laut.de-Kritik

Grandiose Geburtsstunde der gefährlichsten Band der Welt.

Review von

Hey Slash, do you know where the fuck you are? Wohl eher nicht, wollte man glauben, als während der ohrenbeleidigenden Halbzeitshow des Superbowls 2011 in Texas direkt nach der musikalischen Großtat "Boom Boom Pow" ein glitzernder Zylinder aus der Bühne gefahren kam und der Gitarrist die vertrauten Klänge des "Sweet Child O' Mine"-Intros spielte. Inmitten eines Black Eyed Peas-Sets.

Der Leadgitarrist und seine Gibson Les Paul hatten zwar schon länger einen Narren an Peas' Augen-Aufputz Fergie gefressen, die gemeinsame, uninspirierte Performance war jedoch surreal at best. Fergie nahm sich ein Herz und schlachtete den Song vor einem Millionenpublikum auf grausame Art ab. Und irgendwo in einem kleinen Kämmerlein vergoss Axl Rose eine Träne. Take Me Home!

Was waren Guns N' Roses doch für eine Band, eine Urgewalt. Unberechenbar, gefährlich, mit Straßenlegenden großgeworden, von Drogen zerfressen, mit perfekten Songwritingkünsten gesegnet. Damals, als Mitte der 80er in Los Angeles der Hair- und Glammetal regierte, die Schminke im Gesicht mindestens gleichbedeutend war wie das Gitarrenriff. Und in eben jene bemalte Fratzen sprangen die Gunners mit dem Arsch voran, und zwar mit Anlauf.

Ungestüm, punkig und doch mit genug Groove und alten Rock'n'Roll-Anleihen, dass für jeden etwas dabei war. Zur richtigen Zeit trafen sich Axl Rose, Slash, Izzy, Duff und Steven aus unterschiedlichen Bands auf dem Sunset Strip in Hollywood, wurden dickste Kumpels und machten frisch eine eigene Combo auf. Alte Versatzstücke aus den Vorgängerbands wurden eingebracht und gemeinsam finalisiert, aus neuen Gemeinsamkeiten entstanden neue Songs. Mit der exzessiven und naturbelassenen Bühnenperformance war die Aufmerksamkeit von Geffen Records schnell erregt: Damals ohne Haarspray und in normaler Straßenkleidung die Bühne zu entern, grenzte ja fast schon an Frevel. Schließlich wurde es Zeit, die Explosivität der Band auf Platte zu pressen.

"Appetite For Destruction" war der Startschuss zu einer bombastischen Karriere, die heute noch als Legende für das Leitmotiv Sex, Drugs and Rock'n'Roll steht. Auch der Entstehungsprozess dieses Debütalbums war vor Geschichten der Ausschweifung und moralischen Verfehlung jeder Art nicht gefeit: Während den Aufnahmen zu "Rocket Queen" suchte Axl nach einem Effekt, mit dem er das lange Gitarrensolo unterlegen konnte. Schnell kam die Idee. Ein paar Kerzen und Polster wurden verteilt, dann führte Axl die damalige Freundin von Drummer Steven Adler in den Aufnahmeraum und entlockte ihr auf horizontale Art die Verzückungsschreie, die später auf dem Album zu finden sind. Stickman Adler hat es am nächsten Tag wieder vergessen, die auf Tonband verewigte Dame, Adriana Smith, quälte sich doch jahrelang mit Scham- und Schuldgefühlen.

Der Bruch mit herkömmlichen Konventionen, Erwartungen und Ansichten stand für Axl, Slash und Co. stets weit oben auf der Bandagenda. Dabei waren die Gunners ein wunderbares, fast kitschiges Beispiel für unterschiedliche Typenklischees in einer Rockband. Axl war der charismatische, gesprächige, aber auch egozentrische Frontmann, Slash der mysteriöse Leadgitarrist, der seine Augen stets mit Sonnenbrille oder Lockenvorhang versteckte. Duff McKagan war der großgewachsene Punker mit Nietengürtel aus Seattle, Izzy der klassische Rolling Stones-Fan, der sich eher im Hintergrund hielt, Steven der energiegeladene, naive Lachbolzen.

Schlagzeuger Adler und Bassist Duff legten mit ihrem tighten Rhythmus das zwingende und swingende Soundfundament, das genrefremde Atmosphären der Beat- und Soulmusik der 70er-Jahre atmete – alles schwingt, alles lebt und bewegt sich. Die Leichtfüssigkeit wird von perfekt ineinander greifender Gitarrenarbeit im Zaum gehalten, wo sich Leadgitarrist Slash auch gern mal Platz nimmt und arschcoole Soli aus dem Ärmel haut. Und über all dem steht Mr. William Bruce Bailey mit kreischenden Rasiermessern anstatt Stimmbändern.

