10. Mai 2013

"Wir spürten nur unsere Ohnmacht"

Interview geführt von

Ohnmacht, banges Warten und zittrige Hände: Viele Jünger der finnischen Liebesmetaller HIM waren im Anschluss an die Veröffentlichung des letzten Albums "Screamworks: Love In Theory And Practice" zwei Jahre lang kaum ansprechbar.Denn nach dem Release des siebten Longplayers der Band verschwand das Quintett um Aushängeschild Ville Valo erst einmal komplett im Dunkeln. Nun ist aber endlich Schluss mit dem Versteckspiel, Ende April ist "Tears On Tape" erschienen. Von Schulband-Touraktivitäten und einigen wenigen Interview-Schnipseln abgesehen, gab es von "His Infernal Majesty" lange Zeit so gut wie nichts zu sehen oder zu hören. Und so brodelte natürlich die Gerüchteküche wie selten zuvor. Gibt es unerwartete Spannungen innerhalb der Band? Braucht man einfach nur eine Auszeit vom jahrelangen Nomadenleben? Oder noch viel schlimmer: Gibt es HIM überhaupt noch?

Am 15. Februar 2012 brach Ville Valo das Schweigen und erklärte zur Überraschung vieler, dass die Band an einem neuen Album arbeite. Fortan färbte sich die Anhänger-Welt wieder rosarot. Viele Fragen standen aber immer noch unbeantwortet im Raum. Allen voran: Was war der Grund für das zweijährige Verschwinden von der Bildfläche? Wir trafen uns einige Wochen vor der Veröffentlichung des neuen Albums mit Sänger Ville Valo und Bassist Mikko Heinrik Julius Paananen in Berlin und hakten nach.

Hi, ihr zwei. Zwischen 2010 und 2012 staute sich bei vielen eurer Anhänger Grundlegendes an. Ihr wart kaum auf Tour und habt auch sonst nicht viel von euch preisgegeben. Wie wichtig war demnach der 15. Februar 2012 für euch?

Ville: Du meinst die Bekanntgabe, dass wir an einem neuen Album arbeiten?

Genau.

Ville: Wir waren, ehrlich gesagt, ziemlich überrascht, als wir merkten, was für ein gewaltiges Echo dieses Statement nach sich gezogen hat. Ich meine, es war ja nicht so, dass wir uns irgendwo verbarrikadiert haben. Wir haben zwar nicht viel gespielt zu der Zeit, aber wir ja trotzdem am öffentlichen Leben teilgenommen. Jeder von uns war präsent. Jeder ging vor die Tür.

Mikko: Naja, vielleicht nicht wirklich jeder von uns (grinst).

Ville: Klar, außer Mika natürlich. Der hatte zu der Zeit ziemlich zu kämpfen, was ja auch der Hauptgrund für unsere Ruhepause war. Aber wie gesagt, von außen haben wir da relativ wenig mitbekommen. Es gab keine Fan-Horden vor unseren Häusern, die mit Wie-geht-es-weiter-mit-euch-Schildern Alarm machten. Wir spürten nur unsere eigene Ohnmacht.

Es kam also zu gesundheitlichen Problemen bei Mika – was war denn genau los?

Ville: Nun, wir befanden uns gerade in der Pre-Production-Phase fürs neue Album, als er an einem zwar seltenen, aber bei Drummern häufig vorkommenden Nervenleiden in den Armen erkrankte. Das traf uns alle wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Diagnose bedeutete letztlich eine mehr als achtmonatige Zwangspause für ihn.

"Es war ein absoluter Schock für uns"

Wie geht es ihm heute?

Ville: Er ist wieder ok, alles im grünen Bereich.

Mikko: Ich habe ihn erst letztens beim Einkaufen beobachtet. Da schleppte er mehrere schwere Tüten und Kisten zum Auto. Das ist, denke ich, ein gutes Zeichen (lacht).

Mika sitzt seit nunmehr fast fünfzehn Jahren hinter euren Drums. Wie seid ihr damals mit der Situation umgegangen?

Mikko: Es war ein absoluter Schock für uns, keine Frage.

Ville: Man fühlt natürlich mit jedem Menschen, dem so etwas widerfährt. Aber wenn es dann auch noch jemanden trifft, mit dem du seit Ewigkeiten dein Leben teilst und diese Diagnose praktisch von heute auf morgen alles in Frage stellt, was deinen Alltag als Musiker betrifft, dann haut es einen natürlich noch mehr um. Wir hatten richtig Angst – um Mikka und um die Band. Es stand wirklich viel auf dem Spiel.

Mikko: Zuerst haben wir alle noch Scherze gemacht. Wir sagten uns: Ach, alles halb so wild. Dann kaufen wir uns eben eine amtliche Drum-Machine für die Aufnahmen und die Shows oder heuern irgend einen Studiodrummer an. Dieses Geflachse hat aber nicht lange geholfen, denn irgendwann haben wir gemerkt, dass es wirklich ernst ist. Umso glücklicher sind wir natürlich, dass er mittlerweile wieder voll am Start ist.

Ville: Es war anfangs auch so, dass man uns sagte, dass er sich lediglich etwas auskurieren müsse. Das ging dann einen Monat lang gut. Danach gab es aber zunehmend Komplikationen und es wurde von Woche zu Woche schlimmer. Wir hatten während dieser Phase alle irgendwann einen Nervenzusammenbruch, kein Witz.

