1. September 2010

"Wir machten Witze über 'Hybrid Theory II'"

Interview geführt von

27 Stunden Flugzeit für 20 Minuten Interview. Manchmal sollte man besser nicht nachrechnen, ob sich der Aufwand für eine bestimmte Aktion überhaupt lohnt. Aber wenn man das Angebot bekommt, mal kurz nach L.A. zu brettern, um dort Linkin Park zu interviewen, überlegt man halt nicht lange.Manche Erfahrungen muss man einfach machen und auch wenn der Chaosgehalt dieser Aktion relativ hoch ist, läuft am Ende doch die Anreise weitgehend glatt über die Bühne. So sitze ich an einem Mittwoch Mittag im Juli um 14:00 (Ortszeit) in einer Hotel-Suite und höre mir sechs der neuen Songs von "A Thousand Suns" an.

Allein die Single "The Catalyst" ist bereits gemastert, drei weitere haben noch nicht einmal einen Titel. Aber auch so wird schnell klar, dass das neue Album für einige Überraschungen sorgen wird – und mit Sicherheit auch für einige enttäuschte Fans. Denn in Sachen rockiger Gitarrenpower ist bei den gehörten Nummern nicht viel los.

Nach zwei Durchläufen werde ich schließlich in die nächste Suite gebeten, wo bereits Mike Shinoda und Drummer Rob Bourdon am Tisch sitzen und gerade ihr Mittagessen beendet haben. Beide scheinen gut gelaunt, Mike beobachtet seine Gegenüber sehr interessiert und wirkt ausgesprochen höflich. So kommt ein gutes Gespräch zustande, und am Ende hat sich die Reise doch noch gelohnt.

Ich hatte gerade die Möglichkeit sechs Songs zweimal anzuhören. Ich sags mal so: die Sachen klingen nicht unbedingt nach dem, was ich erwartet hätte ...

Mike: Echt? Da bist du jetzt der Erste ,der das sagt.

Was? Ja klar …

Mike: Nein, ich mach nur Spaß (lacht). Das sagt eigentlich jeder und ich sehe das als Kompliment. Du hast jetzt sechs Songs gehört, aber um dir ein wirkliches Bild von der Scheibe zu machen, musst du eigentlich erst alles gehört haben. Das ist ein echtes Album und nicht nur eine Sammlung von Songs, die eben zufällig auf der selben CD gelandet sind. Das Album steht für sich und funktioniert als eine Einheit. Die Reihenfolge der Songs ist auch nicht die, wie sie letztendlich auf dem Album angeordnet sind. Du hast im Prinzip so was wie den Trailer zu einem Film gesehen. Da sind auch immer nur einige, wenige Szenen aus einem Film zu sehen und auch nicht zwingend in der richtigen Reihenfolge. Du bekommst zwar einen Eindruck vom Film, aber was letztendlich auf dich zukommt, weißt du erst, wenn du ihn gesehen hast.

Bei den ersten beiden Songs frag ich mich aber schon, ob Rob da überhaupt Schlagzeug gespielt hat.

Rob: Schon, aber jetzt nicht im Sinne von einem normalen Drumbeat. Das meiste sind Samples und ich hab vor allem auf den Toms ein paar Sachen dazu gespielt. Die Songs funktionieren hauptsächlich mit Percussion. Wie das live aussehen wird, steht dann wieder auf einem anderen Blatt. Kann gut sein, dass wir die Songs live deutlich rockiger angehen werden. Sie unterscheiden sich doch sehr von den Sachen, die wir bisher gemacht haben, und da war es gar nicht so einfach, was Interessantes dazu zu spielen. Letztendlich hab ich mich auf ein paar Toms konzentriert, weil ein komplettes Rockdrumset in dem Zusammenhang keinen Sinn gemacht hätte. Das war auch für mich eine neue Erfahrung und ich gehen mittlerweile auch alte Songs von uns ein wenig anders an. Der Reiz an der neuen Scheibe war einfach, etwas ganz anderes zu machen und entsprechend muss ich auch von meinem Spiel her die Dinge anders angehen.

