laut.de-Kritik

Pfui Spinne, das nennen wir einen Kulturschock!

Review von

Diese Augen ... meine Fresse, für Lemar müsste man den Terminus "Schlafzimmerblick" erfinden, gäbe es ihn nicht schon längst. Dieser Mann, dessen "Soulman" ich noch in bester Erinnerung habe, möchte heute also "The Truth About Love" offen legen? Bitteschön, sehr gern. Ich bin hochgradig gespannt.

"Ich wollte ein Album machen, bei dem der Schwerpunkt ganz klar auf meinem Gesang liegt", zitiert Sony BMG den britischen Sänger, und für die kurze Dauer eines Intros sieht es so aus, als habe dieser Vorsatz tatsächlich gefruchtet. Ohne jede Begleitung eröffnet Lemar sein drittes Album mit Zeilen, die seine afrikanischen Wurzeln verraten.

"Hübsch", denke ich noch, habe wohl kurz nicht aufgepasst, und ersaufe im klebrigen Bombast ausgelutschter Streicher und üppigster Uuuuuh-Aaaaah-Chöre, die an Theatralik ihresgleichen suchen. Pfui Spinne, das nenne ich einen Kulturschock! Dabei bräuchte Lemar diesen überfrachteten Mist gar nicht. Zu von leichterer Hand inszenierten Melodien wie in "It's Not That Easy" oder besonders im erfrischend-kratzigen "Tick Tock", das sich auf Gitarre und einen satten Bass beschränkt, kommt sein Talent wesentlich besser zur Geltung als in zugekleisterten 08/15-Arrangements.

"Just Can't Live Without Each Other Love". Da genügt der Titel, um den zuckrigen Schmonz aus Piano und Streichern ahnen zu können. Genau genommen reicht es mir schon, bevor Lemar zu singen anhebt. Klar, der Mann mit seiner Stimme die ganz große Gefühle transportiert, passt prima auf den Thron des Balladenkönigs - aber gar so standardisiert muss es doch bitte nicht sein.

Mein Bedarf an Allgemeinplätzen ("When A Heart Is Broken") und Schmachtfetzen wie "Caroline" ist seit Jahren gedeckt, danke, und wenn ich in diesem Monat noch einmal mit der Thematik "Unglücklich in die gute Freundin verknallt" konfrontiert werde, wie es Lemar gleich zweimal (!) fertig bringt, dann garantiere ich für nichts mehr. "Someone should tell you / How much I love you / Coz I really do." Menschenskinder, Jungs! Macht doch das Maul auf! Wir können weder Gedanken lesen noch pflegen wir zu beißen. Und wenn doch, habt Ihr in den seltensten Fällen etwas dagegen.

Gelungene Akzente finden sich in den Strophen von "Be Faithful". Der Chorus leidet dafür, wie auch der zu "Can't You See", zu dem Styles P einen stimmigen Rap-Vers beisteuert, an Hyperglykämie. "Anniversary" gerät zwar ebenfalls unerträglich kitschig, trumpft aber mit Gitarre und Percussion auf, die ausnahmsweise nicht unter staubigen Streichern begraben werden. Auch der Part von Lemars Partnerin Joscelyn Stoker erweist sich als nicht von schlechtesten Eltern.

Wie sieht sie denn nun aus, die Wahrheit über die Liebe? Beim Stöbern im Booklet stieß ich auf folgende Erkenntnis: "The truth about love is: There is no truth. Each experience is different." Warum, warum zum Henker klingen die Songs darüber dann alle gleich?

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. Love Me Or Leave Me
  3. 3. It's Not That Easy
  4. 4. Someone Should Tell You
  5. 5. Be Faithful
  6. 6. Tick Tock
  7. 7. Just Can't Live Without Each Other Love
  8. 8. Can't You See
  9. 9. When A Heat Is Broken
  10. 10. Caroline
  11. 11. Let's Fall In Love (Interlude)
  12. 12. Anniversary
  13. 13. Beauty Queen
  14. 14. Your Face

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