7. Juli 2005

"Auf der Bühne lässt sich nichts mehr tricksen ..."

Interview geführt von

Corvus Corax laden nicht einfach so zum Interview, nein! Sie haben ihr neues Album "Cantus Buranus" im Gepäck, und man darf sich das Werk erst mal im kleinen Kreis zu Gemüte führen, ehe sich die Band den Journalisten im Einzelnen widmet. Für laut.de stellt sich Wim (Venustus) mit breitem Berliner Akzent zur Verfügung.

Das klang ja gerade eben mächtig nach Soundtrack. Wirklich beeindruckend, wenn man sich das mit der richtigen Anlage zu Gemüte führen kann.

Danke schön, dann haben wir wohl was richtig gemacht, hahaha.

Erzähl uns doch zunächst mal ganz allgemein was zur "Carmina Burana". Damit kennt sich ja nicht zwangsläufig jeder aus.

Die "Carmina Burana" ist eine Liederhandschrift und bedeutet so viel wie Lieder aus Benediktbeuern. Das ist ein Kloster, in dem diese Handschriften von Mönchen im frühen 13. Jahrhundert niedergeschrieben wurden. Die lagen da anschließend erst mal ziemlich lange rum und es hat sich eigentlich Jahrhunderte lang keiner darum gekümmert. Anfang des 18. Jahrhunderts wurden sie dann von einem Herrn Arretin wieder ausgegraben und als die Erforschung des Mittelalters so langsam in Gang kam, hat man sich auch wieder verstärkt für so was interessiert. Die "Carmina Burana" ist aber eine der bedeutendsten Sammlungen. Insgesamt sind um die 300 Liedtexte dort zu finden. Vielleicht muss man noch dazu sagen, dass man im Mittelalter ein Lied nicht unbedingt mit einer Melodie in Verbindung brachte, Lied heißt in dem Zusammenhang einfach nur Text. Ein paar Notenblätter waren zwar dabei, diese aber in Form von Neumen. Für den ungeübten Leser sind das wenig mehr als Kritzeleien über der Schrift. Daraus lässt sich nicht sehr viel ablesen, weil im Mittelalter zu den Texten eigentlich frei improvisiert wurde. Es gibt auch noch andere Liederhandschriften, anhand derer sich Parallelen feststellen lassen, bei denen auch Musik überliefert wurde. Mit ihrer Hilfe kann man sich wie in einem Puzzle zusammensetzen, was die eigentlich meinten. Unsere "Cantus Buranus" ist eine komplette Neuvertonung, wobei wir alles selber komponiert und arrangiert haben. Die Grundlage dazu haben einige Texte aus dieser Sammlung geliefert.

Ihr habt euch also nicht an der Aufführung von Carl Orff orientiert?

Nein, mit Absicht nicht! Wir haben uns ganz andere Texte heraus gesucht, wobei es sich hauptsächlich im irgendwelche Trinklieder handelt. Wir beschäftigen uns mit Corvus Corax ja schon seit fast 20 Jahren mit mittelalterlichen Themen und Musik und haben dabei auch schon des öfteren Stücke aus der "Carmina Burana" bearbeitet. Von daher kennen wir uns mit den Texten ganz gut aus, es gibt da immer wieder was Interessantes zu finden. Die "Carmina Burana" ist auch gegliedert in weltliche, geistliche und sozialkritische Texte sowie in Minne- und Liebeslieder. Wir haben uns dabei aber eher für die weltlichen Lieder interessiert, sozusagen die Kneipentexte, hahaha. Somit haben wir auch dieses Mal versucht, den Text musikalisch zu interpretieren. Orff blieb dabei aber komplett außen vor, weswegen wir uns auch bewusst gar nicht mit seinem Werk beschäftigt haben. Für uns war es sehr wichtig eine Verbindung zwischen unseren mittelalterlichen Instrumenten und den modernen Orchesterinstrumenten herzustellen. Es war wirklich sehr interessant, diese Instrumente in ein homogenes Klanggebilde zusammen zu führen. Es ist ja nichts Besonderes mehr, zu einem fertigen Rock- oder Popsong noch ein paar Streichersachen hinzu zu mischen, oder auch anders herum. Das kann ganz nett sein, aber für uns war es wichtig, dass beides gleichzeitig als etwas Organisches entsteht und sich so entwickelt.

Also seid ihr die Sache schon mit der Überlegung angegangen, mit Orchester zu arbeiten?

Ja klar, von Anfang an. Wenn man mal genauer reinhört, stellt man hoffentlich fest, dass das ganze Konstrukt nicht mehr funktionieren würde, wenn man auch nur einen Baustein weglässt. Jedes Instrument ist wichtig und trägt seinen Teil zum Gesamtsound bei.

