14. Oktober 2011

"Es geht immer um Geld, Geld, Geld"

Interview geführt von

Im Rahmen der Berlin Musik Week 2011 tritt Julia Marcell am Donnerstagabend im C-Club Berlin auf. Die Veröffentlichung ihres zweiten Albums "June" steht kurz bevor. Beinahe eine 180°-Wende unternimmt die Polin mit ihrem neuen elektronischen Experimental-Pop, dem Kammerpop des Debüts "It Might Like You" kehrt sie den Rücken zu. Live präsentiert sie sich bodenständig und ganz in ihrem Element. Dass ihr mehrmals die Technik versagt, lächelt sie einfach weg.Am nächsten Morgen bin ich mit ihr am Volkspark Hasenheide in Berlin verabredet. Geplant ist, das Interview im Grünen auf einer Parkbank durchzuführen. Natürlich regnet es in Strömen, was auch sonst. Da Julia eh noch nichts gefrühstückt hat, entscheiden wir uns für das nächstbeste Café. Sie bestellt das "Big City Frühstück" - zwei Brötchen, Ei, Salat, Butter, Kochschinken, Käse, Salami und Sucuk. Julia Marcell ist hungrig - und das nicht nur nach einem dicken Frühstück. Sie strebt zwar nicht nach dem großen Ruhm, dennoch macht sie den Eindruck einer ehrgeizigen, ambitionierten Künstlerin, die genau weiß, was sie tut und will.

Eine halbe Stunde habe ich, hieß es vorher. Am Ende sind es eineinhalb Stunden, in denen sie mir von Liveauftritten, den Studioaufnahmen zu ihrem neuen Album, Berlin, der Musikbranche und ihren ganz eigenen Wurzeln erzählt. Während sie nach Antworten sucht, schichtet sie ihren Aufschnitt turmhoch auf ihr Brötchen. "Kann ich das überhaupt alles essen?", fragt sie lachend. Klar kann sie.

Ein schönes Konzert gestern! Du bist schon viel herumgekommen, hast in Amerika und in Japan gespielt. Reagieren die Leute unterschiedlich auf dich und deine Musik?

Ja, definitiv. Ich meine, es ist schwer, das ganze Land zu beurteilen anhand der Leute, die meine Shows besucht haben. Aber so wie ich es erlebt habe, sind die Reaktionen ganz unterschiedlich. Das wiederholt sich, das ist nicht nur showabhängig, das scheint eine Art Muster zu sein. Hier spielst du, und deine Songs treffen auf die Leute und sie heben den Energiepegel an, weil sie anfangen, sich zu bewegen und eben irgendwie zu reagieren. In Japan zum Beispiel war alles viel konzentrierter. Die Leute sitzen da, sagen kein Wort, bewegen sich kaum und saugen einfach alles auf. Ich habe hinterher erfahren, dass sie die Show geliebt haben, das war ihre Art, Respekt für den Künstler zu zeigen. Das war wunderschön.

Wie hat es sich gestern angefühlt?

Gestern war es auch ganz kurios. Wir hatten ja technische Probleme, der Computer ist plötzlich gestorben, der Sampler sogar zweimal. So ist es eben, wenn du elektronische Spielereien benutzt. Wenn du ein analoges Instrument hast, gehst du damit auf die Bühne und es ist da. Das ist alles sehr verlässlich. Und jetzt haben wir elektronische Sounds, mit denen wir eben auch umgehen müssen. Gestern hat unser Schlagzeuger nur einmal zu stark auf seine Drums geschlagen und das hat den Computer gekillt. Wir waren etwas verwirrt, aber die Zuhörer haben so nett reagiert. Die Energie im Raum war so unglaublich positiv. Es hat uns beruhigt, zu sehen, dass die Leute es trotzdem genießen und Spaß haben.

Das wäre dir beim ersten Album nicht passiert.

Nein, auf keinen Fall.

Fühlst du dich trotzdem wohler mit dem neuen Album?

