21. Februar 2012

"Erkenschwick habe ich auf Google Maps gefunden"

Interview geführt von

Kettcar-Bassist Reimer Bustorff spricht über das vierte Album "Zwischen den Runden". Ein Interview über dieses eine Pressefoto aus dem Jahr 2010, über Hamburg, Erkenschwick und Roskilde.Für einen Boxer hat sich Reimer Bustorff, Bassist und neuerdings auch Songschreiber bei Kettcar, an diesem nassen Januarnachmittag ziemlich schadlos gehalten. "Zwischen den Runden" heißt das neue Album der Hamburger Band, die vor ziemlich genau zehn Jahren mit "Du und wieviel von deinen Freunden" etwas abseits der Pfade von Tocotronic und Blumfeld dem deutschsprachigen Indie-Pop einen gewaltigen neuen Impuls gaben.

Seitdem haben Kettcar – bleibt man beim Bild vom Boxkampf - keine schwereren Kopf- und Bauchtreffer einstecken müssen, sondern mit viel Gefühl ausgeteilt. Sowohl das zweite Album "Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen" als auch dessen Nachfolger "Sylt" erreichten einen bemerkenswerten Platz Fünf der deutschen Charts. Nun sitzt Bustorff mit Sänger Marcus Wiebusch und hanseatischer Gelassenheit für einen Pressetag in der abgedunkelten Astra-Stube (so viel Lokalkolorit muss wohl sein) in Berlin-Neukölln, und soll bitteschön die Großwetterlage bei Kettcar erklären.

Reimer, für viele Menschen waren Kettcar seit "Du und wieviel von deinen Freunden" so etwas wie der Kumpel, der dich stützt, wenn es dir dreckig geht. Und siehe da, der erste Song auf dem neuen Album heißt "Rettung" und behandelt genau eine solche Situation, wenngleich auch im Rahmen einer Liebesgeschichte. Ihr wisst um eure Stärken, oder?

Dieses Kumpel-Ding ist für uns schon eine zweischneidige Sache. Ted Gaier von den Goldenen Zitronen hat uns mal vorgeworfen: 'Ihr macht so Kumpel-Rock'. Das klingt dann schnell etwas prollig, deshalb mag ich diesen Vergleich eigentlich nicht. Freundschaft und Zusammenhalt sind aber auf jeden Fall Werte, die Kettcar wichtig sind. Und uns ist klar, dass Marcus das in einem Lied wie "Rettung" ohne einen fiesen Beigeschmack beschreiben kann.

Diese Bild von Kettcar als Stütze hat sich bei mir im vorletzten Jahr manifestiert, als ich ein Foto gesehen habe, das überall in der Zeitung zu sehen war. Weißt du, welches Bild ich meine?

(Überlegt) Hmm, Nein.

Ich meine das Bild mit dem alten Mann mit blutenden Augen nach dem Polizeieinsatz mit Wasserwerfern gegen Stuttgart-21-Demonstranten im Schlossgarten. Der Verletzte wurde gestützt von einem Mann im Kettcar-Shirt. Das konnte man gut sehen.

Ach ja. Aber wir haben dafür aber nichts bezahlt, das ist Bild nicht gestellt. Komische Sache – und natürlich furchtbar, weil der Mann meines Wissens nun nahezu blind ist. Darum haben wir das Bild auch bewusst nicht auf unsere Homepage gestellt. Aber schon eine tolle Sache, dass ein Typ im Kettcar-T-Shirt da die helfende Hand ist.

Sind Krisenzeiten gute Zeiten für ein neues Kettcar-Album?

Die Frage zielt wohl darauf ab, dass sich das Weltgeschehen oder zumindest das, was wir davon erleben, auf unserem Album widerspiegeln muss. Sicher, ein Song wie "Schrilles, buntes Hamburg" kann nur funktionieren, weil wir spüren, dass da in Hamburg etwas nicht stimmt. Aber all die kleinen, persönlichen Krisen, die gescheiterten Beziehungen innerhalb der Songs, die erleben wir natürlich nicht direkt selbst. Ich finde es auch gar nicht von Bedeutung, dass "Zurück aus Ohlsdorf", ein Song über den Tod, ausgedacht ist. Wir sehen uns zwar schon auch als Beobachter, vor allem waren Kettcar immer Geschichtenerzähler. Ob diese Geschichten unsere Hörer dann auch berühren, wird sich zeigen.