Gab es irgendwann einen Punkt, an dem ihr am liebsten alles hingeschmissen hättet?

Mikko: Bei mir definitiv nicht. Natürlich macht man sich so seine Gedanken, aber tief in mir hatte ich immer ein Gefühl, das alles gut ausgehen wird.

Ville: Wir haben zu der Zeit alle unheimlich viel miteinander geredet. Wir sind näher zusammengerückt. Immer wieder haben wir uns Mut gemacht und tonnenweise Phrasen voller Hoffnung in den Äther gepustet. Das hat wirklich geholfen, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Es war schwer, aber es hat sich gelohnt.

"Die Leute vergessen immer, dass wir das schon immer so gemacht haben"

Die Drums auf dem neuen Album wurden allesamt von Mika eingespielt. Wie wichtig ist euch "Tears On Tape", wenn man bedenkt, dass es fast gar nicht zustande gekommen wäre?

Ville: Es ist einfach ein tolles Gefühl für alle Involvierten. Wenn man schon so lange im Business ist, dann schleicht sich irgendwann zwangsläufig ein gewisses Business-as-usual-Feeling ein, verstehst du? Man ist natürlich immer aufgeregt und angespannt, wenn neues Material in den Startlöchern steht, aber diese Nervosität, die man beispielsweise in den Wochen vor dem Debütalbum verspürt hat, die ist nach fünf, sechs oder sieben Alben einfach nicht mehr richtig da.

Man kennt mittlerweile die Abläufe genau, hat schon hunderte Promo-Termine wahrgenommen und weiß genau, wie der Hase läuft. Diesmal fühlt sich aber alles wieder exakt so an wie früher. Das liegt natürlich in erster Linie an der Genesung von Mika.

Mikko: Man kann es in etwa mit einem liebgewonnenen Auto vergleichen. Stell dir vor, du fährst seit Jahren immer den gleichen Schlitten. Und plötzlich stockt der Motor oder irgendein anderes wichtiges Teil, dass die Karre laufen lässt. Du merkst, dass sich das Problem nicht innerhalb absehbarer Zeit löst und bekommst natürlich zwangsläufig Muffensausen. Kriegst man das Auto je wieder richtig in Schuss? War's das jetzt?

Und wenn dann irgendwann alles wieder passt, gibt es doch nichts Schöneres, oder? Die erste Fahrt um den Block ist dann ähnlich berauschend wie die erste Fahrt mit dem Auto überhaupt. Und genauso fühlt es sich mit dem neuen Album an. Wir sind einfach nur dankbar und happy darüber, dass der Herrgott unseren Motor wieder zum Laufen gebracht hat (lacht).

Im Wesentlichen geht es auf dem Album wieder um Liebe, Tränen und Tod. Was bedeutet Zweisamkeit und alle damit verbundenen Segen und Flüche für euch persönlich?

Ville: Für mich steckt die Antwort darauf schon in der Art und Weise, wie du die Frage formuliert hast. Denn diesen ständigen Wechsel zwischen Licht und Schatten findet man, meiner Meinung nach, nirgendwo sonst auch nur annähernd so geballt wie in der Liebe. Es gibt Täter und Opfer und man weiß nie genau, zu welcher Gruppe man am nächsten Tag zählt. Liebe ist einfach die Kraft des Lebens. Ohne Liebe geht gar nichts.
Die Menschen, die hasserfüllt durch die Straßen laufen, tragen auch massenhaft Liebe in sich.

Niemand kann ohne Liebe existieren. Viele können aber auch nicht mit Liebe existieren. Das mag widersprüchlich klingen, ist aber so. Es gibt für mich nichts auf der Welt, was eine ähnliche Faszination auf mich ausübt. Und ich kann diese Magie auch noch zum Mittelpunkt meines Berufslebens machen. Was kann es Schöneres geben?

Mikka: Ich sehe das ähnlich – vielleicht nicht ganz so ausschweifend (lacht).

Die Balance zwischen hart und weich steht ja bei euch seit jeher im Mittelpunkt. Auf dem neuen Album geht ihr, wie ich finde, aber noch einen Schritt weiter. So kommen einige Strophen fast schon folkig daher. Da dürften die Stimmen derer, die euch seit jeher Kalkül vorwerfen, noch lauter werden. Schließlich spielen Banjo-Sounds und akustische Elemente momentan eine große Rolle in den Charts. Wie seht ihr das?

Ville: Das ist mir völlig egal. Ich meine, wir spielen ja nicht erst seit gestern mit harten und weichen Elementen. Es mag sein, dass es diesmal noch mehr in diese Richtung geht, aber an den Basics hat sich nichts verändert. Diese Kalkül-Typen vergessen immer, dass wir das schon immer so gemacht haben. Ich glaube, jedesmal, wenn wir ein neues Album herausgebracht haben, war ein anderes Genre gerade hip.

Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass wir schon einmal ein Punkrock-, Crossover-, oder Hip Hop-Album aufgenommen haben, nur weil es zu der Zeit gerade angesagt war. Insofern kümmern mich diese Stimmen herzlich wenig. Ich habe während der Aufnahmen für dieses Album ziemlich viel Neil Young, Roy Orbison und Cat Stevens gehört. Das hört man auch, wie ich finde.

Mikka: Die Drei hörst du aber auch schon seit ich dich kenne.

Ville: Stimmt (lacht).

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