7. Februar 2011

"Beth Ditto ist die schönste Frau des Pop"

Interview geführt von

Andy Butler sieht entspannt aus. Die ersten Support-Shows mit Hercules And Love Affair für Gossip im Dezember sind gut gelaufen, ein Konzert in Düsseldorf steht am nächsten Tag noch an.Zu Beginn des Interviews im Berliner Kellerbüro von Cooperative in Kreuzberg greift Butler sich einen Apfel vom Catering, beißt herzhaft hinein und entschuldigt sich sofort für diese vermeintliche Unhöflichkeit. Butler kaut zu Ende, legt den Apfel schmunzelnd beiseite und spricht in den folgenden Minuten mit wachen Augen über das zweite Album "Blue Songs".

Es ist anders geworden als "Hercules And Love Affair" mit der Antony-gestählten Hitsingle "Blind", die zum Brandbeschleuniger für das große Disco-Revival im Jahr 2008 wurde. Glaubt man Butler, so musste das Album nicht nur wegen der neuen Besetzung von Hercules And Love Affair auch zwingend anders werden.

Andy, zu Beginn muss ich dich natürlich fragen: Wie war die Deutschland-Tour mit Gossip?

Andy: Es war schon hart, die Support-Band zu sein, weil alle eigentlich nur Gossip sehen wollten. Wenn man das mal beiseite lässt: Die Konzerte waren fantastisch. Das Publikum hat uns sehr positiv aufgenommen. Es hat gejohlt, es hat gebrüllt, es hat auch getanzt. Mehr konnten wir nicht erwarten. Coole Leute, die zu Gossip gehen. Auch mit Gossip selbst hatten wir viel Spaß auf Tour.

Du hast mal gesagt, Shows von Hercules & Love Affair seien "Underground Dance Partys". Das dürften sie in kalten deutschen Mehrzweckhallen nicht mehr gewesen sein, oder?

Es ist schon ein Unterschied. Große Konzerte müssen natürlich organisierter ablaufen, anständiger. Ich hatte auch nie damit gerechnet, dass wir je vor so viel Leuten spielen werden. Aber wir nehmen uns auf der Bühne nicht zu ernst und konnten das auch auf das Publikum übertragen. Auch so kann trotz der Größe ein Vibe entstehen.

Ich kann mir vorstellen, dass auch du Beth Ditto wegen ihres Einflusses auf Pop und queere Lebensformen verehrst. Was ist so toll an ihr?

Ich bin tatsächlich ziemlich sprachlos, wie sie als Mensch und als Künstlerin auftritt. Man kann sie wirklich mit keiner Person der Musikgeschichte vergleichen. Sie ist im Moment mit Abstand die selbstbewussteste, schönste, zuversichtlichste und talentierteste Frau in der Musikindustrie. Sie haut mich wirklich um, weil sie es schafft, dass sich Menschen in ihrer Gegenwart wohl fühlen. Eben, weil sie sich in ihrem Körper verdammt wohlfühlt. Und da ist keine Arroganz, keine Rockstar-Pose. Sie ist damit vielleicht keine weibliche Identifikationsfigur für jedes Mädchen da draußen, aber sie ist es für mich. She is just pure love.

Lass uns über das neue Album sprechen. Was sind "Blue Songs" für dich?

Der Titelsong heißt "Blue Song". Es ist ein sehr persönlicher Song, der erste, den ich für dieses Album geschrieben habe. Der Text ist ziemlich heftig. Es geht um den sexuellen Missbrauch von Kindern. (Hält lange inne) Gleichzeitig verbreitet der Song musikalisch so ein traumwandlerisches Dschungelbuch-Feeling, um nicht zu viel Trauer zu verbreiten. Außerdem hab ich auch noch den Song "Boy Blue" geschrieben ...

Von "Blue Boys" sangen schon Tom Waits oder Cyndi Lauper, Mick Jagger und Keith Richards nannten sich zunächst "Little Boy Blue and the Blue Boys" ...