Daraus entstanden 53 Minuten Rockmusik für die Ewigkeit, die direkt und unvermittelt Spaß machen. Mehr als die Hälfte der Songs galt binnen kürzester Zeit als Instant Classics, "Paradise City" und "Welcome To The Jungle" schafften fast über Nacht den Sprung in Sportveranstaltungen, Film und Fernsehen sowie das kollektive Verständnis, was gute Rockmusik ist.

Das Album erschien ja noch in grauer Vinyl-Vorzeit, wobei die Aufteilung in Seite A und B in diesem Fall auch eine thematische Abgrenzung ist. Die Seite A beziehungsweise die ersten sechs Songs sind die "Guns", die Geschichten über die Straße, die Drogen und das Leben mit beidem. "Welcome To The Jungle" und "Paradise City" erzählen vom Respekt, den Landkind Axl vor der Großstadt hat, während "Out Ta Get Me" seine Probleme mit dem Gesetz schildern. "Nightrain" und "Mr. Brownstone" drehen sich um die Erfahrungen mit bewusstseinserweiternden Substanzen, die durchaus autobiographisch zu verstehen sind: Bevor die Band nach "Appetite" wieder gemeinsam an Songs arbeiten konnte, waren vier von fünf Mitgliedern in der Reha, manche nicht zum letzten Mal.

Überhaupt verschwendet Rose lyrisch wenig Zeit in abstrakter Fiktion. "My Michelle" gibt so direkt das Leben einer damaligen Freundin wieder, dass die brutale Ehrlichkeit die besungene Dame ordentlich überraschte, hatte sie sich doch von Axl ein Liebeslied im Stil von Elton Johns "Your Song" gewünscht. Doch sanfte Pianoklänge waren noch nicht auf der Tagesordnung von Guns N' Roses, dafür war auf den nachfolgenden Alben noch genug Platz.

Stattdessen groovt sowohl "My Michelle" und besonders "You're Crazy" mit einem knallenden und gehetzten Punkfeel durch die Boxen und zeigt die Liebe der Band zum Gaspedal. Die Liebeslieder oder "Roses" von Track 7 bis 12 halten sich eben nicht lange mit dem langweiligen Pathos und Balladen auf, sondern geben jedem verweichlichten Poser direkt auf die Zwölf. Auch die beiden Stradlin-Songs, das mit ungewöhnlicher Melodik ausgestattet "Think About You" und das heitere "Anything Goes" klingen mehr nach Samstagnacht in Downtown Hollywood als romantischen Kerzendinner. Auch hier wieder lehrt uns die Geschichte, dass diese Gefilde von der Band wenige Jahre später beackert wurden.

Auf "Appetite" griff hingegen die ungestüme Lebenslust einer jungen und hungrigen Band so sehr um sich, dass man sich der optimistischen Grundpartystimmung gar nicht entziehen kann. Die Riffmanufaktur Stradlin/Slash haute in dem grandiosen Eröffnungstrio "Welcome To The Jungle", "It's So Easy" und "Nightrain" allein genügend Hardrocksriffs für die Ewigkeit heraus, die immer wie die Faust aufs Auge mit dem Rest der Band harmonierte.

Gemeinsam beherzigten die beiden Saitenspezialisten auch die klassische Lead/Rhythmusgitarre-Aufteilung mit selten gehörter Perfektion. Nur in äußersten Fällen doppeln sich die Gitarrenspuren, meist ergänzen sie sich perfekt und füllen Leerräume auf. Bei aller "Balls to the Walls"-Kraft sprühten die Songs nur so von feingeistigen Arrangements, die auch noch die dritte Strophe musikalisch spannend machen und jede, wirklich jede Länge vermeiden. Ein perfektes Gespür für Längen, selbst was die Gitarrensoli angeht, darf man Axl und seinen Mannen getrost attestieren.

Hits brachte das Album in Mengen heraus. Awards und Lobeshymnen gab es auch nicht zu knapp, immerhin ist die Platte bis heute das erfolgreichste Debütalbum einer Band in den USA. Besondere Bedeutung kam allerdings "Sweet Child O' Mine" zu. Auf den Song konnten sich alle einigen: die Jungs luftgitarrten Slashs Einleitungslick mit, die Mädchen schmolzen bei Axls anhimmelnde Beschreibung einer Liebsten dahin.