Nun war der Vorgänger "Sylt" ein Album mit einer recht düsteren, bedrückten Grundstimmung. Was würdest du sagen: Wie verhält sich "Zwischen den Runden" mit seinem deutlich helleren Grundton zu "Sylt"?

Vor dem Album "Sylt" hatten wir uns zusammengesetzt und überlegt, wo die Reise von Kettcar hingehen soll. Damals wollten wir mehr Zerrung. Wir wollten laut, dagegen sein. Wir wollten weg von einem Song wie "Balu" ...

Ihr wolltet euch also nicht auf das Image der netten Band festlegen lassen?

Ja, aber wohl eher unterbewusst. Wir wollten einfach mit "Sylt" in andere Fahrwasser. "Balu" ist immer noch ein wichtiges Lied für die Band, wir spielen es auch noch gerne live. Aber es hat uns aus unserem Indie-Kosmos herausgelöst und neue Hörer gebracht: Sekretärinnen und so. Plötzlich sahen auch die Konzerte ganz anders aus. Da wollten wir gegensteuern. Vor dem neuen Album haben wir gesagt: Lass uns überhaupt nicht mehr reden, sondern einfach mal machen. Im Vorfeld hatten wir diese Unplugged-Tour mit Streichern gespielt, die uns sicher Mut gemacht hat, es mit mehr Streicher- und Bläserarrangements zu versuchen. Für mich war es aber auch ganz natürlich, dass auf ein düsteres Album wieder eines mit etwas mehr Licht folgt. Eine solche Wellenbewegung ist besser als auf ein Image festgelegt zu sein. Wir sind nicht die Indie-Band oder die "Balu"-Band ...

"Diese Verbindung aus Kunst und Wirtschaft passt uns nicht"

Ist euer hochgelobtes erstes Album "Du und wieviel von deinen Freunden" eigentlich so etwas wie eine Blaupause für euer Schaffen?

So ein Plan existiert natürlich nicht, obwohl das Album sprachlich natürlich ein Maßstab, ein Grundstein für uns ist. Das Ziel ist bis heute das gleiche: Wir sind eine Band, die gute Drei-Minuten-Popsongs schreiben will. Wir haben uns sogar die Freiheit genommen, mal ganz weit wegzugehen von diesem Indie-Ding.

Welcher Song ist hierfür deiner Meinung nach exemplarisch?

"In deinen Armen" mit seinen jazzigen Akkorden und "Weil ich es niemals so oft sagen werde" sind für mich reine Pop-Songs. Mit der Musikrichtung Indie - so wie ich sie für mich immer definiert habe - hat das nichts mehr zu tun.

Woher kommt dieser Mut, sich mit den Mitteln des Pop neu auszudrücken?

Als so riskant empfinde ich das gar nicht. Sicherlich hätten wir dieses Album nicht schon 2002 machen können. Aber wir sind in unserem musikalischen Können in zehn Jahren nicht schlechter geworden. Deshalb sind nun andere, zum Teil weniger reglementierte Songs möglich. Deshalb konnten wir nun auch mit Bläsern und Streicherarrangements arbeiten ...

Ich mutmaße mal, dass 2002 auch das Hörerumfeld noch nicht unbedingt bereit für solche Lieder gewesen wäre ...

Genau, das kommt noch dazu. Klar werden wir auch mutiger. Obwohl "Sylt" relativ sperrig und für den Mainstream schwierig war, sind wir mit dem Album gut über die Runden gekommen.

Beim ersten Hören von "Zwischen den Runden" setzt sich "Schrilles, buntes Hamburg" von den anderen Stücken ab. Ist es mit der explizit angeprangerten kapitalistischen Verwertungslogik im Schanzenviertel und der Hafen City mittlerweile so schlimm geworden, dass da ein eigener Song her musste? Für Kettcar war die Heimat ja immer auch ein Herzensprojekt.

