk (u.a. "Durst") habe ich bei den Schwaben gleichwohl nie verstanden. Damit landen sie schlussendlich trotz immensen Potentials immer nur in der künstlerischen Schmuddelecke zwischen Bahnhofsklo, schummrigem Sex-Shop und Bierzeltkompatibilität. Auf diesem Gebiet war jedoch keine Band besser als die ebenso ehrwürdigen guten alten Strassenjungs, welche – nebenbei bemerkt – tatsächlich die dienstälteste Punkband des Landes sind. Wichtige Skandaltracks wie z.B. der gute alte "Pflasterstein" fehlen dagegen leider komplett.

Schade! Mit dieser Zusammenstellung tun sich die Tiger von Winnenden nur bedingt einen Gefallen. 30 Jahre Normahl hätten einfach mehr zu bieten, als man hier zur Schau stellt. Dennoch machen die gelungenen Teile der Platte Lust auf weitere Dekaden. Als echte Rockband haben sie den goldenen Käfig des Punkgenres bereits mehr als einmal überwunden. Bitte dort weiter machen. Dann werden wir wieder gern die fette Beute dieser sympathischen Raubkatzen von der Rems.

Trackliste

  1. 1. Berlin
  2. 2. Holidays In The Sun
  3. 3. Darum bleib ich Punk
  4. 4. Nach all den Jahren
  5. 5. Geisterstadt
  6. 6. Große Chance
  7. 7. Pink Tiger
  8. 8. Verarschung Total
  9. 9. Deutsche Waffen (live)
  10. 10. Nimm mich mit
  11. 11. White Mouse
  12. 12. Durst
  13. 13. Claudia
  14. 14. AVC
  15. 15. Suspicous Minds
  16. 16. Rockabilly Jimmy
  17. 17. Geh wie ein Tiger
  18. 18. Virtual Life
  19. 19. Suspicous Minds (Reprise)

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