2017 ist jeder Tag Frauentag, mit 365 Interpretinnen und Bands, sortiert nach Genres. Diesmal mit Vorrede von Jo Bevan von Desperate Journalist.

Konstanz (skb) - Shoegaze is not a real genre! "Shoegaze is ein dämlicher Begriff, den sich ahnungslose NME-Idioten ausgedacht haben", wetterte Mogwais Stuart Brathwrait, bekennender My Bloody Valentine-Fan, 2008 und hat irgendwie Recht. Trotzdem halten sich die Spuren des (Nicht-)Genres bis heute hartnäckig.

Langsam entwickelte sich aus psychedelischem 60er-Rock, Noise Rock, Gothic und Ambient-Einflüssen Mitte der Achtziger eine neue Spielart, die sich in den lieblicheren Dreampop auf der einen und dem von dichten, verzerrten Gitarrenwänden geprägten Shoegaze auf der anderen Seite spaltete. Die Blütezeit hielt nur kurz, die Grunge-Welle spülte nahezu alle Vertreter mit einem Schlag hinfort. Die wenigen Überlebenden definierten sich als Britpop neu, der wiederum die Grunge-Welle austrocknete. (Nebenbei finden wir hier zwei weitere ziemlich dämliche Genre-Bezeichnungen.)

Bat For Lashes oder Beach House tragen die Dreampop-DNA auch heute noch in sich, Oathbreaker, Deafheaven und Alcest führten im Blackgaze Shoegaze mit Metal zusammen. Zuletzt beobachtete man mit neuen Alben von My Bloody Valentine, Slowdive und Ride einen regelrechten Comeback-Boom.

Im Verhältnis zu anderen Musikrichtungen wie Metal und Hip Hop nahmen beim Shoegaze und Dreampop Frauen von Beginn an eine deutlich größere Rolle ein. Elizabeth Frasers Gesang (Cocteau Twins) prägte die Genres von Tag eins an. Von den vier wohl bekanntesten Bands kommen einzig Ride ohne weibliche Beteiligung aus. Viel Spaß also, mit ...

30 weiblichen Acts im Shoegaze und Dreampop

Das weitere Vorwort übernimmt diesmal Jo Bevan, Sängerin der bereits in der "Punk, Post-Punk, New Wave"-Folge genannten Desperate Journalist.

Jo Bevan (Desperate Journalist):

Zuletzt hat man mich öfter gefragt, wie es ist, als Frau in der Musikindustrie zu arbeiten. An sich finde ich es fantastisch, dass insbesondere Musikjournalisten, aber auch die Industrie im Ganzen, begonnen haben, Frauen als ernstzunehmende Künstler und wertvolle Kommentatoren ihrer eigenen Erfahrung stärker wahrzunehmen. Bis hierhin wurde das größtenteils ignoriert.

Trotzdem fühlt es sich auch ein wenig so an, als bekräftige die Frage die Idee, Frauen in der Musik seien etwas Außergewöhnliches und Neuartiges. Das stimmt auf keinen Fall und stört mich persönlich auch sehr. Jetzt und auch schon immer waren viele Frauen in der Musik involviert. Nur weil die Leute ihnen nicht immer so viel Aufmerksamkeit und Stellenwert wie ihren männlichen Gegenstücken zuteil werden ließen, bedeutet das ja nicht, dass sie nicht da gewesen wären, nichts geschaffen, geschrieben, in Angriff genommen hätten, und nicht an den Synthesizern, Szenen und Magazinen gesessen hätten, die die Musik von damals bis heute in neue und spannende Richtungen gelenkt haben.

