laut.de-Kritik

Hier geht es um den ungeschminkten Augenblick.

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Ein Livealbum sollte all das einfangen, was einer glattgebügelten Studioproduktion in der Regel abgeht. Die Rede ist von purer Leidenschaft, Lebendigkeit und dem Gefühl, etwas durch die Gehörgänge gleiten zu lassen, das dem musikalischen Spiegelbild eines ganz bestimmten Moments etwas Einzigartiges verleiht. Musikhistorische Glanztaten wie Johnny Cashs "At San Quentin", Nirvanas Stinkefinger-Auftritt ohne Distortion oder das erste "Alive"-Zeugnis der Herren Simmons, Stanley, Frehley und Criss stehen nicht umsonst auch heute noch wie in Stein gemeißelte Denkmäler in den ehrwürdigen Hallen des Rock-Olymp.

Auch Chuck Ragan weist seine Background-Crew immer wieder gerne an, gelegentlich mal auf den Aufnahmeknopf zu drücken, wenn er sich in irgendeinem miefigen Club auf den Barhocker setzt und seine Gitarre aus dem Koffer holt. Mittlerweile stapeln sich in den CD-Schränken seiner Gefolgschaft bereits sechs auf Polycarbonat gepresste Live-Abende.

Zwar kann keines dieser Alben mit Songs der Güteklasse AAA wie "I Walk The Line", "All Apologies" oder "Rock And Roll All Night" aufwarten, doch in punkto Energie und Authentizität können es alle bisherigen Live-Mitschnitte des kauzigen Amerikaners mit den oben genannten Juwelen der Vergangenheit problemlos aufnehmen.

So auch Ragans neuester Live-Streich "Live At Skaters Palace". Mit kompletter Backline im Schlepptau zieht der Sänger die Anwesenden im ausverkauften Münsteraner Halfpipe-Tempel von der ersten Sekunde des Openers "For Goodness Sake" in seinen Bann. Dabei stehen dem amerikanischen Singer/Songwriter nicht nur vertraute Charaktere wie Joe Ginsberg und Jon Gaunt zur Seite, sondern auch neue Mitstreiter wie Social Distortion-Drummer Dave Hidalgo. Lucero-Gitarrist Todd Beene, sowie Tim Vantol, Josh Mann (Paper Arms) und PJ Bond. Sie alle sorgen dafür, dass die Stadt Münster auf ewig mit dem Namen Chuck Ragan verbunden sein wird.

Ungefiltert und roh schießen trockene Drums, schrammelige Cowboy-Chords und jede Menge Fidel-Einschübe durch die Boxen, sodass beim Hörer bereits nach wenigen Songs der Eindruck entsteht, als würde die Bande direkt im eigenen Hausflur zu Werke gehen.

Hier wird nichts beschönigt und nichts begradigt. Was zählt, ist der Moment – und der strotzt nur so vor Energie und Leidenschaft. Mit urbanem Reibeisen-Timbre ummantelt der Hauptverantwortliche nicht nur dreiminütige Großtaten der Vergangenheit wie "Right As Rain", "Nothing Left To Prove", oder "California Burritos", sondern präsentiert auch noch bisher Unveröffentlichtes ("Bedroll Lullaby") als Vorgeschmack für sein im März 2014 erscheinendes neues Studioalbum ("Till Midnight"). Als ginge es um sein Leben faucht, brüllt und singt sich Chuck Ragan die Seele aus dem Leib. Dass der Sänger dabei diverse Male an fundamentalen Harmonielinien vorbeischrammt, interessiert nur sekundär.

Hier geht es um den ungeschminkten Augenblick, der trotz – oder gerade wegen – zahlreicher "Ups"-Einlagen etwas Magisches entstehen lässt. Abseits von überproduzierten und nachbearbeiteten Mogelpackungen bricht Chuck Ragan eine Lanze für den unmittelbaren Moment. Einziger Wermutstropfen: Das Album erscheint lediglich als Doppel-LP ohne Downloadcoad. Doch hierfür schmeißt man auch gerne den Plattenspieler an. Live is Life. Hut ab.

Trackliste

  1. 1. For Goodness Sake
  2. 2. It's What You Will
  3. 3. Bedroll Lullaby
  4. 4. Geraldine
  5. 5. Rotterdam
  6. 6. The Trench
  7. 7. You Get What You Give
  8. 8. Do What You Do
  9. 9. Don't Cry
  10. 10. Nothing Left To Prove
  11. 11. Right As Rain
  12. 12. Drag My Body
  13. 13. For Broken Ears
  14. 14. Meet You In The Middle
  15. 15. Do You Pray
  16. 16. The Boat
  17. 17. California Burritos

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