Der hohe Wiedererkennungswert des Intros funktionierte zwar auch beim Superbowl, die ganze Groteske hätte uns der liebe Slash aber doch ersparen können. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Axl Rose mit seiner zusammengewürfelten Söldnertruppe unter dem Banner GN'R dem zementierten Legendenstatus einiges an Glanz genommen. Ein Memorial-Durchlauf im CD-Player erinnerte an die Zeit, in der Guns N' Roses die gefährlichste und spannendste Band der Welt waren. Es bleibt der Blick zurück, denn ein Anschluss an alte Glanzzeiten ist leider unwahrscheinlich. Außer Axl besinnt sich und stellt sich selbst einmal die alles entscheidende Frage: Do you know where the fuck you are?

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Welcome To The Jungle
  2. 2. It's So Easy
  3. 3. Nightrain
  4. 4. Out Ta Get Me
  5. 5. Mr. Brownstone
  6. 6. Paradise City
  7. 7. My Michelle
  8. 8. Think About You
  9. 9. Sweet Child O' Mine
  10. 10. You're Crazy
  11. 11. Anything Goes
  12. 12. Rocket Queen

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26 Kommentare mit 12 Antworten

  • Vor 12 Jahren

    hey joe,

    ich weiß, dass klingt immer ein wenig als wenn opa vom kriege erzählt.
    aber deinen text hätte es vor dem knappen vierteljahrhundert echt gebraucht.

    damals hatten die allermeisten leute von der hartwurst- und normalomusikpresse das teil als uninsirierten hairmetal-hardrock für ganz ausgelutschte seelen abgetan.
    vor allem springers metal hammmer (den man damals auch nicht besser lesen konnte als heute) hat die in der review so richtig platt gemacht. nachher wollte es dann keiner gewesen sein und alle taten so als habe man das 'big thing' nicht verdaddelt.

  • Vor 12 Jahren

    Phantastisches Album in einer phantastischen Review in einer phantastischen Rubrik!
    "Nighttrain" und "My Michelle" sind meine persönlichen Lieblingslieder! Auch im Vergleich zu den späteren Gn'R-Alben ist es unübertroffen!
    Schade was aus meiner Lieblingsband geworden ist! Bleibt wohl wirklich nur noch der nostalgische Blick zurück!
    Everybody hates Axl!!!

    • Vor 8 Jahren

      nach Use your Illusion hätte man abtreten sollen.Mehr kann man nicht erreichen.Mehr kann man nicht rocken. Nighttrain ist ein dreckiger Ausflug in ein heruntergekommenes Amerika, von dem viele wünschten es gebe es gar nicht.Diesen Song, genau wie my Michelle kann man regelrecht riechen.

  • Vor 12 Jahren

    Die Review aus dem Metal-Hammer damals habe ich mir eingerahmt.

  • Vor 2 Jahren

    Ein Meilenstein und Album für die Ewigkeit, extremst gut gealtert. Nicht überfrachtet, all Killer no Filler.

    Easy 5/5

  • Vor 2 Jahren

    Die Platte rockt die Bude fett! \m/ Feels like yesterday, wie der lautuser mit Axli und Slashi im Proberaum gechillt hat und die Bois mit wertvollen Tipps versorgen konnte, wie sie mit bräzenden Riffs und knüppelndem Drumming so richtig die Wurst vom Brot ziehen können. Die Band hat dann auch geklatscht und ihm eine namentliche Erwähnung im Booklet angeboten, die er aber wegen seiner grenzenlosen Bescheidenheit locker flockig abgelehnt hat. 5/5, sollte klar sein.

  • Vor 8 Monaten

    Guns N'Roses hatten sowohl live als auch in den Studios nur 5 starke Jahre - von 1987 bis 1992.

    Danach war nur noch Durchschnitt angesagt.

    Das erstaunliche bei Guns N'Roses ist, dass die veröffentlichten Alben jedes für sich extrem unterschiedlich sind und fast wie Konzeptalben wirken.

    Appetite ... - Rock N'Roll, laut, hemmungslos und voller Lust und Hits

    Lies - unplugged und emptional sowie gefühlvoll

    UYI 1 - rockig und genial mit fast schon progressiv angehauchten Songs a la Coma und November Rain

    UYI2 - die Popplatte der Gunners mit extrem viel Eingängigkeit

    Spaghetti - Coverhits

    Chinese - Ansammlung genialer Songwritingmomente aus 15 Jahren nach-UYI-ERA, leider keine Stimmkraft mehr bei Axl