Nein, wohler nicht, noch nicht. Es war erst unsere 4. Show mit diesem Album. Es ist immer noch so frisch und immer noch fremd. Weißt du, mit jedem neuen Song kommt etwas, das du lernen musst, live zu spielen. Das kommt nicht einfach so. Und wenn du deinen Sound veränderst, kommt eben noch viel mehr dazu. Es gibt so viele Sachen, die du bedenken musst. "Warum klingt das live jetzt plötzlich nicht mehr richtig?" Irgendwann weißt du: "Das haben wir nicht richtig vorbereitet" oder: "Für diese technischen Details fehlte uns einfach die Kenntnis". Du musst die Songs richtig verinnerlichen. Die neuen Songs geben mir immer noch ein richtig frisches Gefühl, etwas Neues zu haben. Ich liebe es, sie live zu spielen. Auch wenn es noch etwas hektisch ist, fühlt es sich so toll an, eben genau wie das, was ich gerade machen will.

In mir schlagen diese zwei Herzen: Einerseits, wenn ich einen alten Song spiele, dann denke ich: "Ja, das ist, was wir spielen wollten, wir wissen, was wir tun." Andererseits sind da die neuen Songs, du musst zwar noch viel nachdenken, aber etwas Neues geschieht. Es ist eine tolle Sache.

Am 30. Oktober erscheint "June". Gab es Unterschiede bei den Aufnahmen des ersten und des zweiten Albums?

Ja, es war etwas ganz anderes, aber das wollte ich auch. Ich wollte mehr mit den Instrumenten experimentieren. Auf dem ersten Album habe ich ja nur Klavier gespielt, das war einerseits die einzige Möglichkeit, die ich hatte, ich kannte keine Bassisten oder so, ich war einfach auf mich gestellt. Ich mochte das auch.

Aber dann habe ich mich geöffnet und mehr experimentiert, andere Künstler getroffen. Seitdem stehe ich mit anderen Musikern auf der Bühne und es fühlt sich großartig an. Wenn du nur Klavier spielst, ist deine Stimme im Fokus. Wenn du eine Band hast, dann hast du ein viel volleres Klangbild. Es hat tatsächlich einen unglaublichen Suchtfaktor. Wenn du daran gewöhnt bist, diese Menschen um dich herum zu haben und dann spielst du mal wieder eine Show alleine, dann denkst du: "Ah, ich fühle die Geige, aber wo ist sie? Warum ist sie nicht mit auf Tour?"

"Virtuosität war uns ziemlich egal."

Hast du schon erste Rückmeldungen auf die neuen Songs bekommen?

Die Leute sagen mir, dass völlig neu klingt, was ich jetzt mache, verglichen mit dem Debüt. Die Unterschiede zum ersten Album sind riesengroß. Manchmal lernen sie es erst nach ein paar Mal hören zu schätzen, aber ich glaube, das ist normal. Die meisten Reaktionen sind unglaublich positiv, es fühlt sich wunderbar an.

Du bist vor drei Jahren nach Berlin gekommen, dein neues Album ist viel elektronischer. Spielt die Berliner Elektro-Szene da eine Rolle?

Ich stecke nicht so sehr in der Szene. Ich habe aber viele Berliner Freunde, die Musiker sind, die kommen aus jedem Genre. Rock, Pop, Singer/Songwriter - ich glaube, es ist einfach die Vielfalt, die ich hier erfahre, die mich beeinflusst. Die Künstler hier sind alle so wunderbar, sie vereinen so viele Stile. Das wollte ich auch.

Auf dem ersten Album nanntest du deine Songs "klassische Punksongs". Wie nennst du sie jetzt? Sind es immer noch Punksongs?

(Lacht) Nein, ich glaube, als wir gesagt haben, dass wir Punk machen, war es mehr ein Witz. Alle haben mich darauf angesprochen und gesagt, "Wie kannst du das Punk nennen, das hat nichts mit Punk zu tun, das ist Pianopop!" Wir saßen damals einfach mit Moses Schneider, unserem Produzenten, zusammen und haben gedacht, "Yeah, lass es uns klassischen Punk nennen!"

Also war alles nur Spaß?