Im Amerikanischen steckt hinter der Farbe ja auch die Blues-Musik, auf die sich viele Musiker beziehen. Die Menschen sangen im Blues über Kummer und Leid, Schmerz und Mühen, aber immer auch über ihre Stärke. Den eigenen Abstieg und den Aufstieg. Mir ging es da nicht anders, ich wollte ein sehr persönliches Album machen.

Ich musste bei dem Titel zunächst an die sogenannte "blaue Stunde" denken. Ein deutscher Musiker, Peter Fox, hat sie im vorletzten Jahr sehr poetisch besungen. In Berlin verlassen am Morgen viele Menschen die Clubs oder gehen erst hin, trotzdem ist die Stadt kalt und leer. Das macht sie sogar ausnahmsweise schön.

Oh, ja. Du meinst die Dämmerung. Das passt, ein sehr schöner Gedanke. Deshalb mag ich es auch Interviews zu geben. Wenn Fremde über meine Musik intensiv nachdenken, kann auch ich immer etwas lernen.

Gerade deine beiden "blauen Songs" haben mich überraschenderweise sehr an Brian Eno erinnert, zumal er ja auch gerade ein neues Album auf Warp veröffentlicht hat. Würdest du es als ein Kompliment auffassen, wenn ich dich trotz deines House-Backgrounds da mit dem Sounddesigner Eno vergleiche?

Ich war schon immer eher ein Songwriter als ein DJ oder Produzent. Seit meinem elften Lebensjahr schreibe ich Musik am Klavier. Am College habe ich mich für moderne Kompositionen interessiert. Mit 15 Jahren bin ich dann auf Brian Eno gestoßen, das Album "Another Green World" aus dem Jahr 1975 ist eines meiner Top 5-Alben. Ich wollte mit "Blue Song" vor allem meine Stimme wiederfinden. Die Stimme des Jungen, der mit elf Jahren am Klavier vor sich hingesungen hat.

"Antony sagte zu mir: Du hast eine Stimme, also nutze sie."

Ist dir dein Gesang zwischenzeitlich verlorengegangen?

Nein, meine Stimme hat mich nie verlassen. Das erste Album war nur eben sehr referenziell. Ich wollte mit ihm ausdrücken, dass Dance-Musik heute seine Daseinsberechtigung hat und Disco nicht zwangsläufig Trash sein muss. Auch dahinter steckten zum Teil große Songwriter. Auf "Blue Songs" sollte meine Stimme einfach ihren natürlichen Platz bekommen.

Zum Konzept von Hercules And Love Affair gehört, dass du immer mit starken Vocalisten zusammengearbeitet hast. Steckt da auch ein Bedürfnis nach Selbstbehauptung dahinter, dass du neben ihnen auch als Sänger auftreten wolltest?

Ja. Tatsächlich war mir das sehr wichtig. Auch, dass ich da aus meinem Umfeld, allen voran von Antony, immerzu ermutigt wurde, zu singen. Er sagte immer: Du hast eine Stimme, also nutze sie. Also habe ich es versucht. Was ist mit dir, singst du?

Nein. Als Kind habe ich gern gesungen, zum Beispiel in der Kirche oder im Ferienlager. In der Jugend habe ich den Zugang aber irgendwie verloren. Man bekommt ja auch vermittelt, dass man sich als Junge schnell blamiert, wenn man in der Öffentlichkeit singt.

Ich habe auch den Eindruck, dass dieses Talent bei Männern in vielen Kontexten gesellschaftlich unterdrückt wird. Man muss als Mann da schon seine Coolness und seine Hemmungen ablegen können. Gerade im Studio habe ich gelernt, mich ein Stück weit so zu akzeptieren wie ich bin. Als ich da zum ersten Mal meine Stimme über den Monitor hörte, habe ich gesagt: Das glaube ich nicht, das bin nicht ich.

Bei Live-Shows agierst du im Hintergrund. Du wirkst dann wie ein verhinderter Zirkusdirektor.