Mike: Sobald wir gemerkt haben, dass wir an etwas arbeiten, das wir früher schon genauso oder ähnlich getan haben, hat uns das direkt irgendwie abgeschreckt und wir haben das gleich wieder verworfen. Das hatte keine Reiz mehr für uns, weil es irgendwie zu einfach wurde.

Verzerrte Gitarren machen noch keine Heaviness"

Ich hab mich beim Hören eben ständig gefragt, wie diese Songs live funktionieren sollen. Habt ihr schon ein paar ausprobiert?

Mike: Nein, bisher nicht, aber ich sehe da kein großes Problem. Die Sache ist die, dass wenn wir anfangen an Songs zu arbeiten und zu schreiben, nehmen wir das auch gleichzeitig auf. Alles was wir in dem Stadium machen, auch die Jams, wird direkt auf Band gepresst und damit arbeiten wir dann später und suchen uns die besten Stellen raus. Ich denke, wir haben unseren ganz eigenen Schreibstil, der sich wohl von den meisten anderen Bands unterscheidet, und das funktioniert für uns ganz gut. Für Außenstehende ist es unmöglich zu sagen, welcher Teil eines Songs von wem stammt. Rob spielt zum Beispiel genauso Klavier und Gitarre wie ich. Viele der Gitarrenriffs auf der Scheibe stammen von mir. Aber das ist schon seit langem so, nur wissen das die wenigsten Leute. Für "Papercut" vom ersten Album stammen auch die meisten Gitarren von mir.

Was die Live-Situation angeht, haben Rob und ich uns vorhin schon darüber unterhalten. Wir sind nicht der Ansicht, dass sich ein Song live genauso anhören muss, wie auf CD. Da gibt es genügend Möglichkeiten, wie wir die Sachen auf der Bühne angehen können, ohne dass die Songs sich dadurch maßgeblich verändern. Da ist es dann durchaus auch möglich, dass Rob einfach die Samples mit seinem Kit spielt.

Dennoch kamen mir die sechs Songs zum Großteil recht ruhig und relaxt vor. Auch in Sachen Gesang. Was ich mich dabei gefragt habe war: ist denn hier keiner mehr über irgendwas wütend? Alles macht einen sehr relaxten, ruhigen Eindruck. Mir fehlt so ein wenig die Power nach vorne.

Mike: Wirklich? Hm, ich hab den Eindruck, dass du die Songs als ziemlich sanft empfindest aber gerade eine Nummer wie "Wretches And Kings" würde ich auf keinen Fall als sanft beschreiben. Auch "Blackout" nicht, denn Chester schreit hier was von bloody murder. Das ist nicht gerade sanft (lacht). Vielleicht kommt dir das so vor, weil es keine harten Gitarren gibt?

Auch die Gesangslinien sind aber sehr ruhig. Beim ersten Song hab ich mir als Stichpunkt einfach nur 'feelgood music' notiert.

Mike: Das wäre dann wahrscheinlich "Waiting For The End" gewesen. Das ist ein wirklich sehr komplexer Song und passiert auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Man kann wirklich sagen, dass der Song über mehrere, unterschiedliche Phasen hinweg geschrieben wurde. Wir haben dort letztendlich sogar zwei Songs miteinander verbunden, weil es einfach so gut gepasst hat. Aber du hast schon recht, wenn du sagst, dass bei den Songs nicht die Heaviness der alten Scheiben auftritt. Darum geht es dir doch, oder? Dir fehlen die Gitarren (grinst).

Ja, in gewisser Weise schon. Es muss ja nicht in allen Songs krachen, aber so ein paar Riffs wären schon nett gewesen.