Naja, ich glaube, es hatte schon irgendwie einen Hintergrund. Wir fanden es schon sehr klassisch beeinflusst, und Virtuosität war uns ziemlich egal. Wir wollten einfach mit Emotionen spielen und ein eher raues Album machen, mit auch einigen seltsamen Klängen. Wenn einer nicht nach den Noten gespielt hat, haben wir es so gelassen, wenn einer einen Fehler gemacht hat, haben wir es so gelassen. Es war wichtig für mich, dieses ehrliche und natürliche Gefühl dabei zu haben. Das war das Punk-Element: Die Ausführung ist egal, es geht um die Emotion in dem Song.

Das neue Album ist wieder so anders, es hat nichts mehr mit Punk zu tun. Obwohl, neulich habe ich mich darüber unterhalten, da sagte mir einer, das Album gehe sehr vorwärts. Wenn man unbedingt möchte, kann man da vielleicht ein bisschen Punk finden (lacht). Aber wir haben Monate im Studio verbracht, die spontane Energie des Debüts ist weg. Wir haben so lange an den Details gefeilt und uns ausgiebig um den Sound gekümmert: "Klingt die Bass Drum gut? Sollen wir das so lassen, sollen wir es ändern?" Da war definitiv nichts mehr spontan.

Du zitierst in "Gamelan" "Mr Vain" von Culture Beat. Die Musik deiner Jugend?

Natürlich! Als ich jung war, hat jeder Culture Beat gehört oder Mr. President oder Blümchen, das war sehr populär. Ich erinnere mich daran und ich verbinde auch etwas damit.

Okay, aber du selbst hast schon andere Dinge gehört?

Ich habe so vieles gehört. Metal, Punk, Pop, Rock, Elektronisches, Klassik, ganz querbeet. Es gab zwar schon Zeiten, da habe ich dieses oder jenes präferiert, aber es ging nie so weit, dass ich mich für irgendetwas nicht hätte öffnen können. Ich liebe einfach Songs, das ist das Ding. Das Genre ist egal, ich verliebe mich in Songs. Ich mag es, wenn es mich berührt, wenn es mir etwas gibt.

"Ich will überhaupt nicht über Geld nachdenken."

Du hast dein Label für das neue Album gewechselt. Wie kam das?

Das erste Album ging über Sellaband. Das ist eine Website, wo du als Musiker deine Songs hochlädst und Fans dir Geld geben, damit du ein Album aufnimmst, am Ende werden sie an den Einnahmen beteiligt. Das hat es uns ermöglicht, die Musik im Netz zu veröffentlichen, aber mir war es wichtig, auch physische Tonträger auf den Markt zu bringen. Wir hatten zwei Labels, mit denen wir gearbeitet haben, in Deutschland mit Rough Trade. Wir hatten eine Art Verteilerdeal, aber sie waren nicht so sehr in den Promo-Prozess mit eingebunden. Ich musste da viel mit meinem Management selber machen. Diesmal war einfach klar, dass wir jemanden mit ins Boot holen mussten, der uns helfen kann.

Ich habe dann eine Show in der Haldern Pop Bar gespielt, da habe ich die Leute vom Label kennen gelernt und als ich Monate später grobe Demos hatte, haben wir wieder gemailt und ich hab' ihnen die Demos geschickt. Da kam eins zum anderen. Ich hab' dieses Jahr auch auf dem Festival gespielt.

Ich habe häufig gehört, dass es ein ganz intensives Festival ist.

Oh ja, es ist großartig. Absolut großartig. Ein ganz einzigartiges Gefühl, wie eine Familie. Ich liebe große Festivals, wenn du bei einem Konzert inmitten eines riesigen Ozeans aus Menschen stehst, aber Haldern ist anders, du fühlst dich mehr, als sei jeder dein Freund. Ein großartiges Familiengefühl.

Du hast gestern im Rahmen der Berlin Music Week gespielt. Der Branche geht es nicht gut, sie ist verschuldet, 75 Prozent der Musikdownloads sind illegal.

75 Prozent? Wirklich? Oh.

Ja. Kannst du das kommentieren?

