laut.de-Kritik

Die Vertonung eines Wutanfalls.

Review von

"I got my reasons and my reasons are sound", flüstert eine Psychostimme, wie man sie aus unzähligen Horrorflicks kennt. Da flackern Bilder auf - von verlassenen Räumen, von leisen Schritten, von Horror und Angst. Die Stimme indes dreht sich im Kreis, wird lauter, intensiver und aggressiver, bis es nur noch herausschreit.

Dazu fetzen plötzlich sägende Gitarren und berstendes Schlagzeug, drumherum und mittendrin. Am Ende der Kollaps, die Stille und wieder ein Flüstern. Und alles von vorn. Der Opener "Mother E" ist vertonte Wut, blind, schäumend, irre. Der Soundtrack einer psychischen Störung, schizophren, cholerisch, manisch. Wer ein solches Stück an den Anfang seiner Platte setzt, der will schockieren, der sagt: 'Freundchen, noch hast du alle Zeit der Welt umzudrehen. Aber noch einen Schritt weiter, und du gehörst uns'.

Dieser brachiale Auftakt der neuen Filter-Platte, soviel ist sicher, weckt Neugierde. Auch wenn dieses Feuerwerk alles andere als subtil kommt. Filter, dass ist eigentlich die Vision des Richard Patrick, Nine Inch Nails-Weggefährte der frühen Jahren, fast so irre, aber nicht ganz so genial und talentiert wie Trent Reznor.

Immer da, wo sich Reznor als verletzlich, brüchig und doppelbödig zeigt, packt Patrick noch ein wenig theatralische Wut drauf. Das soll gleichwohl eine Feststellung sein, keine Kritik. Dem Erfolg, den die Band Ende der 90er verbuchte, tat das zudem keinen Abbruch - im Gegensatz zu Patricks Alkohol- und Drogeneskapaden. Der Frontmann, der seit Debützeiten seine Mitstreiter stetig austauscht, ist bis heute ein Getriebener: Wie ein Hund hetzt er Ideenblasen hinterher, und wenn er sie erwischt, bringt er sie erbarmungslos zum Platzen.

Diese Unberechenbarkeit macht Filter bis heute interessanter als die meisten Überbleibsel der Post-Grunge-Ära. Für "Crazy Eyes" rekrutierte Patrick eine komplett neue Mannschaft, mit der er nun in ganz neue Gewässer segeln möchte: New Industrial!

Experimenteller, verrückter, beängstigender sollte die Platte klingen. Abseits des altbekannten Gitarrensounds der Vorgänger. Zu diesem Zweck drehte er die eigenen Kompositionen durch den Mixer und elektrifizierte sie. Praktisch wie: Fön in die Bandewanne. Alles oder nichts. Der neue Sound ist dabei eine Zeitreise in die Anfangstage, in denen Nine Inch Nails noch deutlicher zitiert wurden.

Die bekannten Strukturen, vermengt mit gegenwärtigen digitalen Strömungen, ergeben einen mehrfach aufgeladenen Soundmix, der fasziniert und die Versprechungen zumindest zeitweise einlöst. Auch wenn man manchmal zurufen möchte: 'Weniger ist mehr.' Tatsächlich schrecken Patrick vor gar nichts zurück. Teilweise kombiniert er elektronisches Hardcore-Geballer à la Enter Shikari mit eingängigen Grunge-Ausbrüchen im Sinne der Stone Temple Pilots. Das passt stellenweise abgefahren gut zusammen, teilweise fühlt man sich als Hörer aber auch schlicht überfordert.

Im Zentrum der Platte stehen zwei Tracks: "Nothing In My Hands" ist eine rasende Polithymne, die sich an der Polizeigewalt gegen Afroamerikaner und die damit verbundene Protestbewegung abarbeitet. "Yeah justice is dead", brüllt Patrick wie von Sinnen ins Mikro. Natürlich kommt diese Botschaft mit dem Vorschlaghammer, trotzdem gut, mal wieder einen Protestsong zu hören. Rage Against The Machine lassen grüßen, irgendwie zumindest.

"Take Me To Heaven" hieß der Albumvorbote - durchaus verwunderlich, dass der Song ziemlich eingängig und konventionell klingt. Klassisches Riff, klassischer Aufbau, kaum verzerrte Stimme. Das Ding ist ein Grunge-Brett der alten Schule, die industriellen Spuren sind nur hinterlegt und flimmern im Hintergrund. Erst beim zweiten Hinhören wird die Botschaft klarer: Patrick beschäftigt sich mit dem Ableben seines Vaters, er stand an dessen Totenbett.

Die großen Themen beschäftigen Filter: Wahnsinn, Ungerechtigkeit, Tod, Wiederauferstehung. Patrick zeigt sich als Songwriter der alten Schule. Unterm Strich ist "Crazy Eyes" ein interessantes Album, dem es aber nicht gelingt, Ambivalenzen von Inhalt und Oberfläche aufzuzeigen. Die eingangs eröffnete Horrorallegorie lässt sich weiterspinnen: Filter setzen auf massive Splattereffekte und Jump-Scares, der Horror ist effektiv, aber stellenweise erkauft - große Gesten und triefende Theatralik.

Die feine Klinge bleibt im Schaft, stattdessen schwingt die Axt. Das Werk hat Anziehungskraft, aber irgendwann ist das Konzept durchschaut und es setzt eine gewisse Enttäuschung ein. Fast so, als hätte einer in der Geisterbahn das Licht an gemacht. Trotzdem: Richard Patrick bleibt ein echtes Rock'n'Roll-Alphatier.

Trackliste

  1. 1. Mother E
  2. 2. Nothing In My Hands
  3. 3. Pride Flag
  4. 4. The City Of Blinding Riots
  5. 5. Take Me To Heaven
  6. 6. Welcome To The Suck
  7. 7. Head Of Fire
  8. 8. Tremors
  9. 9. Kid Blue From The Short Bus, Drunk Bunk
  10. 10. Your Bullets
  11. 11. Under The Tongue
  12. 12. (Can't She See) Head Of Fire, Part 2

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