laut.de-Kritik

Rondò Veneziano auf Acid.

Review von

Auf die Frage, welche Tätigkeit ihm im Leben die größte Freude bereitet hat, antwortete Altbundeskanzler Helmut Schmidt 2008 dem Zeit Magazin nicht etwa trocken "rauchen", sondern: "Musik hören, zum Beispiel Glenn Gould. Und zwar nicht Beethoven, sondern Bach" Eine Passion, die er mit Nicolas Godin, einer Hälfte von Air, gemeinsam hat. Dieser verbindet nun seine Vorlieben für Bach und Gould zu seinem ersten Soloalbum.

Dem Ausgangspunkt entsprechend wohnt "Counterpoint" ein charmanter Knall und sympatischer Größenwahn inne. Godin setzt sein Vorhaben auf gewohnt hohem Niveau um. Naturgemäß läuft er seinen Vorbildern trotzdem meilenweit hinterher. Der Longplayer bleibt über seine ganze Laufzeit ein verschrobenes Experiment, dessen Spielereien und Einflüsse aus seinen Begrenzungen hinaus quellen und die so verhindern, dass sich ein stimmiges Bild bildet.

Das babylonische Sprachengewirr aus deutsch, französisch, italienisch, portugiesisch und englisch verstärkt diesen Eindruck nur noch. Teilweise wirkt "Counterpoint" sogar unfreiwillig komisch. All dies macht die Platte nicht besser, aber weitaus spannender als vieles, was Air seit "10000 Hz Legend" veröffentlichten.

Dementsprechend verstört "Orca", das sich an Johann Sebastian Bachs "Präludium und Fuge C-Dur" orientiert, zunächst. In zwei Teile zerrissen, imponieren zuerst noch eine hart angeschlagene Gitarre und hochmütige Streicher, bis das Stück im zweiten Teil in eine verstörende 8-Bit-Orgie zerbricht. Rondò Veneziano auf Acid.

Das auf deutsch eingesungene "Widerstehe Doch Der Sünde" erhält alleine schon durch die ungelenke Aussprache des Chors eine ähnliche Skurrilität wie Frank Zappas "Sofa No. 2". Gordon Tracks aka Thomas Mars von Phoenix und Dorothée de Koon reichen sich das Mikro von Hand zu Hand, wobei letztere eine deutlich bessere Figur macht. Ein befremdend und bewegendes Stück, adaptiert von Bachs-Kantate "Widerstehe Doch Der Sünde BWV 54". Verträumt, überladen, grotesk und schön.

In den zugängigsten Momenten scheint auf "Contrepoint" Godins Hauptband durch die Arrangements. "Club Nine" verschmilzt die La Boum-Ästhetik von "Moon Safari" mit Bachs "Präludium in C-Moll BWV 999" und einem Jazz-Piano, dessen Stil deutlich an Dave Brubeck erinnert. Das erhebende "Glenn" greift den Basslauf aus Lou Reeds "Street Hassle" auf, lässt diesen mit Bachs "Präludium & Fuge N°5 in D-Dur BWV 850" kollidieren, bis letztendlich ein Interview mit dem namensgebenden Glenn Gould das stimmige Klangbild durchstößt.

Der wohl stärkste Lied, das schwüle "Bach Off", erinnert in seiner Brillanz an Lalo Schifrin. Klar an Soundtrackarbeiten der 1960er und 1970er orientiert, entwickelt der vertrackte Song eine gewaltige Bildsprache. Ein siedendes Saxofon, harte Piano-Anschläge und turbulente Percussions bilden ein Gefüge, in dessen ruhigen Passagen sich ein auf einem Cembalo gespieltes "Präludium & Fuge N°2 in C-Moll BWV 847" ausbreitet. "Elfe Man" zeigt den deutlichen Einfluss von Bach auf die Beach Boys eines Brian Wilsons, bevor es mit seinem lieblich summenden Frauenchor in die Gothic der frühen Burton/Elfman-Kooperationen abdriftet.

Nicholas Godin spielt nicht einfach Werke von Bach nach. Viel mehr erschafft er mit der Hilfe seines Co-Songwriters, dem Bach-Spezialisten Vincent Taurelle, aus den Vorlagen neue Stücke. Mal übernimmt er ganze Passagen, mal nur wenige Sekunden aus den Vorlagen und arbeitet diese in die Tracks auf "Contrepoint" ein. In einem Interview mit "Reclams Universum" brachte es Albert Einstein bereits 1928 auf den Punkt: "Was ich zu Bachs Lebenswerk zu sagen habe: Hören, spielen, lieben, verehren und - das Maul halten!".

Trackliste

  1. 1. Orca
  2. 2. Widerstehe Doch Der Sünde
  3. 3. Club Nine
  4. 4. Clara
  5. 5. Glenn
  6. 6. Quei Due
  7. 7. Bach Off
  8. 8. Elfe Man

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1 Kommentar

  • Vor 7 Jahren

    Leserwertung 1 Punkt? Es wäre schön wenn dieser Mensch mal schreiben könnte, was an dem Album so mies sein soll. Ich habe jetzt einfach mal 4 gegeben, um die Wertung nach oben zu ziehen :)
    Auf jeden Fall ein interessantes, unkonventionelles Album, stimme der Rezension zu.