Wie wollt ihr das auf Tour handhaben, mit wie viel Mann seid ihr da zu Gange?

Wir hatten im Januar ja schon eine öffentliche Generalprobe und das war für uns natürlich auch unglaublich aufregend. Wir wussten ja nicht, ob das außerhalb des Studios auch so klappt, wie wir uns das vorgestellt hatten. So was auf eine Bühne zu bringen ist ja schon noch mal eine ganz andere Nummer, da lässt sich nichts mehr tricksen. Das hat aber letztendlich ganz gut geklappt. Wir haben mit dem Cottbusser Staatsorchester gespielt, und die waren sehr offen für diese ganze Geschichte. Selbst, als wir während der Proben noch einige Stimmen umgearbeitet haben, sind die alle sehr locker geblieben. Wir werden mit dem Orchester auch keine Tournee im eigentlichen Sinne fahren, sondern spielen nur einige, wenige Konzerte, vorerst. Dabei wird es diese Jahr wohl auch bleiben, weil so was eine enorm lange Vorbereitungszeit erfordert. Wir hatten wirklich Glück, dass das so schnell geklappt hat, normalerweise planen Orchesterbetriebe immer auf zwei Jahre im voraus. Vielleicht bietet sich in zwei Jahren die Möglichkeit, richtig mit Orchester auf Tournee zu gehen, dann wird das alles auch international. Da sind wir schon kräftig am planen. Da wir uns mit dem Cottbussern ganz gut eingespielt haben, wäre es schon angenehm, auch in Zukunft mit ihnen zu arbeiten. Wie das dann aber in Hongkong oder New York aussehen würde, muss man sehen. Das hätte für uns Spielleute allerdings auch seinen Reiz, einfach wieder mit anderen Spielleuten zusammen aufzutreten, hahaha.

Wie lief es bei den Aufnahmen ab?. Hat das Orchester alles zusammen eingespielt, oder wurde auch dort jedes Instrument einzeln aufgenommen?

Wir haben im Studio zunächst mal mit einem Streichquartett gearbeitet und das dann gedoppelt. Im Orchester hast du ja auch einfach vier Cellisten, die die selbe Stimme spielen und dadurch diesen voluminösen Sound entwickeln. Das lässt sich im Studio ja ohne weiteres machen. Das war natürlich sehr angenehm, da wir auch immer wieder in den Entstehungsprozess eingreifen konnten, wenn uns irgendwas noch nicht so gelungen erschien. Man hat zwar immer schon ein geistiges Konstrukt vor Augen, bzw. Ohren, aber wenn man es hört, denkt man sich oft noch ein paar andere Sachen dazu. Wir haben auch parallel in zwei Studios gearbeitet. Die mittelalterlichen Instrumente und Chöre haben wir in unseren eigenen Corvus Corax Studios aufgenommen. Beides haben wir dann in den Tommy Hein-Studios zusammengeführt, und nachdem wir diesen ganzen Spurenwahnsinn irgendwann einigermaßen geordnet hatten, konnte wir das nach drei Monaten tatsächlich mal anhören. Das war wirklich sehr spannend, weil es so in etwa 400 Spuren waren und wir nie genau wussten, ob das alles auch zusammen harmoniert. Das hat natürlich kein Computer dieser Welt zusammen abgespielt, hahaha. Wir haben dann Submixe von verschiedenen Gruppen gemacht und das auf diese Weise so weit zusammen gefasst, dass man es sich anhören konnte. Dabei haben wir natürlich auch immer wieder gemerkt, dass irgendwas nicht so ganz passt, und wir mussten immer wieder neu mischen. Das ist live mit richtigem Orchester natürlich viel einfacher, da sagst du einfach den Holzbläsern, sie sollen heute mal ein wenig leiser pusten.

Hat das die ganze Zeit eigentlich noch Spaß gemacht, oder war es irgendwann mehr Arbeit als Vergnügen?

Spaß hat natürlich gemacht, vor allem, weil wir immer wieder an irgendwelche Grenzen gestoßen sind, die wir erst überwinden mussten. Das war jeweils eine enorme Herausforderung und wir haben es jedes Mal gemeistert, das macht natürlich schon Spaß. Auf der anderen Seite sind wir auch wirklich froh, aus dem Studio endlich wieder heraus zu sein, hahaha.

Wie sind die Noten für das Orchester entstanden?