Hamburg ist hier eigentlich nur ein exemplarisches Beispiel für große deutsche Städte, in denen der Kulturetat in Vorzeigeprojekte gesteckt wird, die unbedingt wirtschaftlich sein müssen. Diese Verbindung aus Kunst und Wirtschaft stellen wir nicht nur in Frage, sie passt uns nicht. Über die Elbphilharmonie muss man keine Worte mehr verlieren, dieses Projekt ist die reine Katastrophe. Auf der anderen Seite ist ein Hamburger Club wie das Molotow, in dem viele heute etablierte Bands ihre ersten Konzerte gespielt haben, von der Schließung bedroht, weil keine Fördergelder mehr da sind. Weil die Mieten steigen und weil die Reeperbahn nur noch auf Massentourismus ausgerichtet ist. Und da sind wir dagegen.

Hat das Lied eine Ventilfunktion?

Ja, vielleicht. Natürlich wird der Song nicht die Welt verändern, aber zumindest wäre schon etwas gewonnen, wenn er das Bewusstsein der Leute vor Ort etwas steigert.

Du hast auf dem Album erstmals fünf Songs selbst alleine geschrieben. Wolltest du oder musstest du? Bis dato hat Marcus Wiebusch ja die Last dieses sehr persönlichen Projekts getragen.

Das hat sich einfach so ergeben. Wir hatten beinahe vier Jahre Pause zwischen "Sylt" und "Zwischen den Runden", dazu kam noch der Ausstieg von Frank [Anm.: Frank Tirado-Rosales hat Kettcar verlassen und wurde durch Christian Hake ersetzt, der bereits bei Home Of The Lame und für Olli Schulz trommelte] am Schlagzeug. In der Zwischenzeit habe ich eben Songs geschrieben. Die Freiheit, die wir uns für das Album genommen haben, hat mich darin noch bestärkt.

Dennoch ist es verblüffend, in welch ähnlichem Maße du den Ton von gestandenen Kettcar-Songs triffst.

Musikalisch ist das bei uns natürlich Gemeinschaftsarbeit. Mit Marcus mache ich mittlerweile seit 1995 Musik. Wir kennen uns so gut, dass ich beim Texten recht gut wusste, was Marcus singen kann und was auch für Kettcar gut ist.

Wie bist du auf eine Zeile wie "Wenn das der Frieden ist, muss man den Krieg nicht noch erfinden" gekommen? Liest man so etwas an einer Toilettenwand in einer Kneipe in Hamburg?

Das kann ich gar nicht sagen, wie ich darauf gekommen bin. Wenn ich in der U-Bahn unterwegs und für mich alleine bin, kommen bei mir solche Texte hoch. Bei "Kommt ein Mann in die Bar" bin ich an einem Abend nach Hause gegangen, an einer Eckkneipe vorbeigekommen und darin saßen die Leute wie Gestrandete.

Aus der einen Sekunde, die du da zur Tür hineingeguckt hast, kann sich also ein Liedtext entwickeln?

Genau. Ich hatte dieses Bild im Kopf und habe damit den Text entwickelt. Der lag dann mindestens ein halbes Jahr bei mir herum, bis ich ihn fertiggeschrieben hatte. Und Sätze mit Krieg und Frieden werden ja recht häufig benutzt. Gibt es da nicht auch ein Album von Madsen? Jedenfalls finde ich die Zeile gar nicht so spektakulär (lacht).

"Ich habe überhaupt keinen Bezug zu Erkenschwick"

Thees Uhlmann hat zuletzt auf seinem Solo-Album eine Sehnsucht beschworen, die jenseits der Großstadt liegt. Er fand zu seinem Heimatdorf zurück, Kettcar landen in Erkenschwick in NRW. Woher kommt diese Liebe zur Provinz?

(Lacht) Eigentlich geht es ja gar nicht um Erkenschwick.

Warum denkt man trotzdem, dass auf einen Ort wie Erkenschwick nur eine Band wie Kettcar kommt?

Ich weiß auch nicht. In dem Stück geht es um einen Kontrast zwischen einem schönen Ort am Meer und einem Ort, der vermeintlich nicht ganz so prickelnd ist. Da liegt der Ruhrpott natürlich immer sehr nahe, obwohl der natürlich auch eine gewisse Romantik hat (lacht). Ich hab dann bei Google Maps nach einem Ort gesucht und bin auf Erkenschwick gestoßen, weil sich das schon so nach Ente anhört. Ich wusste sofort: Das passt.