Mike: Ok, verstehe. Mal ganz davon abgesehen, dass es mir in Songs nicht darum geht, ob sie heavy sind oder nicht, geht Heaviness meiner Meinung nach nicht unbedingt nur von einer verzerrten Gitarre aus. Das ganze Album ist so vielschichtig, und wenn es sich für mich heavy anhört, dann mag das durchaus auch allein an den Texten liegen. Das hängt nicht allein an Gitarren oder keinen Gitarren. Wir hatten durchaus Ideen, die viel mit fetten Gitarren zu tun hatten, aber das klang eben nur nach etwas, das wir schon lange gemacht hatten. Das war nicht mehr sonderlich reizvoll für uns. Wir wollen die Sachen einfach dynamisch machen.

Rob, siehst du das genauso wie dein Kollege?

Rob: Wie Mike schon sagte, wir wollten die Scheibe nicht auf Teufel komm raus heavy haben, wenn das bedeutet, dass wir im Prinzip denselben Kram wie früher auch schon machen müssen. Dann lieber Abstriche in Sachen Heaviness, dafür aber ein frisches Album mit neuen Ansätzen und Ideen. Das ist uns auf diesem Album, wie ich finde, sehr gut gelungen - es wirkt vor allem als Ganzes. Man sollte sich wirklich mit der Scheibe hinsetzen und sie von vorne bis hinten anhören, ehe man sich ein Urteil erlaubt. Die Songs werden deutlich kraftvoller, wenn man sie in Verbindung mit den anderen hört, die Atmosphäre bekommt viel mehr Power. Aber wie gesagt, das ergibt sich dann aus dem Kontext. Bei den Songs, bei denen du kein volles Drumset hörst, habe ich anfangs durchaus mit normalen Beats gearbeitet, aber es wurde schnell klar, dass die Songs auf diese Art im Kontext des Albums nicht funktionieren. Das war auch für mich dann eine recht große Herausforderung, das als Drummer komplett anders anzugehen und effektiv dazu zu arbeiten.

Mike: Was mich jetzt mal interessieren würde: Welche Linkin Park-Scheiben haben dir denn am besten gefallen?

Ganz ehrlich? Ich mochte die ersten beiden ganz gern. Ich mein, schau mich an. Ich bin halt der Metalhead und mag es, wenn die Gitarren einen Song nach vorne drücken.

Mike: (grinst) Ja, das dachte ich mir. Super, das ist genau die Art Unterhaltung, die ich mag, ganz ehrlich! Das ist keine einfache Angelegenheit, aber wir wissen natürlich, dass wir jede Menge Fans da draußen haben, die so sind wie du und auf eine rockige Platte mit jeder Menge harter Gitarren gehofft haben. Aber sie die Sache mal so: Wir haben "Hybrid Theory" vor fast zwölf Jahren geschrieben. Erinner dich mal daran, wie du vor zwölf Jahren drauf warst und an alles, was dazwischen passiert ist. Wir lieben unsere Scheiben wirklich alle, und vor allem das Debüt ist natürlich die wichtigste Scheibe für uns. Die Fans von dieser Scheibe kommen immer noch zu unseren Shows und natürlich spielen wir die entsprechenden Songs auch jedes Mal und werden damit bestimmt auch nie aufhören. Aber das waren und sind einfach Songs, welche wir zu einem bestimmten Zeitpunkt geschrieben haben, die wollten damals eben genau so aus uns raus.

Mittlerweile gehen andere Dinge in uns vor, mittlerweile hat sich unser Songwriting weitgehend verändert und andere Songs wollen aus uns raus. Als wir die Sachen damals geschrieben haben, war das für uns was Neues und wir wollten das machen. Dann haben wir die Scheibe veröffentlicht, und andere dachten sich: 'Hey, das ist cool, das will ich auch machen.' Das haben dann immer mehr gemacht und irgendwann wird es einfach uninteressant. Ich hab erst neulich wieder einen Song von einer Band gehört, der original wie ne Nummer von unserem Debüt klang. Und wenn 1000 andere Bands solche Songs schreiben können, was denkst du, wie leicht das für uns wäre? Wir haben tatsächlich ein paar Witze darüber gemacht, ob wir nicht für unsere Fanclubs mal "Hybrid Theorie II" aufnehmen wollen. Das wäre in ein paar Wochen fertig. Für uns wäre das aber alles nicht sonderlich spannend.