Wir haben zunächst ein Partitur für die normale Studiobesetzung geschrieben. Das waren aber noch nicht alle Instrumente, die jetzt auch live zum Einsatz kommen werden. Sachen wie Contrafagott sind ja herrliche Instrumente, die wir gerne auch schon im Studio gehabt hätten, aber finde so was mal auf die Schnelle, hahaha. Da mussten wir einfach ein wenig sparen. Wenn wir demnächst den nächsten Teil schreiben, dann können wir aber auch so was schon von vorne herein mit einbinden. Wir haben einfach eine ganze Menge gelernt bei dem Entstehungsprozess.

Kann man dieses riesige, umfangreiche Werk tatsächlich im voraus planen, oder tauchen einfach immer wieder Probleme und Umstände auf, mit denen keiner gerechnet hat?

Im Groben lässt sich das schon planen und das muss man auch tun. Wir hatten überlegt ob wir das gleich mit einem Orchester einspielen sollen, oder ob wir das mit Overdubs machen. Das hatten wir uns sehr gründlich überlegt und haben uns letztendlich für die Overdubs entschlossen. Auch musikalisch muss das sehr genau geplant werden, und wir haben das auch nicht im stillen Kämmerlein jeder für sich komponiert, sondern als Band im Proberaum ausgearbeitet. Jeder hat seine Vorschläge eingebracht, und wir haben uns mit Samples schon mal einen groben Eindruck davon verschafft. Während des Songwritings waren wir noch ziemlich frei und kaum festgefahren, in welche Richtung das alles gehen soll. Erst mit der Zeit hat sich das dann in diese Bombastrichtung entwickelt, auch wenn von Anfang an klar war, dass wir kein Geklimper, sondern was mit Pauken und Trompete haben wollten.

Als Dirigenten habt ihr euch Jörg Iwer an Land gezogen.

Der kam eigentlich erst mit der Live-Geschichte ins Spiel. Da braucht man einfach einen Dirigenten, der die ganze Sache zusammen hält. Der Jörg hat selber auch schon viel mit der "Carmina Burana" zu tun gehabt. Er hat die Sachen von Orff schon dirigiert und auch selber ein paar Sachen geschrieben. Dem war der Stoff sehr geläufig, und er ist auch ein sehr angenehmer Zeitgenosse. Man kommt ja nicht mit jedem Klassik-Menschen klar, hahaha. Manche sind da doch ein wenig steif und neuen Sachen nicht wirklich aufgeschlossen gegenüber. Wir wollen aber versuchen, mit dem Ganzen auch einen Schritt weiter zu gehen und ebenso in Konzerthäusern zu spielen. Wir wollen damit, wenn möglich, auch ein ganz anderes Publikum zusätzlich erreichen. Mit Corvus Corax haben wir ja nicht nur eine bestimmte Szene als Hörer, sondern eine recht große Bandbreite.

Ihr habt eine öffentliche Live-Probe vor den eigentlichen Auftritten abgehalten. Gab es irgendwelche Zweifel eurerseits, ob dieses Projekt so überhaupt funktioniert?

Nein, eigentlich gar nicht. Wir wollten es einfach einmal im kleineren Rahmen ausprobieren um zu sehen, was auf uns zukommt. Vor allem, was die technische Seite mit all den Mikrophonen und dem ganzen Kram angeht. Das muss man einfach mal ausprobieren, weil einem dabei auch erst bewusst wird, wie groß das tatsächlich alles ist und was für einen Platz man benötigt. Eigentlich wollten wir ja mit zwei Orchestern arbeiten ... aber das haben wir uns dann für später aufgehoben, hahaha.

Baut ihr dabei dann auch ein Dolby Surround System auf?

Wäre schon machbar, hahaha. In der Renessaince gab es das ja auch schon, dass man mehrere Instrumentengruppen auf den Raum verteilt hat, damit sich der Klang optimal entfaltet. Manche Komponisten haben auch gezielt solche Stücke geschrieben. Später wurde sogar noch die Architektur auf solche Stücke abgestimmt. So neu ist das Dolby Surround Prinzip gar nicht.

Wie ist das denn mit den Stimmen? Habt ihr einen Chor, der das einsingt oder habt ihr das selber übernommen?

Bei den Aufnahmen haben wir die Männerstimmen alle selber eingesungen. Für die Frauenstimmen haben wir uns ein Ensemble namens Psalteri aus Prag geholt. Das sind vier nette Damen, die sich auch schon seit Jahren mit mittelalterlicher Musik beschäftigen. Das Schöne daran ist, dass die bei den lateinischen Texten so einen osteuropäischen Akzent haben, der uns sehr gefallen hat, da wir uns schon lange mit osteuropäischer Musik beschäftigen. Gerade was den Rhythmus angeht, gibt es da sehr interessante Sachen.

Ihr habt ja auch einige Gastmusiker von anderen Bands dabei. Waren die leicht zu überzeugen, oder musstet ihr da ein bisschen nachhelfen?