Viele Leute im Publikum wundern sich wohl immer, was ich auf der Bühne mache. Viele glauben, ich drücke nur ein paar Knöpfe. Dabei bediene ich komplett analoge Hardware wie die Techno-Bands in den frühen 90er Jahren. Mark Pistel und ich mischen unsere Show live, wir bearbeiten alle Vocals und Sounds, alle Bass- und Synthesizer-Sequenzen und bedienen analoge Drummachines. Wir sind da im Grunde wie Orbital oder 808 State. Und wir haben natürlich vorne unsere drei Sänger. Sie stehen für den Las Vegas-, wir für den Techno-Effekt bei Hercules And Love Affair.

In "It's Alright", dem letzten Song des Albums, singt Kim Ann Foxman über Kriege, Unterdrückung, über Afghanistan und die Möglichkeit der Erlösung durch Musik. Glaubst du an dieses Motiv?

Ja, ich glaube an diese Botschaft, durch sie macht mein Leben mehr Sinn. Der Song stammt übrigens ursprünglich von Marshall Jefferson und Sterling Void und ist ein House-Track aus dem Jahr 1987. Die Pet Shop Boys haben den Song 1991 als erstes gecovert. Ich habe den Rhythmus weggelassen, den Song auf 90 Beats per Minute entschleunigt und auf das Zusammenspiel von Klavier, Gitarre und Stimme reduziert. Der Song ist für mich ein wunderbares Stück Zeitgeschichte, er hat gerade der schwarzen Bevölkerung in den USA damals Hoffnung gemacht.

Meine Frage zielte auch auf die Zeit nach der Veröffentlichung deines Debüts ab. Was wurde da nicht alles geredet: Über die Rückkehr von Disco, über Antony Hegarty, über DFA. Dieser Hype um Hercules And Love Affair muss für dich sicherlich aufregend, aber sich auch sehr anstrengend gewesen sein. War es da nicht so etwas wie eine Erlösung, sich nach den vielen Verpflichtungen wieder auf die Musik konzentrieren zu können?

Ja, im Rückblick macht das für mich total Sinn. Ich hatte nach dem Release wirklich auch schwierige Zeiten. Viele Dinge, die ich tun musste, waren mir total unangenehm. Wenn ich mir nun das neue Album und speziell "It's Alright" anhöre, wirkt das wie ein Befreiungsschlag. Ich bin froh, das "Blue Songs" ein Album geworden ist, das aus meiner Sicht unbelastet klingt.

Hat es dich eigentlich überrascht, dass euer Debüt auch in der Independent-Szene so euphorisch aufgenommen wurde? Mir kam es bis dato so vor, als gäbe es einen tiefe ideologischen Graben zur Techno-Szene. Hier eine Brücke zu bauen, indem "Blind" hier auch in den Indie-Discos lief, ist vielleicht der größte Verdienst von Hercules And Love Affair ...

Dazu hat in den letzten Jahren natürlich auch DFA jede Menge beigetragen. Oder Codec Records und Gigolo Records. Auch das Label von unserem Produzenten Patrick Pulsinger, Cheap Records, hat hier schon in den 90er Jahren mit Acts wie Louis Austen schon Vorarbeit geleistet. Das war auch Tanzmusik, hatte aber auch diesen Spirit von Punk und Indie. Unser Fokus auf Disco war da noch einmal etwas ganz Neues. Aber es hat mich gefreut, dass wir auch Leute zum Tanzen bringen, die sonst nicht die ganze Nacht in Clubs verbringen.

"'Blue Songs' ist mein Versuch, mich vor der Kugel wegzuducken"

An dem neuen Album hast du dem Vernehmen nach mehr als zwei Jahre gearbeitet. Das hört sich nicht sehr entspannt an.

Ja, es war verrückt. Ich musste auf Tour an dem Album arbeiten. Also bin ich mit fertigen Tracks direkt in das nächste Studio gegangen, um sie aufzunehmen. Das muss man sich mal vorstellen: Ich war in Sydney, in Mexico City, in Los Angeles, San Francisco und New York in Studios. Ach ja, in England auch noch. Es war nicht gerade optimal, aber ich konnte es nicht ändern.

Also das typische, schwierige zweite Album?

