laut.de-Kritik

Schöne Aufmachung, guter Klang, keine neuen Erkenntnisse.

Review von

In seiner Autobiographie "Does The Noise In My Head Bother You" erinnert sich Aerosmith-Frontmann Steven Tyler ehrfürchtig daran, wie er in einem Studio einst ein Mikrophon in der Hand hielt, das bereits Jimi Hendrix verwendet hatte. Und zwar auf der Toilette, als Sexspielzeug, mit einem Groupie.

Wie sich das wohl angehört haben mag? Aus der vorliegenden Platte geht das nicht hervor. Da wird die übliche Hendrix-Kost geboten: die markante Stimme, die in einer unbestimmbaren Tonlage vor sich hin nuschelt, dennoch passt, der blubbernde Bass, das scheppernde Schlagzeug und natürlich das unübertroffene Gitarrenspiel, brillant wie eh und je.

Das Album versammelt unveröffentlichtes Material (so behauptet zumindest das Label) aus den Jahren 1968 bis 1970. Was von der Aufmachung her also wie ein organisches Album anmutet, birgt nicht mehr als eine Sammlung von Demotapes, die an verschiedenen Orten mit unterschiedlicher Begleitung aufgenommen wurden. Wobei das meiste während der Vorbereitung für Hendrix' viertes Album mit dem Arbeitstitel "First Rays Of The New Rising Sun" in New York entstand.

Seine Familie, die den Nachlass pflegt, veröffentlichte "Rays" 1997. Kurz vor seinem Tod hatte Hendrix 1970 ausgeplaudert, er habe noch mehr Material aufgenommen, das nicht darauf passte und das er für ein weitere Studioplatte, Arbeitstitel "People, Love & Angels", vorgesehen hatte.

Ob die vorliegenden Stücke tatsächlich nicht schon auf dem einen oder anderen der unzähligen Hendrix-Bootlegs erschienen sind, bleibt zweitrangig. Die Verantwortlichen haben keine Mühe gescheut, das sicher nicht optimale Ausgangsmaterial bestmöglich zu präsentieren. Dafür, dass die Bänder bald 50 Jahre auf dem Buckel haben, klingt der Sound erstaunlich gut. So gut, dass stellenweise Zweifel aufkommen, ob da nicht im Nachhinein nachgeholfen wurde.

Die Stücke an sich sind fast alle bekannt. "Hear My Train A' Comin" und "Bleeding Heart" waren erst vor drei Jahren auf dem "sensationellen" Vorgänger dieses Albums, "Valleys Of Neptune", zu hören.

Hier wie dort bestand die Grundformation bei den Aufnahmen aus Hendrix, Billy Cox (Bass), Mitch Mitchell und/oder Buddy Miles (beide Schlagzeug). Dazu gesellten sich Freunde und Kollegen, darunter Stephen Stills am Bass auf "Somewhere". Letztendlich handelt es sich eher um Jam-Sessions als um fertig ausgearbeitete Songs.

Erfahren "Bleeding Heart" und "Villanova Junction Blues" noch das unwürdige Ende vieler offiziellen Hendrix-Stücke, nämlich die Abwürgung durch Fading an einer willkürlichen Stelle, reißt "Let Me Move You" richtig mit – mit Hendrix, der am Mikrophon auf James Brown macht und sich, selbst an der Gitarre, mit Lonnie Youngblood am Saxophon "duelliert". Unüblich fällt auch das funkig-soulige "Mojo Man" aus, mit Albert Allen am Mikrophon, der Hendrix mit seinen Ghetto Fighters auf dem Stück begleitete.

Laut Soundtechniker Eddie Kramer, der damals wie heute für die Aufnahmen verantwortlich zeichnete, soll es sich bei "People, Love & Angels" um die letzte posthume Platte mit unveröffentlichtem Studiomaterial handeln. Wobei noch mehrere Liveaufnahmen in der Schublade schlummern, die auch irgendwann an den Hörer gebracht werden sollen.

Was letztlich ein wenig perplex macht ist weniger die Veröffentlichung, sondern ihre Form. Warum nicht all die Bänder gesammelt und mit toller Aufmachung veröffentlichen, wie es Neil Young mit seinem Frühwerk auf Archives Vol. 1 gemacht hat? Oder eine offizielle Bootleg-Series herausbringen, wie Bob Dylan?

An der Musik gibt es natürlich wenig zu meckern, auch wenn das vorliegende Album keine neuen Erkenntnisse in Sachen Hendrix bringt. Abwarten, ob die Schublade irgendwann doch noch besagten Ausflug auf die Toilette preisgibt. Angeblich soll währenddessen ein Band mitgelaufen sein. Zumindest einer wäre daran interessiert: der alte Lüstling Steven Tyler.

Trackliste

  1. 1. Earth Blues
  2. 2. Somewhere
  3. 3. My Train A Comin'
  4. 4. Bleeding Heart
  5. 5. Let Me Move You
  6. 6. Izabella
  7. 7. Easy Blues
  8. 8. Crash Landing
  9. 9. Inside Out
  10. 10. Hey Gypsy Boy
  11. 11. Mojo Man
  12. 12. Villanova Junction Blues

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