Wenn ich der Meinung bin, dass mich ein Riff oder ein Song bei den Eiern packt, dann ist das cool für mich und ich benutz das Riff oder den Song. Ob das jetzt was ähnelt, was ich vorher schon geschrieben habe, ist mir in dem Moment erst mal egal. Aber ich kann verstehen, wenn ihr diese Herangehensweise langweilig findet. Als ich die sechs Songs vorhin zum ersten Mal hörte, dachte ich nur: Ok, das ist ein verdammt mutiger Schritt, den die da machen.

Mike: Danke, schon allein diese Aussage freut mich sehr von jemandem wie dir zu hören. Ich denke nämlich, dass viele von den Fans, über die wir gerade gesprochen haben, diesen Schritt zunächst womöglich nicht nachvollziehen können und dem Album bereits nach dem ersten Durchlauf keine zweite Chance geben. Das braucht die Scheibe aber auf jeden Fall! Wenn man ansatzweise verstehen will, was wir da machen und WARUM wir das machen, dann muss man sich ein wenig mit dem Album beschäftigen. Ich erwarte ja gar nicht, dass die alten Fans das Album genauso lieben werden wie die ersten Scheiben von uns. Ich hoffe nur, sie geben auch diesem Album wenigstens eine Chance.

Ich weiß die Möglichkeit, mich mit jemandem wie dir zu unterhalten gerade sehr zu schätzen. Eben weil du eine große Fanbase von uns vertrittst, die solche Fragen stellen wird und eine Antwort darauf erwartet. Die haben es absolut verdient, dass wir uns zumindest erklären und versuchen klar zu machen, warum wir dieses Album gemacht haben und warum wir zumindest momentan keine Songs mehr wie auf "Hybrid Theory" schreiben wollen. Schließlich schreiben wir diese Art Songs ja nicht, weil uns unsere Fans der ersten Stunde auf einmal scheißegal wären. Sondern weil wir der Meinung sind, dass die neuen Songs geil klingen, und dass sie was Besonderes haben. Wir suchen auch den Dialog zu denen und da ist es sehr wichtig, auch Leute wie dich dabei zu haben, die solche Fragen stellen. Vielleicht schaffen wir es mit den neuen Songs ja auch bei den Fans der ersten Stunde, irgendeine positive Reaktion zu erreichen.

OK, und bevor ich hier gleich von eurer Promoterin rausgeschmissen werde, noch ne ganz andere Frage: Gibt es ein Buch, das ihr unseren Lesern gern empfehlen würdet?

Rob: Was mich zuletzt sehr beeindruckt hat war "Born To Run" von Christopher McDougall. Ich hab Joggen immer gehasst und wollte damit nie im Leben anfangen. Das Buch hat meine Meinung darüber aber ganz schön geändert und ich habe vor, auf den kommenden Touren ein wenig in die Richtung zu machen. Das Buch beschreibt, wie sich Menschen selber zu immer größeren Leistungen pushen können und das hat mich sehr beeindruckt.

Mike: Mich hat zuletzt "Free" von Chris Anderson sehr beeindruckt. Jeder, der in einer Band spielt und sein Material selbst promoten muss oder will, sollte das gelesen haben. Es geht darum, wie man Technologien und vor allem das Internet für seine eigenen Zwecke einsetzen kann. Mich interessieren solche Sachen immer sehr. Für Independent-Bands ein absolutes Muss!

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