Ich war schon immer ein riesiger Musikfan. Als Jugendlicher habe ich mir jeden Release immer ganz genau angesehen: Ich habe alle Texte gelesen, den Produzenten und sein Renommee nachgeschlagen, sogar die Danksagungen der Bands bin ich durchgegangen. Und dann habe ich alle Musikmagazinen mit den Plattenkritiken komplett durchgelesen. Was ich seither weiß, ist: Dein zweites Album wird entweder total abkacken oder du kommst damit in der Öffentlichkeit gerade noch so durch. Stell dir vor, jemand schießt auf dich. Mehr als der Kugel auszuweichen, kannst du nicht tun. "Blue Songs" ist mein Versuch, mich vor der Kugel wegzuducken.

Du sagtest bereits: Das erste Album war ein Statement, ein Tribut an den Disco-Sound der 70er Jahre. "Blue Songs" lässt sich dagegen nicht auf einen Stil festlegen.

Ich hatte zunächst diese soften, introspektiven Songs. Sie sollten unbedingt auf das Album. Daneben wollte ich aber auch ein souliges, ein poppiges House-Album machen, wie ich sie im Alter von 15 Jahren leidenschaftlich gerne gehört habe. Technotronic war da sicherlich eine konkrete Inspiration, Front 242 auch. "Painted Eyes" und "Falling" haben sicherlich immer noch den Disco-Vibe des ersten Albums, sie sollten aber nicht mehr nur nach einer vergangenen Zeit klingen.

Im letzten Jahr hast du bei einer Show im Berghain nicht nur erstmals neue Songs gespielt, sondern auch gleich neue Sänger/innen vorgestellt. Eine von ihnen, Aerea Negrot, kommt sogar aus Berlin und ist bei Ellen Alliens Bpitch Records unter Vertrag. Wie bist du denn auf sie gekommen?

Ich hatte sie schon vor vier Jahren bei einem Konzert von Antony & The Johnsons kennengelernt. Damals habe ich auf Tour den Merchandise-Stand betreut. Sie hatte das Konzert weinend verlassen und so kamen wir draußen ins Gespräch. Zunächst haben wir über Beziehungen geredet, dann erzählte sie mir, dass sie selbst Techno produziert, mit Opernstimme! Irgendwann habe ich sie für den nächsten Morgen zum Frühstück in Antonys Hotel eingeladen. Danach habe ich sie für drei Jahre aus den Augen verloren. Über Daniel Wang bekam ich schließlich ihre Nummer. Also rief ich sie an und fragte, ob sie nicht einen Song mit mir in Berlin aufnehmen wolle.

Und jetzt ist sie fester Teil von Hercules And Love Affair?

Das ist sie. Sie ist einfach fantastisch.

Auch Shaun Wright, der bei euren Shows als Drag-Queen singt, hast du auf Tour "gecastet".

Er kam nach einem Konzert zu mir und sagte, dass ihm meine Musik sehr viel bedeutet. Mir war Shaun schon während der Show im Publikum aufgefallen. Also sagte ich, dass ich ihn cool fände, weil er wie der Disco- und Soul-Sänger Sylvester aussehe. Ich kann sogar singen wie Sylvester, hat er daraufhin geantwortet. Ich habe ihn dann gebeten, mir ein Demoband von sich zu schicken. Und schon war er dabei.

Was macht die beiden, Aerea und Shaun, zu guten Sänger/innen?

Soul, Lebenserfahrung, Rave, Selbstvertrauen, Emotionen. Sie sind mit einem rohen Talent ausgestattet, das ich sehr schätze.

Letzte Frage: In "Step Up" singt Kele Okereke von Bloc Party. Wie ist diese Zusammenarbeit zustande gekommen?

Ach, gewisse Leute haben mich immer wieder bedrängt, dass wir uns einmal treffen sollten. Als Bloc Party 2009 diesen unglaublich tollen Song hatten, "One More Chance", wollte ich ihn auch treffen. Wir sind dann ziemlich schnell im Studio gelandet. Ich hatte einen Track und zwei kleine Textideen, er hat sie ausformuliert und sich eine Melodie überlegt. Als der Song fertig war, hat Kele gesagt: "Jetzt haben wir einen Madonna-Song geschrieben". Danach haben wir beide uns kaputtgelacht.

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