Das sind eigentlich alles jahrelange Freunde. Sven (Zeraphine) hat uns auch bei den anderen Produktionen oft im Studio besucht und als wir dann davon erzählten, dass wir so eine größenwahnsinnige Idee haben, war er sofort davon begeistert und wollte direkt mitmachen. Auch bei Syrah (Qntal) lag die Kooperation nahe, weil sie einfach eine so charakteristische Stimme hat, die man sofort mit dem Mittelalter identifiziert. Das ging also alles ohne große Überzeugungsarbeit ab. Live wird es natürlich schwieriger, auch mit den Gastsängern zu arbeiten. In Berlin sollte das möglich sein, in Wacken wahrscheinlich weniger. In Berlin werden wir wohl sogar noch eine Opernsängerin dazu ziehen. Dort werden wir auch versuchen, szenisch zu arbeiten, das arbeiten wir aber noch aus.

Das bietet sich ja förmlich an, denn wie gesagt, das klang enorm nach Soundtrack.

Das ist auch so ne Sache. Wir wundern uns bei historischen Filmen immer, was für einen Schwachsinn die da als Musik drunter haben. Streicher einzusetzen, ist ja immer die eine Sache, aber wenn du irgendwelche europäischen Instrumente unter ne Szene legst, die in Ägypten spielt ... hallo? Das ist doch absoluter Quatsch. Wir hoffen, dass wir damit mal vorgelegt haben, wie man so was machen könnte. Vielleicht machen wir auch mal einen Film, irgendwann. Bei uns ist das ja immer so, wenn keiner was mit uns machen will, machen wir es eben irgendwann selber. Aber das steht noch in den Sternen, wir brauchen jetzt auch erst mal etwas Ruhe.

Als nächstes steht aber die DVD zur "Cantus Buranus" auf dem Plan.

Stimmt, wir werden den Auftritt auf der Museumsinsel in Berlin recht aufwändig mitschneiden, denn das ganze Ambiente dort ist der Wahnsinn. Diese antik anmutenden Säulen sind absolut genial. Ich denke, wir werden damit im Frühjahr um's Eck kommen, denn wir müssen das ja erst alles noch sichten und schneiden.

Ihr habt ja auch dieses Mal wieder extra neue Instrumente gebaut. So langsam könnt ihr euch fast für’s Guinness Buch bewerben.

Stimmt, sollten wir mal machen. Ich bin ja der hauseigene Instrumentenbauer von Corvus Corax, und immer, wenn wir was Neues vorhaben, werde ich in die Kammer gesperrt und komme erst wieder raus, wenn ich irgendwas Neues fabriziert hab. Ich habe mich ja jahrelang mit solchen Sachen beschäftigt, und dieses Mal dachte ich mir, da wir ja viel mit Streichern arbeiten, sollte man auch das mittelalterliche Pendant dazu finden. Die bekanntesten, mittelalterlichen Streichinstrumente sind eben die Drehleiern. Ich wollte aber noch etwas mehr ins Detail gehen und auch was aus der Zeit suchen. Zu der Zeit gab es Drehleiern, die wesentlich größer waren als die heute noch geläufigen Typen. Die Dinger nannte man dann Organistrum. Da gibt es ein paar Quellen, in denen man sich Bilder von diesem Ding anschauen kann. Es gibt eine Abbildung in einer spanischen Kapelle, auf der zwei Mönche dieses Organistrum spielen. Das ist einfach sehr groß, und ich dachte mir, das ist das Richtige, das baue ich jetzt mal nach. Das haben andere auch schon versucht, aber ich denke, ich gehe an den Instrumentenbau etwas unkonventioneller ran und habe ja auch schon einige Erfahrung damit. Jedenfalls hat es funktioniert, und der Sound ist der Hammer. Dann hab ich noch ein anderes Teil gebaut, das heute noch in Ungarn gespielt wird. Das nennt man 'Gordon', und das Kuriose dabei ist eigentlich, dass der Grundkorpus aus einem Schweinetrog besteht, hahaha. Da hat man eine Decke drauf gemacht, nen Steg und Saiten drüber gezogen und fertig war’s. Das ist aber mehr ein Rhythmusinstrument. Ich hab auch schon wieder was Neues vor, das kann ich aber noch nicht erzählen. Das machen wir das nächste Mal, wenn wir wieder beisammen sitzen.

Da braucht man dann eine ganze Mannschaft zum Bedienen, hab ich recht?

Naja, so in der Richtung, hahaha. Ich bin gerade dabei, eine neue Werkstatt zu bauen, nur damit ich dieses Instrument bauen kann. Man wächst an seinen Aufgaben, hahaha.

Das Interview führte Michael Edele

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