Haben Kettcar oder deine frühere Band Rantanplan dort mal gespielt?

Ich weiß es nicht. Aber ich glaube nicht. Wir fahren da aber immer auf der Autobahn dran vorbei. Ehrlich, ich habe überhaupt keinen Bezug zu dem Ort.

Ok, belassen wir es dabei. Das letzte Albumstück, "Zurück aus Ohlsdorf", ist auch von dir. Es geht um die Beerdigung einer Jugendbekanntschaft, um Entfremdung an der Schwelle zum Erwachsenwerden, um Krankheit und einen viel zu frühen Tod. Kommt man auf so einen Stoff, weil man auf die 40 zugeht und das Abschiednehmen eine neue Lebenserfahrung ist?

Es ist schon so, dass wir in unserem Umfeld über Ecken etwas von Krankheit und Tod mitbekommen, weshalb wir uns mit solchen Dingen in Zukunft wohl mehr auseinandersetzen müssen, ganz klar. Den Auszug als Trennung von den Eltern haben wir ja schon auf dem letzten Album mit "Verraten" abgehandelt. Dass das Leben gerade für die Eltern nicht mehr so lange dauern kann, ist schon heftig. Tatsächlich haben wir länger diskutiert, ob das Lied das letzte auf dem Album sein soll. Wir wussten nicht, ob wir die Leute so aus der Platte entlassen sollten. Der Song an sich ist zwar traurig, er betont aber auch die positive Erinnerung an eine Freundschaft. Für mich ist er absolut lebensbejahend.

Am traurigsten hat mich die eine Zeile gestimmt, die viele junge Musikfans schon ähnlich gedacht haben dürften. Der Freund des Gestorbenen sagt nämlich, "dass er gern mal nach Roskilde will. Aber allein machts keinen Spaß und keinen Sinn."

Das ist wirklich eine sehr persönlich Erfahrung: Ich wollte als Jugendlicher wirklich immer nach Roskilde, aber es hat irgendwie nie geklappt. Erst hatten meine Kumpels das Geld nicht, dann hatte ich das Geld nicht. Da glaube ich, wirklich etwas im Leben verpasst zu haben. Einmal nach Roskilde zu fahren wäre für mich damals das Größte gewesen.

Ist "Zwischen den Runden" für Kettcar das, was im Albumtitel anklingt: Eine Zwischenbilanz?

Schon. Man hat natürlich sofort dieses Bild von einem Boxkampf: Die kurze Pause, der Moment des Reflektierens, nach dem es weitergeht, wobei offen bleibt, wie es ausgeht ...

Also mit Sieg oder Niederlage ...

Genau. So ist ja auch das Leben. Ich habe ja auch noch dieses Bild, dass "Zwischen den Runden" eine Kneipensituation beschreiben könnte. Man sitzt bei einem Bier zusammen und erzählt sich Geschichten. Der Titel ist also offen – und das hat uns an ihm auch so gefallen.

Du bist ja nicht nur Musiker bei Kettcar, sondern mit dem Grand Hotel van Cleef auch Labelbetreiber an der Seite von Marcus Wiebusch und Thees Uhlmann. Wichtig ist es für das Label, dass ein neues Kettcar-Album dann doch auf jeden Fall den Boxkampf gewinnt?

Sehr wichtig. Wir sind da in unserer Erwartungshaltung schon sehr vorsichtig und kalkulieren sehr genau, wie wir mit einem solchen Album in den folgenden Jahren über die Runden kommen. Schon sind wir wieder beim Thema: Runden (lacht). Bei Thees wussten wir gar nicht, wie sein Solo-Album bei den Leuten ankommen würde. Zum Glück ist die Rechnung total aufgegangen und wir können damit wieder junge Künstler aufbauen. Das macht heutzutage ja kein Label mehr. Da muss jeder Musiker direkt von Null auf Eins gehen, sonst ist er schnell wieder draußen. Aber unser Konzept hat eh immer anders ausgesehen. Es ist schon beruhigend, dass es auch dem Label gut geht, wenn sich unser Album einigermaßen verkauft. Und ich muss sagen: Es klappt ganz gut, dass wir uns als Band von diesem wirtschaftlichen Druck freimachen. Da hat "Sylt" schon ganze Arbeit geleistet.

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