Ich glaube, wir müssen einfach weitermachen. Ich meine, gibt es etwas, das wir tun können? Ich hab' viel darüber gelesen, aber irgendwann habe ich das gelassen. Ich meine, wie sollen wir das ändern? Die Leute denken einfach andes über Musik und darüber, wie man sie sich beschafft. Das können wir nicht zurückdrehen. Als das Radio aufkam, war es doch das gleiche. Die Leute waren erschüttert, wie man Musik umsonst spielen kann. Ich denke, es liegt an uns Künstlern, einen neuen Weg zu finden, damit umzugehen.

Ich bin eine der Musikerinnen, die sich irgendwie durchkämpft, ich habe schon ein Problem damit. Ich muss immer auf das Geld gucken: Können wir die Show wirklich machen? Wann ist Geld für eine Tour da? Können wir dieses oder jenes tun oder fehlt das Geld? Es geht immer um Geld, Geld, Geld. Das zieht mich runter, weil ich einfach rausgehen möchte und spielen möchte. Ich will überhaupt nicht über Geld nachdenken! Ich denke, das trifft Musiker wirklich schwer. Ich wünschte, es gäbe einen Ausweg, aber ich glaube nicht, dass man das stoppen kann. Dieses Geschimpfe darauf bringt nichts.

Das ist doch seltsam: Du machst Musik, um Kunst zu schaffen, und am Ende musst du dich wirklich nur um Geld kümmern?

Ja, ich muss, weil es meine Lebensgrundlage ist. Es nimmt immer mehr meiner Zeit. Ich habe zwar noch einen Job, einen großartigen, weil ich ihn flexibel zwischenschieben kann. Viele Künstler sind in einer solchen Situation. Es ist nicht immer lustig (lacht). Wenn du mit deiner Musik reich und berühmt werden willst, ist das keine gute Zeit dafür.

Wo wir gerade dabei sind: Wo willst du hin mit deiner Musik? Was willst du erreichen?

(Überlegt drei lange Bissen) Wenn wir ganz ambitioniert denken, dann habe ich einen Traum, den ich gern verfolgen möchte: Ich würde gerne etwas zur Musikwelt beitragen. Ich tue das irgendwie, indem ich Songs und Songs und Songs schreibe, aber ich würde gern etwas erschaffen, etwas kleines, ein Gefühl, das man bei meiner Musik spürt. Dass die Leute in zwanzig Jahren sagen: "Wenn du nach diesem Gefühl suchst, dann höre Julia Marcell."

Es ist immer ein Prozess, wenn du Musik schreibst, dich selbst zu finden und ich versuche, mich immer neu zu finden, weil es aufregend ist, sich zu verändern und neue Wege zu entdecken. Aber ich denke, in diesem Prozess lernst du auch, dass du eine Wurzel hast. Ein Teil von dir bleibt immer gleich. Das hörst du in den Songs. Klar, anfangs nimmst du Sachen auf, die klingen kreuz und quer. Du sitzt in deinem Zimmer und nimmst dieses und jenes auf, aber dann lernst du immer mehr deine Art, Songs zu schreiben. Ich hoffe, ich gehe da in die richtige Richtung und kann etwas von mir zu der Musik beisteuern.

Deine Wurzeln sind polnisch. Wenn ich mich recht entsinne, nutzt du auch polnische Background-Gesänge.

Ja, genau, in "Echo". Ich habe eigentlich immer eher ausländische Künstler gehört, da waren nur ein paar polnische, Ewa Demarczyk (eine Art polnische Edith Piaf, d. Red.) zum Beispiel. Erst als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich angefangen, mich mit meiner polnischen Seite zu beschäftigen. Hier kommt jeder von wo anders her, es ist so farbenfroh. Irgendwann wollte ich eben wissen: Was sind meine Wurzeln? Was ist meine Geschichte?

Da habe ich angefangen, meine eigene Stimme in die Musik einzubringen, ich wollte mehr die polnische Seite einbringen. Da ist viel mit Absicht passiert. Ich habe angefangen, mit meinen Wurzeln zu experimentieren. Und die Songs haben eine gewisse Mentalität, da steckt die Seele einer polnischen Person drin. Manchmal ist die auch sehr melancholisch.

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