Ich glaube, das ist das größte Anliegen, das ich als Teil von Desperate Journalist mitbekommen habe. Es gibt einen Haufen Männer, die uns anscheinend mögen, weil sie auf "Girl Bands" stehen. Auch, wenn natürlich jeder seinen eigenen Geschmack hat: Diese "Geschlecht als Genre"-Geschichte fühlt sich für uns als Band in unserem Eigenwert doch herabwürdigend an. Wir klingen weder wie Sleater-Kinney, Bikini Kill, The Selecter, Hole, Cranes oder Wolf Alice. Ich mag Radiohead doch nicht als "Männerband", ich mag sie, weil sie fantastisch sind. Ich wünsche mir, dass auch Bands mit weiblichen Mitgliedern ein solcher Respekt entgegengebracht würde.

Ich habe außerdem die Erfahrung gemacht, dass oft ein Gebaren herrscht – besonders auf Gigs – dass Männer den Frauen in unserer Band gegenüber ziemlich bevormundend auftreten. Man hat mir erzählt, ich solle keine Effekte auf meine Stimme legen. Uns wurde verboten, das Pedal auf der Bühne zu verwenden. Tontechniker haben Caz' Fähigkeit in Frage gestellt, ihr Drumset allein aufzubauen. All sowas. Niemand hat jemals irgendwelche Zweifel an den Fähigkeiten von Rob oder Simon geäußert. Tatsächlich ist es sogar immer wieder vorgekommen, dass Männer sie ansprechen, um von ihren etwas über Effekte und Instrumente zu lernen. Wir alle sind talentierte Individuen, die alle intelligente Gedanken und Fähigkeiten in ihre Arbeit legen. Dafür sollten wir auch anerkannt werden.

Das Gefühl, sexuell zum Objekt degradiert zu werden ist ein Umstand, an den ich mich als Frau deprimierenderweise schon beinahe gewohnt habe, weil es wie ein trüber Nebel ist, der dich im Grunde durchgehend umgibt, sobald du als Mädchen die Pubertät erreichst. Auf einer Bühne zu stehen, bringt dich natürlich in einen noch weiter erhöhten Zustand für diejenigen Typen, die sich gerne wie die Allergrößten vorkommen und denken, dass deine Selbstdarstellung ihnen erlaubt, zu beurteilen – und dir das auch mitzuteilen – für wie fickbar sie dich halten.

Natürlich bewundern Leute Männer und Frauen in Bands, weil wir alle extrem cool und attraktiv sind. Das ist in Ordnung. Es ist aber nicht in Ordnung, einer Frau durch den ganzen Raum aggressiv entgegenzubrüllen, dass sie eine "sexy Bitch" sei, wenn man sie nicht kennt. Außerdem würde ich fast wetten, dass männliche Kollegen nicht unbedingt nach einem Gig von Fremden angesprochen werden und einen pseudo-intellektuellen Vortrag darüber zu hören bekommen, dass ihr Umgang mit dem Mikrophon so aussehe, als würden sie es gleichzeitig aussaugen und ablecken – und das sei ja nicht nur ein interessantes und beeindruckendes symbolisches Konzept, definitiv nicht einfach eine ultra-gruselige Aussage, die besagten Kollegen komplett übel werden ließe. Einfach die Vorstellung, wie dieser Kerl beim Ansehen des Gigs sie in einem spezifischen, sexuellen Kontext gesetzt hat.

Insgesamt ist der Hauptgrund dafür, dass ich nur diese spezifischen Probleme wirklich erlebt habe, meine privilegierte Position in der Gesellschaft. Ich bin weiß, dünn, cis und aus der Mittelklasse. Es gibt einige dokumentierte Fälle von anderen Frauen, die ihre Leben ohne diese Privilegien gelebt haben und für die ich nicht sprechen kann, die viel Schlimmeres durch die Hände, Stimmen und Keyboards der anderen Industriemenschen ertragen müssen. Ihnen muss man unbedingt ebenfalls zuhören und ihre Erfahrungen verstehen.

Die Stimmung in der Musikindustrie scheint sich nach und nach in eine positivere und gleichberechtigtere Richtung zu entwickeln, was fantastisch ist. Aber es gibt noch sehr viel Arbeit zu leisten und noch viel mehr Frauen, denen man zuhören sollte.

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